VOR DEM HAUS DER VON EISENSTEINS
Um mir nach stundenlangem Stehen am OP-Tisch wenigstens noch kurz die Beine zu vertreten, habe ich mich ein paar Blöcke entfernt von der Waldseebrücke absetzen lassen und marschiere nun mit schnellen Schritten durch den Regen. Den Regenschirm erhoben, darauf bedacht, meine polierten schwarzen Schuhe nicht von all den Pfützen durchnässen zu lassen. Ein aussichtsloses Unterfangen.
Trotzdem, Bewegung tut gut. Regen hin oder her. Ich hauche warme Luft in meine kühle Hand und stecke sie tief in die Tasche meines dunklen Wollmantels. Geburtstage, Taufen, Hochzeiten und nun auch Beerdigungen. Verpasst, zu spät gekommen, leider keine Zeit gehabt. Jaja, das Leben ist kurz, die Kunst ist lang... und die Pflicht geht immer vor. Zum dutzendsten Mal muss ich in Gedanken zurück zur Magenoperation, deren Beendigung ich meinem jungen Assistenzarzt überlassen habe. Ich hoffe nur, dieser Schwachkopf Müller hat alles ordentlich zu Ende gebracht. Er musste ja nur noch zunähen, aber trotzdem, dem ist alles zuzutrauen... schon im zweiten Jahr und das war das erste Mal, dass er bei einer Billroth II dabei war. Unglaublich! Ich wette, in München muss man sich nicht mit solchen unfähigen Assistenten rumschlagen. Wo Sauerbruch das Regiment führt, herrscht eine ganz andere Zucht, da bin ich mir sicher. Wenn der nur mal an die Charité käme als neuer Chef, das wäre was! So, Moment, hier war es doch irgendwo... Ich blicke auf und wundere mich wie schon beim letzten Besuch über das ziemlich vernachlässigte Gebäude, dass so gar nicht zum stets gepflegten Prof. von Eisenstein passen will. Schon seltsam, bevor ich das Haus zum ersten Mal gesehen habe, hätte ich nie gedacht, dass es von Eisenstein an Geld mangelt... oder vielleicht nur am Willen, sich angemessen um seinen Besitz zu kümmern? So gern ich ihn auch mochte, es war ja schon einiges seltsam an ihm. Nicht zuletzt sein plötzlicher Tod natürlich. Ein bitteres Lächeln stiehlt sich in mein Gesicht. Ich wüsste wirklich gern, woran er gestorben ist. Gab es eigentlich eine Obduktion? Wenn, dann ist er hoffentlich nicht bei diesem Idioten Weber gelandet. Wenn der obduziert, weiß man am Ende weniger als man vorher wusste. Im besten Fall.
Mit diesen Gedanken gehe ich auf die Haustür zu, als diese sich plötzlich öffnet und Trudi herausgerauscht kommt. Ganz unzeremoniell packt sie mich am Arm und zieht mich ins Haus, während sie die ganze Zeit plappert: "Dr. Degebach, Gott sei Dank, dass Sie da sind. Ich habe Sie vom Fenster aus gesehen. Nun kommen Sie doch. Die Frau Professor ist umgekippt. Tot, womöglich! Können Sie da was machen? Ogottogott..."
Obwohl sie mich ziemlich überrumpelt hat, entgeht mir die Komik ihrer letzten Bemerkung nicht. "Man hält ja schon große Stücke auf meine Fähigkeiten, aber von den Toten habe ich bisher noch niemanden zurückgeholt," necke ich sie, während ich meinen Mantel an den Haken hänge und ihr sodann mit regennassen Schuhen in Richtung Wohnzimmer zur Patientin folge. "Wie? Was?" fragt Trudi verwirrt und wird dann unversehens rot: "Also wie können Sie in so einem Moment solche Scherze machen? Der Frau Professor geht es wirklich schlecht!"
"Das sehen wir ja gleich," sage ich ruhig und schiebe mich an den Trauergästen vorbei, die immer noch in der breiten zweiflügligen Tür zum Wohnzimmer stehen. Diese Frauenzimmer, die müssen immer gleich hysterisch werden. Wahrscheinlich hat die Frau Professor auch bloß hyperventiliert. Bei ihr ist es ja wenigstens verständlich. Aber wenn Trudi auch so weiter macht, habe ich hier gleich noch eine zweite Patientin.
Frau Prof. von Eisenstein liegt auf dem Boden, die Beine auf eine Fußbank hochgelegt. Eine jüngere Frau kniet neben ihr und scheint sich um sie zu kümmern. Ich werfe zunächst einen Blick in die Runde der Trauergäste im Wohnzimmer. Manche kenne ich, zumindest flüchtig, andere wiederum habe ich noch nie gesehen. "Guten Tag die Herrschaften. Für diejenigen unter Ihnen die mich noch nicht kennen, mein Name ist Dr. Degebach, ich bin Arzt. Ich werde mich jetzt um Frau von Eisenstein kümmern. Als erstes möchte ich Sie alle bitten, den Raum zu verlassen," lasse ich meine befehlsgewohnte Stimme ertönen. Beim Heer, im Krankenhaus, oder sonstwo in der Welt: einer befiehlt, die anderen gehorchen. Man muss nur aufpassen, dass man möglichst der ist, der befiehlt. "Bleiben Sie bitte zunächst hier," fahre ich an Trudi gewandt fort. "Außerdem könnte ich einen Helfer gebrauchen..." mein Blick schweift noch einmal über das Grüppchen, das soeben dabei ist, den Raum zu verlassen. "Sie. Bleiben Sie doch bitte noch einen Moment, ja?" wende ich mich an den großen, kräftig aussehenden Kerl, der sich zuvor im Hintergrund gehalten hatte. Der sieht aus, als würde er tun, was man ihm sagt und sich dabei auch nicht zu blöd anstellen.
Nun wende ich mich dann doch endlich der Patientin zu, ohne der Dame, die sich bisher scheinbar um sie gekümmert hatte, Beachtung zu schenken.
Ja, jetzt einen Arztkoffer da zu haben, das würde schon helfen...naja, mal sehen. "Guten Tag Frau Professor, können Sie mich hören?" rüttle ich die Bewusstlose unsanft. Keine Reaktion. Ich beuge mein Ohr über den offenen Mund der Frau. Hören, Sehen, Fühlen. Höre ich ihren Atem? Fühle ich ihn auf der Wange? Hebt sich der Brustkorb unter der weißen Spitze, die das Aufknöpfen der Trauerkleidung zutage gefördert hat? Dreimal ja, dreimal ganz leicht. Dabei nehme ich noch den Puls. Auch dieser eher schwach, aber spürbar und regelmäßig. Als nächstes schaue ich mir die Pupillen der Patientin an. Gleichmäßig, rund. Na, die müsste man doch wachbekommen. Einen entsprechenden Schmerzreiz vorausgesetzt... Ein kräftiger Kniff in den Unterarm hat hoffentlich den erwünschten Effekt.