Autor Thema: Sign in Stranger - Ein experimenteller one-shot  (Gelesen 1505 mal)

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Ucalegon

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Neben Dog Eat Dog und einer Runde Fiasco konnte ich auf der Heidelcon auch zum ersten Mal Emily Care Boss' SF-Rollenspiel Sign in Stranger [hier kostenlos] spielen.

Worum geht es: Die Erde wird von einer außerirdischen Krankheit heimgesucht. Kurze Zeit später folgt ein Erstkontakt mit den Xsian. Es gibt Krieg. Am Ende stellt sich heraus, dass die Xsian den Menschen helfen wollen, Teil der interstellaren Gemeinschaft zu werden, indem sie ihnen ein Heilmittel zur Verfügung stellen, das sie verändert und ihnen das Leben auf fremden Welten ermöglicht. Die Menschheit lehnt ab, aber einige wenige beschließen dennoch, ihre Heimat für immer zu verlassen und Kolonien auf fremden Welten zu gründen. In Sign in Stranger spielt man diese Menschen und ihren Versuch, eine neue, fremde Heimat und deren Vielfalt an Formen, Farben, Wesen und Gebräuchen zu verstehen, die für sie anfangs keinen Sinn ergeben.

Die Runde: Gespielt haben wir zu fünft und ungefähr vier Stunden. Zwei Leute waren völlige Rollenspielneulinge.

Das Setup besteht aus drei Schritten:

1. Alle schreiben je 5 Substantive, Adjektive und Verben auf kleine Zettel. Die werden gemischt auf entsprechend markierte Becher verteilt. Es gibt ein paar Regeln, was man nicht wählen sollte.

2. Getrennt voneinander wird pro Person eine fremde Welt "erschaffen", aus denen später die Koloniewelt ausgewählt wird. Was dabei entsteht ist ein knapper Katalogeintrag, denn die Welt zu entdecken, ist ja der eigentliche Spielinhalt. Namen des Planeten und der wichtigsten Spezies, Auswahl aus vier Größenklassen, Umwelttyp (Wasserwelt, Gasriese et cetera). Dann sucht man sich ausschließlich nach dem Namen und ohne weitere Informationen zu erfragen Spezies von anderen aus und fügt sie dem eigenen Welteintrag hinzu. In einem letzten Schritt überlegt man sich ein für Menschen anziehendes und ein abstoßendes Merkmal der eigenen Primärspezies - man weiß also nicht, was für Aliens man sich vorher von den anderen auf die eigene Welt geholt hat - sowie eine mögliche Anstellung für die menschlichen Neuankömmlinge, sollten die sich später für diese Welt entscheiden. Nett ist dabei, dass man das, was der Job tatsächlich beinhaltet nur näherungsweise beschreibt, indem man sich ein Erd-Analog dazu überlegt. [Beispiel aus unserer Runde: Auf Dante-4 hätten wir für die Xenuh mit ihrer wohlklingenden Sprache und ihren unangenehm vielen Armen "die Wanki sambozen", also in etwa Blumen bestäuben sollen.]

3. Die Figurenerstellung verläuft ganz klassisch. Herkunft, Name, Motivation, Beschreibung, Alter, Beruf auf der Erde. Dass jede Figur nur drei persönliche Besitztümer, die in einen Schuhkarton passen würden, mitnehmen darf und - in einem Nebensatz beiläufig erwähnt - für die Reise kahl geschoren wird, kontrastiert die eher komisch gehaltene Erschaffung der Aliens und deutet die andere Seite des Spiels an. Für jede Figur wird definiert, wie sie auf Stress reagiert, ihr Kolonie-Training auf dem Mond aus 12 möglichen Spezialgebieten ausgewählt und ein persönliches Ziel formuliert - fällt im one-shot weg. So wie ich den Text verstehe, sollen Beziehungen zwischen Charakteren erst im Spiel entstehen und dann entsprechend notiert werden. [Die Figuren aus unserer Runde: Der Inuit Otto, Spezialgebiet: Xenobotanik. Die niederländische Tulpenhändlerin Tanami, Spezialgebiet: Xenozoologie. Der Kulturwissenschaftler Nathan Söderblom, Spezialgebiet: Kulturoffizier. Der Pekinger Elektrotechniker Peter Zang, Spezialgebiet: Planetologie. Die Internetcafébetreiberin Fay aus Hong Kong, Spezialgebiet: Medizinische Offizierin.]

Das Setup ist umfangreich, weitestgehend abstrakt und es wird dabei kaum interagiert. Schlecht für einen one-shot, unproblematisch bei mehreren Sitzungen.

Das Spiel beginnt auf dem Mond, wo die Figuren sich zum ersten Mal treffen und zusammen eine Welt für ihre Kolonie wählen. In unserer Runde habe ich diese wichtige Einführung völlig falsch rübergebracht, einmal, weil ich den Text nicht genau genug gelesen hatte und weil ich nach dem Setup schnell zum Kern des Spiels kommen wollte.

Statt wie bei uns reihum die Figurenbögen durchzugehen und für die eigene Figur ein erstes Flashback zu erzählen, soll dieses erste Aufeinandertreffen mit gutem Grund ausgespielt werden. D.h. die Figuren treffen sich in einem Raum, stellen sich einander vor und erzählen dabei selbst von einer Erfahrung, die sie während der turbulenten Ereignisse auf der Erde gemacht haben. Dann gehen sie zusammen den Weltenkatalog durch und einigen sich auf ein Reiseziel. Der wichtigste Hinweis im Text ist, dass man auf Basis dieser Interaktionen schon erste Beziehungen (positiv oder negativ) festlegt. Der Auftritt der Terran Authority Liason soll schließlich für noch mehr Konflikt sorgen. Bei uns war das lediglich ein Abnicken. Ich habe in dieser Phase also einiges versäumt, das das Spiel wohl deutlich beeinflusst hätte.

Die erste Sitzung einer Kampagne endet damit, dass die Figuren nach der ausgeblendeten Reise zum ersten Mal einen Blick auf ihre neue, fremde Heimat werfen und für jede Figur ein Logbucheintrag mit den Eindrücken geschrieben wird. In unserem one-shot begann das eigentliche Spiel dagegen einfach mit den ersten Welt-Elementen.

Das Prinzip dabei ist (fast) traditionell: Ich frage jemanden am Tisch, was meine Figur von der Welt sieht, hört, spürt, riecht oder schmeckt. Die Person zieht ein Wort aus einem passenden Becher (Substantiv = etwas wird das erste Mal beschrieben; Verb = Frage auf eine Handlung oder einen Vorgang gerichtet; Adjektiv = Nachfrage zu einem bereits beschriebenen Welt-Element) und beantwortet die Frage ohne das Wort zu benutzen (wichtig!). Das ist eine der beiden Kernmechaniken des Spiels. Trotz zweier kleiner Fehler (in der ersten Fragerunde muss man etwas fragen, das mit dem Spezialgebiet der eigenen Figur zu tun hat und die Antwort muss eine Farbe enthalten, die dann auf einer d10-Farbpalette für zukünftige Beschreibungen eingetragen wird; beides haben wir nicht konsequent durchgezogen) hat das ohne viel Erklären und Nachfragen sofort funktioniert.

[Das erste, was wir von unserer neuen Heimat Oblonco, der Welt der Nolbon, wahrnahmen, war der Boden eines hallenartigen Docks, auf dem sich bunte Darstellungen von Figuren bewegten, die uns an große animierte Werbebanner erinnerten. Im nächsten Raum waren zahlreiche große Linsen an der Decke angebracht (Substantiv: Detektiv), in denen die bunten Darstellungen verändert und in schwarz-weiß zu sehen waren (Verb: lesen). Als wir den blockartigen Hangar verließen, befanden wir uns an einer Küstenlinie und blickten auf einen Ozean, der in der Ferne zu gebäudeartigen Strukturen aus derselben Flüssigkeit zu werden schien (Substantiv: Fata Morgana), zwischen denen vielarmige Wesen hin- und herwanderten. Hinter dem Dock befand sich wiederum ein Wald aus Wurzeln, die in leuchtend gelben Ringen endeten (Adjektiv: gekrönt)].

Weil jede Handlung und Interaktion in/mit der Welt beschriebener Welt-Elemente bedarf, die erfragt und mit einer zufälligen Farbe von der Palette versehen werden müssen, entsteht recht schnell ein lebhaftes Bild der neuen Umgebung. Wer die Figur mit dem Spezialgebiet Planetologie spielt, muss zudem die Weltelemente auf einer Karte mitzeichnen - das ist übrigens kein Selbstzweck, sondern gibt Bonus-Würfel für Navigations-Handlungen.

In einer Kampagne beginnt die zweite Sitzung sehr elegant mit dem Vorlesen der Logbucheinträge. Danach sollen in erster Linie die im Briefing durch die Terran Authority erhaltenen und bestimmten Figuren/Rollen zugeteilten Forschungsfragen die Geschichte strukturieren. [Bei uns waren das: "2. What foods are edible for humans on the planet, where can they be acquired?"; "5. What forms of employment are open to humans, what are these activities like?"; "9. What is in the environment surrounding the Colony?". Am Ende hatten wir gerade angefangen, die Nummer 9 zu beantworten. Mit den insgesamt 40 Uniform Survey-Fragen kann man also wahrscheinlich eine ganze Weile zubringen.]

Es gibt fünf Szenentypen in Sign in Stranger: Investigation, Action, Group, Flashback und Mission. [Die drei letzten haben wir nicht benutzt].

Gewürfelt wird in Sign in Stranger, um die ersten beiden Szenentypen aufzulösen. Untersucht eine Figur ein beschriebenes Welt-Element näher uU mit Hilfe anderer Haupt- oder Nebenfiguren (Aliens!), werden die Folgen über Würfelergebnisse in verschiedenen Kategorien bestimmt. Immer gewürfelt wird natürlich für die Untersuchung selbst: Läuft es gut, darf die Spielerin einen Aspekt des Welt-Elements erklären, also quasi einen Fakt schaffen, wo vorher nur Vermutungen waren. Fünf erfolgreiche Untersuchungen beantworten eine Forschungsfrage. Hier tragen Einzelne also große Verantwortung, das Ganze interessant und kohärent zu gestalten. [In unserer Runde wurden die gelben Blätter im Wald untersucht und stellten sich als einzelne, über die Wurzeln miteinander verbundene Wesen mit jeweils eigener Persönlichkeit heraus.] Ebenfalls immer gewürfelt wird für Panik. Läuft es hier schlecht, löst das die in der Erstellung festgelegte Panikreaktion der Figur aus. Das senkt den Basiswürfel auf einen d4 und kann mit einem traumatic flashback beendet werden. [Bei uns hat eigentlich keine Panikreaktion gut gepasst und alle waren unfreiwillig komisch. Ich könnte mir vorstellen, dass das besser funktioniert, wenn man die ganze Forschung in die Länge zieht und die Reaktion dann in einer Gruppenphase (siehe unten) folgen lässt. Flashbacks haben wir wie gesagt weggelassen.]

Handelt eine Figur - Bewegung, Interaktion mit Aliens, Kampf et cetera - profitiert sie u.a. von vollständig erklärten, d.h. mit Fakten versehenen, Welt-Elementen. Am Anfang werden Handlungen oft im Misserfolg enden. [Ein Problem für uns, weil bei einem Fehlschlag zwar etwas Merkwürdiges oder Neues passiert, aber die Handlung selbst trotzdem nicht ausgeführt wird. Da fehlte uns ein Fail-Forward bzw. Ja, aber. Insgesamt schien mir bei uns extrem viel schiefzugehen, was sicher teilweise daran lag, dass wir die Sonderfertigkeiten der Spezialgebiete nicht benutzt haben und selten mit Hilfe und innerhalb des eigenen Spezialgebiets, d.h. auf eine konkrete Forschungsfrage hin, untersucht bzw. gehandelt wurde. All das sorgt für höhere (d8, d10 statt d6) oder Bonus-Würfel. Das würde ich beim nächsten Mal deutlicher machen.]

Die drei anderen Würfelkategorien Harm, Wild Card und Assimilation sind sinnvoll und interessant. Harm sorgt neben normalen Verletzungen uU für eine physische Zwangs-Anpassung an die Welt (change injury) oder Ressourcenverlust, Wild Card entweder für eskalierende Probleme für die Kolonie, überraschendes Geschehen (Verb ziehen) oder einen neuen Fakt auf einem zufälligen Spezialgebiet. Da hat dann ein Transportmittel plötzlich etwas mit Kommunikation zu tun oder ein Tier mit Waffenkunde. Assimilation ist der Versuch sich aktiv an die neue Welt anzupassen.

In Gruppenszenen sollen sich die Figuren unterhalten und interagieren. Sie sind mechanisch nicht eingebunden außer, dass am Anfang jeder Sitzung eine erfolgen muss. Ansonsten soll man sie spielen, wenn man Abwechslung will.

Das System hat noch mehr Mechaniken (Ressourcen, Trouble, Goals, Plot Characters, Supporting Characters), die wir aber nicht benutzt haben.

Fazit:
Nach dem Setup haben wir drei unterhaltsame Stunden damit verbracht, eine wirklich fremde und merkwürdige Welt zu erkunden. Der Kern von Sign in Stranger, das Beschreiben der Welt-Elemente und ihre Erforschung hat einwandfrei funktioniert und ich bin überzeugt, dass er an sich eine lange Kampagne trägt. Dass die Figuren es am Anfang noch sehr schwer haben, die Welt um sich herum zu erklären und in Interaktion mit ihr (und ihrer Bevölkerung) zu treten, dass sie dementsprechend nach und nach mehr erfahren, sich anpassen und versuchen müssen, diverse Probleme für die Kolonie zu lösen, macht Sign in Stranger spielbar und zu einem ziemlich einzigartigen Rollenspiel.

Das große Problem, das im Feedback auch sofort angesprochen wurde, ist aber, dass die Persönlichkeit und Interaktion der Hauptfiguren miteinander demgegenüber untergeht. Unsere Figuren haben fast gar nicht miteinander gesprochen und wir waren weit davon entfernt, irgendwie mit den fremdartigen Wesen um uns herum zu interagieren. Aus meiner Sicht passiert das einmal durch den starken Fokus auf Beschreibung/Untersuchung, der viel Zeit in Anspruch nimmt, andererseits weil dieser Aspekt - möglicherweise auch nur für einen one-shot - nicht gut geregelt ist. In Investigation und Action-Szenen kommen andere Figuren nur zum Helfen vor und für Gruppenszenen, in denen dann tatsächlich mal mehrere Figuren zusammen auftreten, gibt es kaum einen Anreiz. Obwohl das Setting einer kleinen, isolierten Gruppe auf einer fremden Welt sich gerade dafür anbieten sollte. Das Versprechen, zu zeigen, was die Konfrontation mit der unverständlichen Welt um sie herum mit den Figuren und ihren Beziehungen zueinander macht, der Kulturschock, von dem Sign in Stranger spricht, kam im one-shot nicht durch und ich habe Zweifel, ob sich das auf lange Sicht grundsätzlich ändert. Es steht eben doch vor allem das langsame Erforschen und die langsame Anpassung im Mittelpunkt. Der Schock ist zwar gerade zu Beginn voll da, schlägt aber irgendwie nicht auf die Figurenebene durch.

Ich finde das Spiel immer noch faszinierend und der one-shot war trotz meiner Fehler und des begrenzten Rahmens vielversprechend. Ich würde Sign in Stranger dementsprechend gerne auch über einen längeren Zeitraum ausprobieren.

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Ich habe das Wort ja schon benutzt, aber ich vermute, den durchschlagenden Schock findet man in Joshua A.C. Newmans Shock:Social Science Fiction?

Am Tag nach Sign in Stranger habe ich wie gesagt mal wieder Dog Eat Dog gespielt und war - mal wieder - absolut begeistert. Da ist die Konfrontation mit der fremden Kolonialmacht eine, deren zerstörerischem Einfluss sich von Anfang an, Szene um Szene, niemand entziehen kann. Bis zum bitteren Ende. Da geht es um nichts anderes als Interaktion - selbst mit Sprachbarriere, wie in der Heidelcon-Runde der Fall - aber natürlich unter ganz anderen Vorzeichen als in Sign in Stranger.

Kennt ihr noch andere Rollenspiele, in denen die Begegnung mit dem Fremden Leben, Identität und Beziehungen der Figuren verändert? Vielleicht mal abgesehen vom Horror-Genre.

Offline Chiarina

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Re: Sign in Stranger - Ein experimenteller one-shot
« Antwort #1 am: 1.01.2020 | 10:48 »
Ich habe die Regeln für das Spiel gerade gelesen und bin ein bisschen verliebt.
Ich vermute allerdings, dass die Sache platonisch bleibt.

Seine volle Faszination entfaltet das Spiel wohl nur als ausgedehnte Kampagne (~ zweistellige Sitzungszahl).
Da es keinen Spielleiter kennt, muss sich die ganze Gruppe gleichermaßen verantwortlich fühlen.
Die Regeln sind im mittleren Bereich, das heißt aber immerhin, dass man sich einlesen muss und nicht mal eben wie bei einem Spontan-OneShot das Buch aufschlagen kann und los geht´s (ich wäre nach einmaliger Lektüre noch nicht in der Lage, das Ding fehlerfrei zu spielen).
Besonders gut ist´s, wenn alle Beteiligten ein Logbuch schreiben.
Dafür muss man erstmal eine Gruppe finden!

Wahrscheinlich werde ich das Spiel noch eine Weile seufzend auf Entfernung anhimmeln und immer ein bisschen rot werden, wenn ich es auf meinem Schreibtisch liegen sehe.

Lohnt sich dafür noch eine Systemvorstellung oder reicht das, was der verehrte Ucalegon hier so von sich gegeben hat?
Zu dem Liebesdienst wäre ich noch bereit.
« Letzte Änderung: 1.01.2020 | 11:02 von Chiarina »
[...] the real world has an ongoing metaplot (Night´s Black Agents, The Edom Files, S. 178)