IM INNEREN DER STERNWARTE
Nach wenigen Sekunden werde ich stutzig. Jegliche Reaktion auf mich bleibt aus. Keine Antwort der Lohensteins. Keine Regung des kleinen Mannes am Boden. Die Welt um mich herum scheint stillzustehen ... keine Bewegung kein Laut. Kein Kläffen mehr aus der Halle hinter mir. Alle Anwesenden verharren unbeweglich an ihrer Position, als habe sie ein Eishauch mitten im Spätsommer erfasst. Selbst das Licht wirkt plötzlich merkwürdig farblos und kalt.
Gestern schien der leblose Boden plötzlich von Leben erfüllt, als die Straße Wellen schlug und das Auto sich verformte. Nun ist es gerade andersherum und das Leben erstarrt.
Mein Puls beschleunigt sich, als ich mir vorstelle, was es für mich bedeuten könnte, in solcher Weise dauerhaft aus Zeit und Raum gerissen zu werden.
Zögerlich hebe ich mein Bein von dem Jackett des kleinen Mannes. ... Nichts geschieht.
Ich umrunde den Mann, der mir den Rücken zuwendet und in dem ich Krassimir vermute. Seine rotgeränderten Augen leuchten von innen heraus in einem kalten weißen Licht. Es schmerzt, in das Licht zu blicken, das nicht aus den Augäpfeln selbst, sondern von einem weit hinter dem Kopf des Mannes liegenden Ort zu kommen scheint ... als handele es sich bei Krassimirs Augen um die Tore zu einer fernen, weiten, leblosen Welt ... oder um Teleskope, deren Ziel einem die Netzhaut verbrennt, wenn man ohne einen starken Filter hindurchschaut. Eine innere Kälte erfasst meinen Körper und lässt ihn erschaudern. Rasch wende ich mit Grausen den Blick ab und tauche unter dem strahlenden Licht hindurch.
Als ich wieder hinter Krassimir angekommen bin, entdecke ich die Augenbinde und lege sie dem Russen von hinten wieder an. Dann gehe ich zurück zur Tür. Noch immer hat sich niemand bewegt. Ich breche eine Strebe neben den Glaseinsätzen aus einer der Flügeltüren. Mit der Strebe im festen Griff kehre ich zu Krassimir zurück. Als ich mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft den improvisierten Knüppel auf Krassimirs Schädel niederfahren lasse, zerbirst das Holz lautlos in hunderte kleiner Splitter, die erst rasch, dann immer langsamer durch den Raum fliegen, als handele es sich bei der Luft um eine träge Masse. Die meisten Splitter bleiben nach kurzer Wegstrecke einfach in der Luft hängen, ohne je den Boden zu erreichen.
Entsetzt öffne ich meinen Mund, um wenigstens meine eigene Stimme zu hören. Doch so laut ich auch zu schreien versuche ... die Grabesstille, die sich über alles gelegt hat, scheint mit eisiger Hand in meinen weit geöffneten Rachen zu greifen und mir meine Stimme zu entreißen.
Gehetzt blicke ich um mich. Aber ich finde keinen Feind, ich sehe kein Entrinnen ... Da ist einfach ... NICHTS ... um mich, das zu leben scheint. Nichts, was ich packen könnte, nichts, dem ich den Kragen umdrehen könnte, um in meine kleine Welt zurückzukehren ...
Hektisch blicke ich auf den kleinen Mann am Boden. Ich sehe die zerbrochene Brille und überlege, ob diese Brille mehr sein könnte als sie scheint. Ich konzentriere mich auf die Augen des Mannes und versuche darin eine Regung ... irgendeinen Hinweis auf Leben ... auf eine Reaktion auf meine Anwesenheit zu entdecken. Aber da ist nichts.
"Was kann ich tun?", frage ich lautlos in den Raum. Ich sehe die schwebenden Splitter und bin versucht, Krassimir zwei von ihnen in die Augen zu rammen. Vielleicht wird dann alles wieder normal? Aber ich fürchte, die Splitter würden nur durch zwei endlose Tunnel ins Nichts fallen. Das wäre im Moment mehr, als ich ertragen könnte.
Unsicher setze ich meinen Fuß erneut auf das Jackett des kleinen Mannes und warte ab. Das ist alles, was ich tun kann ... warten und hoffen ...
Und dann ist es so plötzlich vorüber, wie es angefangen hat ... genau so plötzlich wie die Verwerfungen der Straße kamen und gingen. Das erste Geräusch ist das leise Prasseln hunderter kleiner Splitter. Wie ein leichter Regen bei Windstille fallen alle gleichzeitig senkrecht herab, ohne ihre alte Flugbahn fortzusetzen. Bei all dem Irrsinn um mich herum, ist mir das gleich. Ich sauge das Geräusch der herabregnenden Splitter gierig in mich auf. So leise und absonderlich es auch ist, es ist mir so willkommen wie das Plätschern einer Oase in der Wüste.