EinleitungWer heute ins Rollenspielen (wieder)einsteigt, hat gute Chancen, das mit einem System zu tun, das Aufgaben, die traditionell bei der Spielleitung lagen, auf die ein oder andere Weise umverteilt. Sei es auf den Prozess, spezifische Regeln (Stichwort:
Gamemaster Mechanics) oder andere Mitspielende. Seien es das Vorlegen von Szenen, das Treffen eines (setting)spezifischen Tons oder die Vorbereitung interessanter Situationen. Eine erfolgreiche Erscheinungsform dieses Wandels sind Rollenspiele ohne Spielleitung. [1] Sie gehen bei dieser Umverteilung so weit, dass eine Leitungsfunktion nicht mehr nötig ist - was freilich nicht heißt, dass alle Mitspielenden dort zwingend dieselben Aufgaben und Möglichkeiten haben und dieselbe Spielerfahrung machen. [2]
Darüber, warum dieser Wandel stattfindet, kann man viel Unsinn lesen - hauptsächlich von Leuten, die sich in ihrer beschränkten Perspektive darauf, wie Rollenspiel, das wir gut und gerne spielen, funktioniert, angegriffen sehen. So wird allenthalben unterstellt, dem lägen die Angst vor Willkür, fehlendes Vertrauen (besonders ironisch, weil man seinen Mitspielenden gerade in Rollenspielen ohne Spielleitung besonders viel Vertrauen entgegenbringen muss), gar traumatische Erfahrungen zugrunde. Auch beliebt ist das Herabwürdigen zu schlechten Spielenden oder SL (implizit auch im Vorwurf des Gelegenheitsspiels, an dem da, wo es denn tatsächlich praktiziert wird, nichts auszusetzen ist), die schlicht nicht verstanden hätten, wie man Rollenspiel am besten spielt und sich ihre Vorlieben gleichsam als Krücken zu dieser mystischen Erfahrung konstruierten. Ein verwandter Vorwurf ist Faulheit: Um Faulheit, Verantwortung zu übernehmen kann es sich aus offensichtlichen Gründen schonmal nicht handeln, bleibt Faulheit bei der Vorbereitung; eine eigenartige Kritik an Spielen, die gemeinsame Vorbereitung ganz bewusst zum Teil des Spielprozesses machen und auf diesem Weg dieselbe Qualität liefern wie bei SL-gesteuerter Vorbereitung.
Besonders unter Beschuss stehen dabei Rollenspiele, die die Spielleitung gleich ganz abschaffen - bis hin zu den Clowns, die versuchen, sie zu Nicht-Rollenspielen zu erklären.
Im Folgenden habe ich mir deshalb erlaubt, etwas auszuholen, um zu zeigen, wie und warum man auf eine Spielleitung getrost verzichten kann. Denn offensichtlich ist das nicht allen klar. [3]
Alle spielen mit.Das erste Mal ein Rollenspiel gespielt und geleitet habe ich 2004. Das System hatte ich zusammen mit einem Schulfreund gebastelt. Bei der Erklärung, was eine Spielleitung sei, schrieb ich damals:
Der Gamemaster oder auch Spielleiter ist für das erzählen der Geschichte verantwortlich, er spielt selber aber nicht mit sondern leitet die Spieler durch das Abenteuer.
Wenn ich das heute so formuliere, dann um zu provozieren. Als Jugendlicher habe ich dagegen schlicht beschrieben, was die Rolle so besonders macht. Klar macht es Spaß, als SL spontan sein zu müssen, zu sehen, was die Runde aus einem vorbereiteten Szenario macht und mit ihr zu interagieren. Aber das ändert nichts daran, dass die Spielerfahrung eine grundlegend andere ist. Selbst ein modernes SL-Spiel wie Apocalypse World kennt keine Agenda für Spielerinnen, die darauf abzielte, wie sich die Spielerfahrung, die Geschichte für die SL anfühlen soll - das macht nämlich angesichts der Funktion auch keinen Sinn.
In vielen Rollenspielen ohne Spielleitung kann ich dagegen nahtlos vom Scene Framing dazu übergehen, eine Hauptfigur zu spielen und mich für sie einzusetzen, kann zu anderen Figuren wechseln und Nebenrollen oder die Opposition einbringen, kann Beschreibungen, ja die ganze Prämisse einer Geschichte benutzen, um meine Figur zu unterstreichen und umgekehrt. Ich kann rausfinden, was meinen Mitspielenden Spaß macht, was sie aus meinen Ideen machen, meiner Figur von ihnen eine Bühne bereiten und mich davon überraschen lassen, wo das die Geschichte hinführt.
Ich bin immer Teil eines Spiels, das auf meine Spielerfahrung ebenso ausgerichtet ist, wie auf die der Anderen.
Daraus folgt: Ohne Spielleitung steht die Spielerfahrung aller im Mittelpunkt, nicht nur die der zu beleitenden Spielerinnen.
Drama!?Für Drama-Rollenspiel liegt der Verzicht auf eine Spielleitung nahe. Im Gegensatz zu prozeduralen Plots, in denen sich die rollenspieltypische Truppe von Hauptfiguren an einem gemeinsamen Ziel abarbeitet und die Hindernisse auf diesem Weg und damit das Pacing oft von einer SL verwaltet werden, stehen hier die Beziehungen, Konflikte und Bedürfnisse der Hauptfiguren untereinander im Fokus. Den Großteil der Szenen speist also Material, das vorher gemeinsam vorbereitet worden, oft anschaulich visualisiert (Cosmos in Polaris, Grid in Grey Ranks, die Karteikarten in Fiasco) und allen bekannt ist.
Das wird nirgendwo so deutlich wie in Robin Laws' Hillfolk. Während die Spielerinnen sich selbst Szenen vorlegen, gemeinsam über den Fortgang der Handlung entscheiden, die dramatische Entwicklung ihrer Figuren im Blick behalten und damit den Schub liefern, der das Spiel vorantreibt, bleiben der SL kleinere Kurskorrekturen. Ehrenhaft, aber ohne Not.
Das soll freilich nicht heißen, dass nur dramatisches Kammerspiel von einer spielleitungslosen Konversation profitiert. Das Design ist dort vielleicht besonders erprobt, aber es gibt genug Rollenspiele, die es für andere Ziele fruchtbar machen. In Lovecraftesque weiß vor dem final horror niemand, welcher außerirdische Schrecken sich hinter den erspielten Ereignissen und Hinweisen verbirgt. In Sign in Stranger entdeckt man zusammen eine wirklich fremdartige Welt. In Posthuman Pathways stellt und beantwortet man sich gegenseitig Fragen über die Zukunft. Remember Tomorrow drängt im Sinne der getriebenen und entfremdeten Protagonistinnen in Cyberpunk-Romanen darauf, gerade die eigenen Figuren nicht aktiv zu spielen, sondern gerade die Maschine, unter deren Räder sie geraten. Und dann gibt es noch Modelle, die sich klassischen Genres entziehen wie Archipelago; My Daughter, the Queen of France; Microscope.
Daraus folgt: Es gibt mindestens so viele Spielziele, die sich spielleitungslos besser verwirklichen lassen wie es welche gibt, die auf die Leitungsfunktion angewiesen sind.
Nein, du hast nicht immer die besten Ideen, Narziss.Oft genug ist die SL qua ihrer Funktion dazu verdammt, immer die besten Ideen zu haben oder den eigenen Schrott zumindest so zu verkaufen; könnte ja die Spielerinnen verunsichern. In der Realität reicht es dagegen hin und wieder nur für was Halbgares. Hier glänzen diejenigen spielleiterlosen Rollenspiele, die Andere darauf aufbauen und verbessern lassen. "Try a different way" sagt die Mitspielerin in Archipelago. Und selbst, wo es diese Möglichkeit der Zusammenarbeit explizit nicht gibt, bleibt der eigene kreative Beitrag spielleitungslos eben nicht der einzige auf dem Tisch. Mitspielende greifen häufig Unauffälliges auf und drehen es so, dass man es fast nicht wiedererkennt. Besonders elegant ist auch Fiasco, wo man die Last einfach abgeben kann, wenn man gerade nichts Gutes hat und trotzdem einen angemessenen Einfluss auf die Szene behält.
Entsprechend lächerlich macht sich übrigens, wer versucht, Rollenspiele ohne Spielleitung zu diskreditieren, indem man mal behauptet, sie seien ohne Führung halt voller Jubelperser und sich gegenseitig übertrumpfen-wollender Egozentrikerinnen. Wer im Glashaus sitzt...
Daraus folgt: Rollenspiele ohne Spielleitung brauchen keine hyperkreativen Spielerinnen oder den 'Tisch voller SL.' Im Gegenteil: Hier verlässt man sich aufeinander.
Konversation machen.Rollenspiel ist ein Gespräch, in dem eine Fiktion ausgehandelt wird, mit der alle einverstanden sein müssen. Rollenspiel, das dabei allen Beteiligten gleiches Rederecht einräumt, ist intuitiv. Traditionelles Rollenspiel, das höchstens ein paar lauwarme Richtlinien für die SL-Rolle hat, verdeckt im schlimmsten Fall, dass es überhaupt eine Verhandlung gibt bzw. man muss erstmal aushandeln, wie man Missverständnisse und Uneinigkeit verhandeln will.
Weil Rollenspiele ohne Spielleitung es nicht haben, will ich auf dieses Problem aber gar nicht weiter eingehen und stattdessen anmerken, dass es auch in SL-losem Rollenspiel durchaus Gründe geben kann, bewusst eine Asymmetrie einzubauen. Archipelago verleiht einzelnen Spielerinnen offen "ownership" über bestimmte Aspekte der Welt und damit ein Veto-Recht, das nur sie haben. Eine Möglichkeit, Kontinuität und Konsistenz zu wahren. In Dog Eat Dog hat die Spielerin der Kolonialmacht ein umfassendes fiat-Recht, das ganz gezielt in dem Moment nicht mehr gilt, wo eine Spielerin verliert, indem ihre Figur Amok läuft.
Daraus folgt: Rollenspiele ohne Spielleitung müssen ihre Konversation nicht so penibel ausgeglichen organisieren wie Fiasco. Asymmetrie hat aber immer einen guten Grund.
Zielvereinbarungen.Was einen gemeinsamen Ton und Spielstil angeht, den im traditionellen Spiel die Spielleitung vorgibt, kann man sich bei SL-losen Rollenspielen im Wesentlichen auf das Spiel selbst verlassen. Gerade das Pacing ist meist eindeutig vorgegeben, oft auch angemessene Beiträge, besonders z.B. in Kagematsu, wo man die gewünschte Reaktion des Ronin aus einer Liste auswählt (Wie er sich wirklich fühlt, entscheidet natürlich seine Spielerin). Schon Fiasco-Playsets, aber vor allem natürlich stark eingeschränkte Setups wie in Montsegur 1244, Until We Sink oder Alienor ähneln in dieser Hinsicht vorgefertigten Szenarios, sind aber dennoch viel flexibler und haben Wiederspielwert. Vorbereitung wird dadurch in den meisten Fällen überflüssig.
Wo es hingegen Interpretationspielraum gibt wie in Archipelago oder Okult, findet man entweder über ein Instrumentarium (nochmal: "Try a different way") oder schlicht darüber zusammen, dass alle hier sind, um rauszufinden, was die anderen cool finden, nicht um über die Prämisse des Spiels hinaus etwas vorgekaut zu bekommen.
Daraus folgt: (Ein echter gemeinsamer Stil.) Rollenspiele ohne Spielleitung bewegen sich zwischen Spiel auf den Punkt und viel Raum für gemeinsame Interpretation.
SchlusswortMan findet da draußen nicht nur Fiasco und Microscope, sondern zahllose andere Rollenspiele ohne Spielleitung, die traditionelle Aufgaben, wo sie sie überhaupt noch vorsehen, alle ein bisschen anders verteilen, aber immer ohne aus dem Spiel herausgelösten Schiedsrichterposten. Unterrepräsentiert sind vor allem fewshot- und Kampagnenspiele. Nicht, weil Spielleitungslosigkeit das bedingt, sondern die Designziele bisher oft anders lagen. Gibt es Sachen, die ohne SL nicht gehen? Bestimmt. Gibt es Sachen, die ohne SL besser gehen? Klar (siehe oben). Habt ihr vielleicht nicht gewusst.
Fragen, Kritik, Kommentare? (Besonders: Fallen euch noch weitere Gründe ein, warum man ein Rollenspiel ohne SL designt?)
Euer Ucalegon
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[1] Eine ausführliche Liste dieser Rollenspiele
findet ihr hier.[2] Berufene Stimmen halten "ohne Spielleitung" für irreführend, weil die Aufgaben der Spielleitung in solchen Rollenspielen ja nicht verschwinden, sondern nur anders verteilt werden. Besonders Jason Morningstar wird nicht müde, zu erwähnen, dass er Spiele designt, in denen alle die Spielleitung(en?) sind, weil er diese Rolle selbst so toll findet und sie anderen nicht vorenthalten möchte. Ich persönlich habe einen anderen Blick darauf. Spielleitung beschreibt eine dem Spiel enthobene Position, die selbst keinerlei Leitung bedarf, weil sie keine Spielerfahrung macht, die geleitet werden müsste. Der Übergang mag fließend sein und es stellt sich die Frage, ob es eine kritische Masse an oder gewisse zentrale Aufgaben gibt, die umverteilt werden muss, damit Spielleitung in diesem Sinne verschwindet, aber dass sie beispielsweise in Fiasco als bekanntestem Beispiel nicht existiert, ist wenigstens für mich eindeutig. "Ohne Spielleitung" ist als Definition ex negativo freilich auch nicht ideal, wie Ben Robbins zurecht anmerkt.
[3] Ähnlich allgemeine Beiträge zum Thema (mitsamt der oben zitierten Positionen) findet ihr hier. Alle vertreten sehr unterschiedliche Ansichten:
Ben Robbins:
“I just like saying ‘overthrow the government'” (GMless RPGs, ECCC 2017)Jason Morningstar:
Ropecon 2015: Jason Morningstar: GMless design and playJoshua Fox:
Some thoughts about GMless gamingAußerdem:
Where did modern gmless gaming come from?Across the Table Podcast (Hervorragende Audio-Besprechungen wichtiger SL-loser Rollenspiele mit besonderem Blick auf ihr Design.)