IM WOHNZIMMER
"Sehr erfreut," ich schüttele den beiden die Hand. Ein geübter, kräftiger Händedruck, der wohl Vertrauen aufbauen soll, wo es Gesichtsausdruck und Gebaren nicht vermögen. "Und übrigens, meine Hochachtung dazu, wie Sie den Herrn Pastor da vorhin in seine Schranken gewiesen haben, Herr Lohenstein. Wirklich, das hätte ich nicht besser hinbekommen." Ich schüttele verständnislos den Kopf. "Ein solches Verhalten von einem Geistlichen, sowas ist mir noch nicht untergekommen. Wurde wohl Zeit, dass ihm mal jemand die Leviten liest, wenn ich das so sagen darf."
Als Trudi dazukommt, wende ich mich an sie: "Sehr aufmerksam, meine Liebe. Und schön zu sehen, dass Sie sich von dem Schrecken erholt haben." Ich kann mir nicht verkneifen, mit einem Grinsen hinzuzufügen: "Sie haben ja sogar wieder Farbe im Gesicht!" Ich halte ihr die Tür zum Salon auf, da die schwere Tür mit einem Essenstablett in der Hand nicht allzu leicht zu öffnen sein dürfte. "Nach Ihnen, Werteste."
Dann folge ich ihr in den Salon. Im schummrigen Licht, das durch die schweren Vorhänge fällt, ist erstaunlicherweise noch die ganze, zugegeben kleine, Trauergemeinde versammelt. Lediglich der Pastor hat seine Schäfchen sich selbst überlassen und seinen Schrank von einem Helfer gleich mitgenommen. Oder ist er bloß im Nebenraum? Bei dem Gedanken schießt mein nervöser Blick unwillkürlich zum anderen Eingang des Salons, bevor ich mich wieder in den Griff bekomme. Ludwig Gotthold, ein Kerl wie du hat doch vor so einem keine Angst! Das ist doch bloß ein ganz kleiner, gebrochener Mann. Da müssten schon ganz andere kommen... Dennoch kann ich eine gewisse Nervosität nicht abschütteln, als ich um die - inzwischen weniger festliche, dafür umso mehr mit Krümeln und Kaffeeflecken verzierte - Tafel herumgehe, um noch einmal in Ruhe der Witwe meine Aufwartung zu machen. "Frau von Eisenstein, ich hoffe, es geht Ihnen gut?" Das ist bei diesem Anlass vielleicht nicht die glücklichste Formulierung. Ich meine, haben Sie sich von Ihrem kleinen Ohnmachtsanfall erholt?" Nachdem sie dies bejaht, fahre ich fort: "Ich möchte Ihnen noch einmal mein herzliches Beileid aussprechen. Es ist wirklich eine schreckliche Tragödie. Bitte, lassen Sie es mich wissen, wenn ich Ihnen in dieser schwierigen Zeit irgendwie beistehen kann." Ich hoffe nur, das nimmt sie jetzt nicht allzu wörtlich. An der Klinik habe ich schon mehr als genug zu tun...
In der Zwischenzeit hat Trudi geschwind die Tafel abgeräumt und gesäubert und serviert nun die Fleischpastete. Gemeinsam mit dem schweren Duft des Bordeaux bleibt die belebende Wirkung auf die Trauergemeinde nicht aus. Selbst die Trägsten erwachen nun aus ihrem Schlummerzustand und machen sich über die Köstlichkeiten her. Auch ich habe neben der Witwe Platz genommen und esse mit Appetit. Schließlich ist dies meine erste Mahlzeit seit einem eher kargen Frühstück. Und mit vollem Magen sieht die Welt schon wieder anders aus. Das flaue Gefühl im Magen verflüchtigt sich und nimmt die bösen Vorahnungen gleich mit... hoffe ich zumindest.
Auch das Berliner Abendblatt hat seinen Weg in den Salon gefunden, liegt aber noch unbeachtet auf einem Beistelltisch aus dunklem Nussholz.