Im Auto„Also … nicht, dass Sie schlecht von mir denken. … Einem Verstorbenen soll man nicht übel nachreden, ich weiß. … Und vielleicht ist an all dem ja auch nichts dran. … Aber merkwürdig ist das ganze schon.“
Im Rückspiegel sehe ich den auffordernden, leicht ungeduldigen Blick von Agathe Lohenstein.
„Nun, der Herr Professor von Eisenstein hat offenbar in der Sternwarte mit zwei Russen oder Polen zusammengearbeitet, Krassimir Nebolowski und ein Kirill. Die beiden gehörten wohl irgendwie zusammen, vielleicht Brüder. Vor allem der Krassimir ist hier
von Nachbarn häufiger gesehen worden. Und jetzt wird er in den Zeitungen des mehrfachen Mordes beschuldigt, der Nebolowski.“
„Zuletzt war er wohl
vor ungefähr drei Jahren bei den von Eisensteins zu Besuch, könnte auch ein wenig länger her sein. Das hat mir die Trudi, ich meine das Fräulein Massmann, erzählt, als sie die Zeitungen gebügelt und die Artikel über Krassimir Nebolowski gesehen hat. Naja, es kommt ja nicht oft vor, dass man einem Mörder das Essen serviert hat, nicht wahr? Da kann man es ihr schon nachsehen, dass sie ein wenig aufgeregt war…“
„Das mit dem Besuch bei den von Eisensteins muss kurz vor seiner Einweisung in die Irrenanstalt gewesen sein. Denn die Zeitungen schreiben, er sei schon
seit drei Jahren in der Klapse gewesen … Entschuldigung! … in der Anstalt. Jedenfalls ist die Frau Professor damals bei seinem Besuch in der Villa der von Eisensteins dann irgendwann zu Bett gegangen, ebenso die Dienerin. Aber der Krassimir ist wohl noch bis spät in die Nacht geblieben. Das scheint sein letzter, vielleicht sogar der einzige 'offizielle' Privatbesuch von Krassimir Nebolowski bei den Eisensteins gewesen zu sein. Dann war er hinter Schloss und Riegel.“
„Da ist es doch etwas merkwürdig, dass die Nachbarn den Krassimir Nebolowski häufiger hier in der Straße gesehen haben. Das Fräulein Massmann erzählte mir aber, der Herr Nebolowski sei 'mal dort gewesen, so vor ungefähr drei Jahren' und beschrieb konkret diesen einen Besuch. Sie sagte nicht, 'der war öfter mal hier'. Und ich hatte den Eindruck, dass es für die von Eisensteins ungewöhnlich war, dass Gäste bis spät in die Nacht bleiben. Sonst hätte die Trudi diesen Umstand vermutlich nicht erinnert und erwähnt, oder?“
„Bevor der Krassimir Nebolowski in die Anstalt kam, hat er in der Nachbarschaft noch damit geprahlt,
in ein Bonzenviertel umgezogen zu sein. Dabei war er
erst wenige Jahre zuvor – vielleicht vier, fünf Jahre – aus dem Osten nach Deutschland gekommen … Wie soll man in so kurzer Zeit auf ehrlichem Wege ein kleines Vermögen verdienen, das eine solche Wohnlage ermöglicht? … Und zur gleichen Zeit ging es bei den von Eisensteins finanziell steil bergab. … Das ist doch auffällig, oder? …“
„Und dann ist da noch etwas: Es heißt, der Herr von Eisenstein habe damals, also bevor der Nebolowski in die Anstalt kam, ein
Verhältnis mit einem jungen Mädchen mit auffällig langen Beinen gehabt. Das Mädchen sei von ihm schwanger geworden und der Herr von Eisenstein habe zahlen müssen. Das scheint der Nebolowski eingefädelt zu haben. Jedenfalls hat der Herr von Eisenstein wohl enorm viel Geld an den Nebolowski gezahlt … ich vermute wegen des Kegels.“
„Klar, habe auch ich gedacht, das ist nur neidisches Gerede von den Nachbarn. … Aber jetzt diese Morde, die dem Nebolowski zugeschrieben werden. Bei seinem Ausbruch soll er eine Krankenschwester umgebracht und einen Pfleger schwer verletzt haben.“
„Dann ist noch ein
Wachmann der Sternwarte verschwunden, der inzwischen tot aufgefunden wurde. Komisch ist, dass die B.Z. am Mittag von einem
„Doppelmord in Weißensee" spricht, während man den Wachmann doch im Treptower Park gefunden hat. Auch die Neue Preußische Zeitung spricht in der Mehrzahl von den
„Archenhold Morden“, berichtet dann aber nur von einer Toten, der Krankenschwester. Offenbar schreibt man Nebolowski den dubiosen Todesfall des Wachmanns ebenfalls zu … aber eine mumifizierte Leiche? Wie sollte der Nebolowski das in so kurzer Zeit geschafft haben können? Ich habe schon viele Leichen gesehen, auch solche, die schon eine Weile in der Natur gelegen haben, aber ausgetrocknet war davon keine. Wie lange würde sowas dauern? Außerdem wurde der
Wachmann Walter Heinzmann schon seit Mittwoch vermisst und der Nebolowski soll erst
am späten Donnerstagabend ausgebrochen sein! Wie passt das zusammen? Die Todesursache ist noch nicht geklärt und doch geht man offenbar davon aus, dass der Wachmann erst in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag von Nebolowski getötet wurde?“
„Und jetzt sind da auch noch die
zwei toten Lumpensammler, die wie Moorleichen ausgesehen haben sollen und deren Kleidung der Nebolowski gestohlen haben soll.“
„Das alles soll der Nebolowski gewesen sein?! Dabei soll der schon
bei seiner Einlieferung in die Anstalt blind gewesen sein.
'Äußerst gefährlich' soll er auch sein … ein Blinder besonders gefährlich? Außerdem hat mir der Nachbar den Nebolowski als einen
‘abjebroch'nen, abjehalftaten Zwerch‘ beschrieben. Die amtliche Verlautbarung im Berliner Abendblatt sagt hingegen, der Gesuchte sei
1,85 m gross, von kräftiger, robuster Statur und habe einen gebeugten, affenartigen Gang. Das ist ein wenig gruselig, oder? Entweder einer von beiden war nicht Nebolowski oder wir haben es hier mit dem seltsamen Fall von ‘Dr. Jekyll und Mr. Hyde‘ zu tun.“
„
100 RM haben sie für ihn ausgesetzt. Das ist 'ne schöne Stange Geld. Da wird so mancher jetzt die Augen offen halten.“
„Jedenfalls für jemanden, der so viele Menschen umbringt, wäre eine Erpressung mit einem kleinen Moment der Schwäche keine große Sache. Und vermutlich hat der Nebolowski die Kleine gezielt auf den armen Professor von Eisenstein angesetzt, so dass es gar nicht seine Schuld war. … Ist nicht schwer, ein Mädchen für sowas zu finden, wenn genug Geld winkt.“
„Ganz gleich, wieviel von alldem wahr und wieviel erfunden ist. Es scheinen mir ein paar Ungereimtheiten zuviel zu sein, als dass nicht mehr dahinter steckt.“
„Und dann … nun … das ‘plötzliche Leiden‘ des Herrn von Eisenstein. … Ich kann mir nicht helfen, ich habe kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache.“
„Ich will keine Gerüchte streuen, ganz sicher nicht“, beeile ich mich mit einem sorgenvollen Blick in den Rückspiegel abschließend hinzuzusetzen, „aber ich fand, Sie sollten das wenigstens einmal gehört haben … für den Fall, dass das Gerede weitergeht. Wegen des angeblichen Kegels und so … Ich sage nur, was die Leute so reden und die Zeitungen schreiben.“
Prüfend versuche ich in den Gesichtern der Lohensteins zu lesen, ob mir nach diesen unangenehmen Informationen Ungemach droht.