Clives wachgerufene Erinnerung an den Kongo - Teil 1
30.05.1927 - Auslöser: Begegnung mit einem bösen, kleinen Jungen
Böcklin Haus (ein Haus für die sehr, sehr Nervösen ...)
Flur mit den Privaträumen der ÄrzteGegenstand der Reminiszenz:
Kongo-Freistaat, Privatbesitz von König Leopold II. von Belgien
In den Tiefen des Urwaldes
um 1900
Der Schweiß tritt aus allen Poren. „Warum ist es plötzlich so heiß?“ Mit einer Hand öffne ich meinen Hemdkragen. Der Schweiß rinnt mir in Strömen den Rücken herab.
Mein Herz rast.
Ich spüre leichte Übelkeit in mir aufsteigen.
Meine Sicht scheint verschwommen. „Die Luft muss von der Hitze flirren“, wundere ich mich noch einen Augenblick, bevor mir klar wird, dass ich mich schließlich im
tropisch-feuchten Urwald Afrikas befinde.
Die Luft ist hier so feucht, dass alles von ihr durchtränkt wird. Was
Flechten, Moosen und Ranken eine ideale Lebensgrundlage beschert, ist für mich nunmehr zur Qual geworden.
Mehrere Tage haben wir mit
Booten unauffällig einen Seitenarm des Kongo befahren.
Doch nun mussten wir die
Boote zurücklassen. Wir scheinen uns unserem Ziel zu nähern.
Wir verfolgen einen
Trupp Söldner der ‘Force Publique‘, einer Einheit von König Leopolds Privatarmee. Immer wieder meinen wir, ihre Spur verloren zu haben. Aber unsere Führer sind verlässlich. Sie kennen die Bewegungen der Soldaten, die dafür Sorge tragen, dass Leopolds unersättlicher Hunger nach Kautschuk gestillt wird.
Wir sind auf der Suche nach Beweisen. Wir sind auf der Spur nach etwas, das weit über das hinausgehen soll, von dem uns bisher berichtet wurde. Etwas, das den Einheimischen unaussprechlich zu sein scheint. Es hat lange gedauert, Führer zu finden, die uns auf diesem Weg begleiten.
Ich spüre das Gewicht meiner Photoausrüstung auf meinen Schultern. Meine Stiefel sind schwer von nassem Schlamm. Die Stimmung ist gedrückt. Unsere Führer wirken verängstigt und gereizt. Die Lieder, die uns bislang begleitet haben, sind verklungen. Die Unruhe der Träger hat sich auf uns übertragen. Schon lange sind die Gespräche zwischen Ruairí, Herbert und mir verstummt. Herbert scheint sogar die Lust am Zeichnen verloren zu haben.
Eine Dunkelheit hat sich über das Land gesenkt, die man fast mit den Händen greifen kann. Sie lauert in den Schatten des Waldes. Sie beobachtet uns aus dem
Dickicht. Wie ein Raubtier folgt sie uns geduldig. Sie wartet ab, bis der rechte Moment gekommen ist. Sie scheint sich ihrer Beute gewiss. Dieses Raubtier verbirgt sind nicht in den Schatten, es ist die Finsternis, die in den Schatten wächst. Ein Gespinst aus Dunkelheit, das sich über das ganze Land zieht und uns schon lange umschließt.
Missmutig schlage ich mit meiner Falcata auf das Gestrüpp vor mir ein, fege es mit der scharfen Klinge hinfort. Langsam beginne ich diese Vegetation, die mich sonst so fasziniert hat, als eine grüne Hölle zu begreifen. Immer wieder meine ich feine schwarze Fäden zurückzucken zu sehen, wenn mit den Pflanzen die Schatten fallen und der glänzende Stahl der langen Klinge aufblitzt. Ein irritierendes Spiel aus Licht und Schatten.
Die Blicke, mit denen die Schwarzen die Falcata mustern, sind inzwischen von so unverhohlener Habgier erfüllt, dass ich mir Sorgen zu machen beginne. Was wären diese Männer zu tun imstande, um in den Besitz dieses Reliktes zu gelangen? Wenn diese Waffe eines namenlosen iberischen Kriegers schon mich fasziniert hat, wie muss sie dann auf diese armen Menschen wirken? Ich bin froh, das Gewicht meiner Lightning am Gürtel zu spüren.
Verstohlen wechseln unsere Führer ab und an wenige Wort, ein Flüstern im Vorbeigehen nur, wenn sie meinen, wir würden sie nicht hören. Sie unterschätzen die Sprachkenntnisse, die ich mir zwischenzeitlich angeeignet habe. Ngala, Kutuba und Luba-Kasai verstehe ich bereits recht gut. Die Furcht der Männer scheint einem ‘Herz aus Finsternis‘ zu gelten. Der Glaube dieser Menschen an das Übernatürliche ist unerschütterlich. Aber in der Tat, erinnern die schwarzen, mit einem eigenen Leben erfüllten Fäden mich an feine Adern. Ich beginne zu verstehen, wie ein solcher Mythos entstehen konnte.
Die feuchte Hitze ist unerträglich. Die leichte Brise treibt lediglich immer neue Mückenschwärme in Wolken zu uns, statt Erleichterung zu bringen.
Gegen Abend trägt der leichte Wind noch etwas anderes zu uns. Der beißende Geruch von Rauch erfüllt nun die Luft.
Vorsichtig pirschen wir uns weiter voran. Die Nacht senkt sich herab und die Dunkelheit wird immer undurchdringlicher. Nur vor uns sehen wir den Widerschein von Feuer am Himmel. Schließlich erreichen wir den Kamm einer Anhöhe. Unter uns sehen wir im Tal die
brennenden Hütten eines Dorfes.
Wir hören die gellenden Schreie der Menschen.
Die Führer folgen uns nicht mehr, als wir uns dem Meer aus Flammen nähern. Rund um das Dorf hat die ‘Force Publique‘ Stellung bezogen. Die Flüchtenden laufen ihnen direkt in die Arme. Die Söldner haben einen grausigen Gesang angestimmt.
Auf allen vieren nehmen wir geduckt Deckung hinter einem Gebüsch.
Starr vor Grauen sehen wir alles mit an. Wir sehen die Söldner ihre schreckliche Ernte einfahren. Klingen zucken im Licht der Flammen herab. Abgeschlagene Hände werden aufgesammelt und in Säcke gesteckt. Genitalien werden auf Schnüre gereiht. In unserem Versteck am Boden hockend, können wir nicht als wahr akzeptieren, was wir vor uns sehen. Die Söldner lassen niemanden am Leben, auch nicht die Alten, die Frauen oder die Kinder. Der Geruch von Blut und Rauch und verbranntem Fleisch und Angst und Tod ist unerträglich. Nur mühsam kann ich meinen Brechreiz bezwingen.
Und dieser schreckliche Gesang, den ich nicht verstehe. Ein blasphemischer Hymnus, der die Übelkeit in mir verstärkt, begleitet von dem zuckenden Rhythmus der Klingen und der Leiber vor den lodernden Flammen.
Die Dunkelheit um uns herum wird trotz der lodernden Flammen immer undurchdringlicher. Die Finsternis scheint den ganzen Dschungel um das Dorf zu verschlingen.
An meinen Händen spüre ich kaum merklich eine leichte Bewegung. Als ich meine Hände erschrocken zurückziehe, zerreiße ich etwas, ein feines Gewebe, das sich über den Boden verbreitet und um meine Hände gelegt hat, wie das Geflecht eines Pilzes. Es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen, aber ich weiß auch so, was nach mir gegriffen hat.
Entsetzt flüchten wir drei in die Finsternis des Dschungels hinter uns. Blind kämpfen wir uns mühsam durch die Gespinste, die von der gesamten Vegetation Besitz ergriffen haben. Alleine die silberne Klinge, blutrot gefärbt vom den Flammen hinter mir, gibt mir Hoffnung und die Kraft, den Wall um uns herum zu durchdringen. Dann rennen wir … rennen, bis wir vor Erschöpfung zusammenbrechen und schluchzend warten, ob auf diese Nacht noch ein neuer Morgen folgt oder ob das Jüngste Gericht über die Welt hereingebrochen ist. Und auch als die Schreie verklungen sind, der Gesang erstorben ist und die ersten Sonnenstrahlen einen neuen Tag ankündigen, sind wir uns gewiss, die Hölle gesehen zu haben. Die Hölle ist schwarz und rot und umhüllt von undurchdringlicher Finsternis.
Noch immer halte ich meine Falcata umklammert.
Ich sehe in die Gesichter von Ruairí und Herbert. Es sind nicht mehr die Menschen, die ich bis gestern kannte. Wir alle drei wissen, dass für uns nichts mehr wie davor sein wird.
Ziellos machen wir uns auf die Suche nach unseren Führern. Noch immer ist die Luft beißend vom Rauch. Da stoßen wir auf eine kleine Lichtung. Darauf befindet sich eine kleine
Missionarskirche.
Aus der Kirche hören wir das Schluchzen einer Frau.
Schon wollen wir zu ihr eilen, als die Frau brutal von drei Söldnern vor die kleine Kirche gezerrt wird. Die Frau ist nackt, wurde offenbar geschändet.
Nun hören wir auch die rauen Stimmen weiterer Soldaten näher kommen.
Rasch ducken wir uns in das Gestrüpp. Doch sie hat mich gesehen. Ich sehe ihren
flehenden Blick direkt in meine Augen. Ich fühle eine Verbindung entstehen, die nie wieder erlöschen wird, ein Verschmelzen der Seelen. Dies ist der Moment, in dem ich die Seele einer Fremden auffange, weil ich den Leib nicht retten kann. Der Moment, in dem das Leben seinen Wert verliert, in dem mein Leben seinen Wert verliert. Der Moment, unmittelbar bevor der Blick der Frau leer wird und sich Blut in einem Strahl aus ihrer Kehle ergießt.
Ich will schreien, kann es aber nicht. Ich will zu ihr rennen, bin aber nicht in der Lage mich zu bewegen.
Und plötzlich sehe ich nicht mehr die Gestalt der afrikanischen Frau vor mir, sondern die schwankende Contessa. Und ich sehe die Finsternis um dieses ... Wesen ... herum aus der Tür nach der Contessa greifen. Da ist plötzlich die Stimme der Afrikanerin in mir, die schreit, um mich aus meiner Erstarrung zu befreien.
„Nicht noch einmal!“, bricht es aus mir hervor. „Nie wieder!“
Ich schwinge mein Messer, wie ich meine Falcata vor dreißig Jahren hätte schwingen sollen und stürze wie von Sinnen vorwärts…