IN DER STERNWARTE
Als Agathe Lohenstein das provisorische Büro verlässt, in dem die Polizei Quartier genommen hat, ruft der Polizist meinen Namen in den Flur. Einen Augenblick bin ich unentschlossen, doch dann stößt Kassandras Ellenbogen in meine Rippen. "Sie sind an der Reihe", raunt die junge Frau und ich meine eine Spur von Anerkennung in der Stimme wahrzunehmen. "Vermutlich ist es nur die Sensationslust, aber schaden tut es jedenfalls nicht."
"Sie entschuldigen mich, Fräulein Bischof." Ich streiche noch einmal über Fritzchens Kopf. Dann schreite ich durch die Gasse, die die schaulustigen Besucher für mich bilden, in Richtung Büro. Obwohl ich nichts Unrechtes getan habe ... diesmal ... ist mir ein wenig flau im Magen. Als sich die Eichentür hinter mir schließt, scheint mir dies kein gutes Omen.
"Nun, Herr ...," ich zögere verunsichert in Ermangelung eines Namens, "... Kommissar, was möchten Sie von mir wissen?" Automatisch nehme ich das schlichte Gemüt an, das die Menschen meist mit meinem Äußeren verbinden und nehme mir vor, viel zu erzählen, ohne viel zu sagen. Das war in der Vergangenheit schon öfters eine gute Strategie.
Der Polizist fragt nach meinem Namen und meiner Anschrift, was ich pflichtschuldig beantworte: "Anton Hempel, wenn's beliebt, geboren 19.02.1888 hier im schönen Berlin. Ich arbeite für die Eheleute Professor Lohenstein. Ich bin der Chauffeur! Ich wohne in der Villa der Lohensteins, Kaiserdamm 118. Hab' da 'ne Kammer unter'm Dach. ... Gestern gab's da 'nen Verkehrsunfall! Man, das war vielleicht 'n Rumms! ..." Der Polizist sieht von seinem Notizblock auf, räuspert sich und murmelt ein paar Worte. "Ja, Sie haben recht, das tut hier nichts zur Sache. Natürlich ..."
Ich schütze vor, aus dem Konzept gebracht worden zu sein, und komme ich ins Stocken. Als ich bemerke, wie ich nervös meine Mütze in den Händen drehe, hänge ich diese lieber über die Armlehne meines Stuhls und rutsche dabei unbequem auf der Sitzfläche. Der Beamte muss mir die Informationen aus der Nase ziehen.
"Ich weiß garnich' viel zu sagen. ... Wirklich nich'!"
"Ich hab' die Lohensteins heute Morgen zur Sternwarte gefahren. Der Professor hat gesagt, es werde eine Weile dauern. Also bin ich derweil innen Park. ... Hatte mir 'ne Stulle mitjenommen. ... Da habe ich 'nen Hund aus dem Schilf gezogen. Ich mag Hunde, wissen'Se? Der gehörte zum Fräulein Bischof!" Ich lächele kurz verschwörerisch. "Also er gehörte genaugenommen nicht ihr ... sie hat ihn nur für ihre Herrschaft ausgeführt ... im Park ... bei dem herrlichen Wetter ..."
Der Polizist hebt kritisch eine Augenbraue.
"Ja, richtig! ... Ich wollte dann sicher gehen, dass der Professor und die gnä' Frau nich' auf mich warten. Darum bin ich dann zurück zur Sternwarte. ... Das lag für's Fräulein Bischof sowieso auf'm Weg ... ein nettes Mädchen."
Ich lächle erneut. Der Polizist seufzt vernehmbar. Ich blicke schuldbewusst zu Boden.
"Naja, das Fräulein Bischof meinte, wir sollten doch ruhig mal reingehen in die Sternwarte. Sie war wohl schon öfters hier ... als Besucher. Also bin ich mit rein. Ich konnte genausogut drinnen auf die Lohensteins warten."
"Wir haben dann die Besuchergruppe gesehen und wollten uns anschließen. Die standen vor der verschlossenen Tür. ... Ja, die Tür vom Flur meine ich ... die ich aufgebrochen habe ... Aber ich musste das tun! Was hätte ich sonst tun sollen? ... Durch die Tür hab' ich wen russisch sprechen hören. Ich habe auch von diesem verrückten Russen in der Zeitung gelesen und der hat ja wohl mal hier gearbeitet ... und dann noch der tote Wachmann der Sternwarte im Park. ... Ich hab' also mal an der Tür gerüttelt. Die gnä' Frau hat durch die Tür um Hilfe gerufen. ... Und das hörte sich ... nun, sie wissen schon ... wirklich ernst an. ... Ich hatte ein ungutes Gefühl. ... Na, da musste ich doch was unternehmen! Was hätten Sie denn da gemacht? ... Das mit der kaputten Tür tut mir wirklich leid! Vielleicht kann ich das richten? ... Erst habe ich noch gefragt, ob man irgendwie anders in den Raum dahinter kommt, aber niemand konnte mir helfen. ..."
"... Also ich durch die Tür und da standen se alle: Die gnä' Frau sucht Schutz hinterm Professor. Der Blumberg redet auf den Russen ein, versucht ihn zu beruhigen. Der Doktor ist auch da ... wie heißt der noch? Ich habe ihn auf der Beerdigung vom Professor von Eisenstein gesehen. ... Naja, se alle standen da rum und hatten Angst. ... Der kleine Kerl mit Brille ... der Tote ... stand direkt hinter der Tür. ... Ich denke, der muss die abgeschlossen haben, oder? ... Jedenfalls ist der hingefallen, als ich reinkam. ... Und er hat auf russisch mit dem Irren geredet. ... Dann ging alles ganz schnell: Der Doktor hat sich auf den Irren geworfen. Der Irre hat ... nun, wie soll ich's beschreiben ... der hat wild um sich geblickt!"
Kurz reiße ich die Augen weit auf und verzerre mein Gesicht, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. Dann runzle ich nachdenklich die Stirn.
"... Da war so ein ... wahnsinniges Leuchten in seinen Augen, ... nachdem er seine Augenbinde ausgezogen hatte. ... Das war ... schon ... beängstigend. ..."
Ich schüttle langsam den Kopf, als könnte ich damit die Erinnerung verscheuchen.
"Die gnä' Frau is' rausgerannt. Das war das beste, was sie tun konnte! ... Hat den Kopf bewahrt und die Polizei gerufen, denke ich. ... Der Doktor schreit und hält seine Hand. Der Wahnsinnige faselt wieder irgendwas ... auf Russisch vermute ich. ... Also werfe ich mich auf den Irren. ... Sie können mir glauben, ich hatte ihn am Boden! Der konnte sich nicht mehr rühren. ... Alles schien damit in Ordnung ... bis dieser junge Blondschopf sich einmischte und mich wie von der Tarantel gestochen von dem irren Russen runterstößt!!!"
Ich reibe mir demonstrativ die Rippen.
"... Der Blonde konnte sich garnicht beruhigen! Wie ein Verrückter ging der auf mich los, der Dummkopf! ... Entschuldigung, wenn ich das so deutlich sage. Ich wees ja, über Tote soll man nich' schlecht reden und so ... Ich meine, ich will den Teufeln nich' an die Wand malen, aber um den Jungen steht es doch ziemlich schlimm, nicht wahr? ... Jedenfalls stimmt es nun mal: Der Kleene hat alles verdorben! ... Er hielt mich für den Verrückten und den Russen für den Professor. Können Se sich det vorstellen?!? ... Also: Ich ringe mit der Knalltüte ... hmm, dem Studiosus ..., da schreit eine Frau und die Arme des Blonden werden plötzlich so komisch ... so trocken ... genau, wie sie's in den Zeitungen beschrieben haben ... und sein Griff wird unglaublich stark ... viel stärker als man's dem Hänfling zutrauen würde! ... Und der irre Mörder nimmt natürlich Reißaus!"
"... Dabei hätte ich die Belohnung gut brauchen können! Kann ja nicht viel an die Seite legen als Fahrer, wissen Se?", setze ich nach einem kurzen Moment nach, als sei ich aus der Erinnerung erwacht. "Jetzt ist das Geld futsch, wegen dem Studierten." Ich blicke traurig auf die Hände in meinem Schoß.
"Mehr weiß ich auch nich' ... auf's Gewissen! ... Ich wollt' nur helfen ... der gnä' Dame ... und dem Professor natürlich. ... Weil, das ist doch meine Pflicht, nich'wahr?"
Um Zustimmung heischend blicke ich den Polizisten fragend an. "Los, lass mich gehen!" Dabei hoffe ich, dass der Kriminale mir den arglosen Dummkopf abgekauft hat und mir keine weitere Beachtung mehr schenkt.