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Wajdi Mouawad - Anima(Aus der POPSUGAR-Challenge: A book by an author of a different ethnicity than you)
Im Was lest ihr gerade?-Thread hatte ich bereits dazu geschrieben:
Eine Art Kriminalthriller, der aus der Sicht von Tieren geschildert wird, welche den Protagonisten auf seinem Weg beobachten.
Sehr interessant komponiert, manchmal ist die Brachialität des Inhaltes zu konstruiert für die jeweilige Szene, häufiger aber ist es sehr eindrücklich. Habe jetzt etwa 50% des Buches gelesen und bin insgesamt angetan, auch durch die vielen, detailreichen Einzelperspektiven. Manchmal will Mouawad zu viel mit dem Holzhammer, in anderen Szenen will er manchmal zu zärtlich sein. Ich werde es dennoch beenden und, da es Teil meiner Reading Challenge ist, auch noch genauer beleuchten.
Es ist mehr als ein Kriminalthriller, es ist aber auch ein Manifest dessen, wenn ein Autor zu viel möchte. Es beginnt als Kriminalthriller als die Frau des Protagonisten getötet wird. Die Perspektivität des Romans ist dabei in den ersten zwei von vier Kapiteln die große Stärke des Buches, denn wir begleiten den Protagonisten Wahsch Dibsch scheinbar durch die Augen der vielen Tiere, die ihm auf dem Weg begegnen.
Allerdings befasst sich das Buch nicht damit, den Mörder finden zu wollen. Der ist bekannt, doch die Polizei will ihn nicht festnehmen, weil er ein wichtiger Informant ist und ihn noch braucht. Also macht sich der Protagonist selbst auf die Suche nach dem Mörder, nicht um ihn zu stellen, sondern anfangs mit dem Gedanken, dem Mörder seiner Frau nur ins Gesicht schauen zu wollen.
Wahsch macht sich also auf die Suche und gerät dabei zunehmend zwischen die Mühlen, erfährt, dass der Mörder ein Mohawk-Indianer ist und gerät in die Kriminalität des Reservats, wird Teil eines politischen Spiels durch die Indianer, bei denen aber - durch die Tiere beobachtet - der Mensch immer die Bestie bleibt. Soweit, so gut. Also was der Mensch auch probiert - der Protagonist oder seine Mitstreiter oder gar Antagonisten - am Ende steht bestialische Gewalt. Und so wird aus Wahschs Jagd bald eine wilde Flucht, weil der Mörder seiner Frau ihn ausfindig macht. Das Werk gewinnt an Abstrusität, der erst teils an brutale Surrealität grenzt, denn so wird der Protagonist durch den Antagonisten im Laufe des Buches bspw. vergewaltigt. Ungefähr in der Mitte des Buches begegnen sie sich dann zum tödlichen Kampf, den der Protagonist gewinnt. Auf dem Weg werden die entsprechenden Mittel verstreut, und man merkt, dass der Autor eigentlich Theatermann ist, und im Sinne von
Checkhov's Gun eben die entsprechend dramatischen Gegenstände verteilt, denn natürlich wird der Mohawk-Mörder durch ein Sioux-Messer getötet. Ab hier endet die Perspektivität durch verschiedene Tiere und wird ersetzt durch die Perspektivität eines Tieres. Eines wilden Wolfes, der den Protagonisten nach dem Kampf mit dem Antagonisten rettet und fortan sein "Hund" ist.
Wichtig in dem Werk sind seine Entwicklungsstränge. Während die Brutalität allgegenwärtig ist - bei weitem aber nicht so gut und glaubwürdig wie bspw. einem Cormac McCarthy - ist Wahsch zu Beginn seiner Selbsteinschätzung nach eher ein friedfertigerer Typ, der Gewalt eher zum positiven Zwecke nutzt. Er will sich so auch nicht an dem Mörder rächen, sondern ihn nur sehen, woraus letztlich Notwehr entsteht. Das Buch stellt jetzt jedoch dar einen Bruch da, im Übrigen durch den Wolfhund symbolisiert, der
Mason-Dixon-Line heißt. Anhand dieser Grenzerfahrung entwickelt sich das Buch in die nächste Phase, denn auf einmal wird aus Wahsch ein Racheengel. Es ist bereits im ersten Teil des Buches angelegt, dass irgendwas mit Wahschs Herkunft nicht stimmt, und er ein Trauma mit sich rumträgt.
Im weiteren Buch wird klar, dass dieses Trauma darin begraben, dass er als Kind das
Massaker von Sabra und Schatila erlebt hat. Das arbeitet er in Teil 3 des Buches, unter den Eindrücken der ersten beiden Kapitel, auf, und erfährt, dass sein Ziehvater der Drahtzieher oder zumindest eine wichtiger Mörder dieses Massakers war. Nebenher sprengt er noch einen Hundekampfring und rettet ein selbstzerstörerisches Mädchen von ein paar Rednecks. Die Perspektiveneinengung beginnt im Übrigen in dem Moment, in dem er nachvollzieht, dass jeder Mensch nach indianischer Sage irgendwann seinem Totemtier begegnet, was bei Wahsch der Wolf ist. Da das Tier nach einer Grenze benannt ist, wird der Rest des Buches also zwangsläufig zur Grenzerfahrung. Kapitel 4 ist schließlich das erste Kapitel aus scheinbar menschlicher Sicht, nämlich des Gerichtsmediziners, der mit dem Mord an Wahschs Frau beschäftigt war. Dieser erfährt eine gewisse Empathie für Wahsch und aus seiner Sicht lernen wir, dass Wahsch seinen Ziehvater ausfindig macht und tötet, und zwar so in dem Stile, wie dieser das Massaker von Sabra und Schatila begangen hat. Damit, dass Wahsch mit dem Mädchen (Winona) und Mason-Dixon-Line nach Alaska reist, endet das Buch.
Grundsätzlich ist es ein sehr interessantes Werk, welches wie gesagt als Kriminalthriller beginnt, dann ein Stückweit zum psychologischen Trip wird, da Wahsch sich zu Beginn fragt, ob er seine Frau nicht selbst umgebracht hat. Dann wird das Buch zunehmend zu einem Milieustück und Road-Trip-Buch, von großer Gewalt beschattet. Im Zentrum steht dabei immer die Entwicklung Wahschs, der erst Opfer der Geschehnisse ist, dann Initiative übernimmt, Opfer bleibt bis er seinen inneren Wolf entdeckt (im Übrigen glaubt er, dass der Wolf, sein Totem, der Geist seines Antagonisten ist, der Welson Wolf Rooney heißt...) und dann selbst zum Täter und Rächer wird, und damit übrigens die Prophezeihung erfüllt, die sein Name ihm gibt, weil Wahsch Dibsch quasi sowas wie grausamer Mörder bedeutet und den Vater an das Massaker erinnern sollte.
In kurz: Der Mensch ist Tier und verfällt in Grenzsituationen seiner animalischen Urart.
Hier wird deutlich, dass der Autor zu viel will und dadurch Lücken erzeugt. Bspw. kann Wahsch teils arabisch, teils nicht, weiß aber nicht, was sein arabischer Name bedeutet und fragt sich das nie, obwohl er seinen wahren Namen nie erfährt, sondern eben nur merkt, dass er quasi ein Mann ohne Namen ist. Die Namen seiner Familienmitglieder werden im Laufe des Buches klar, weil die anderen Familienmitglieder sie beim Massaker riefen. Nur der Junge, der zuletzt getötet werden sollte, hatte deswegen keinen Namen, weil sein Name nie gerufen wurde.
Letztlich versucht der Autor Genregrenzen zu durchbrechen, nebenbei ein psychologisches Profil zu schustern, eine Person vollständig zu entwickeln und greifbar zu machen. Das Ganze tut er immer durch Extreme. Die Gewalt ist extrem, die Zärtlichkeit ist extrem. Alles besteht aus Extremen und Extrapolationen, und damit auch durch Klischees, sodass man letztlich vieles nachvollziehen kann, aber keine wirkliche Bindung zur Handlung bekommt. Dann will er jede Handlung irgendwie erklärbar machen, aber will zu viel erklären, verrennt sich. Lediglich der letzte Turn ist wahrlich interessant, als klar wird, dass die Perspektive durch die Tiere doch am Ende die Perspektive Wahschs ist, was in Kapitel 4 aufgeklärt wird, da dem Gerichtsmediziner ein Manuskript vorliegt, welches den drei Kapiteln davor entspricht. Dadurch verliert das Buch seinen surrealen Charakter schlagartig und lenkt den Blick zuletzt darauf, dass Wahsch quasi die Welt nur durch die Brille der alltäglichen Gewalt sehen und verstehen kann. Im Übrigen ist es nämlich auch so, dass viele der Tiere, die ihn beobachten, sterben oder selbst töten, während sie beobachten, oder eben schützen und dem Tod zu entfliehen suchen. Das erklärt schließlich auch die Einengung der Perspektive, am Anfang durch viele Tiere dargestellt bis er - wie oben genannt - seinem Totem begegnet.
Abschließend bleibt es aber ein interessantes Buch, welches aber eher durch seine Komposition als durch das geschriebene Wort selbst glänzt. Ich habe letztlich nur die deutsche Übersetzung gelesen, die an sich gefällig, aber nicht sehr blütenreich ist. Die Gewalt ist teils extrem, aber nicht sonderlich schockierend. Schade bleibt, dass Mouawad nicht alle seine Einflüsse so verbinden konnte, dass keine zu großen Brüche entstehen und so bleibt trotz seines Dranges, alles erklären zu wollen, vieles unerklärt. Nicht, weil es unerklärlich wäre, sondern weil es zu viel war. Es ist überladen und lässt dadurch andere Perspektiven vermissen, die in der Komposition mehr Sinn ergeben hätten. Das Motiv von Welson Wolf Rooney wäre interessant gewesen, doch er erscheint nur als brutal. Damit ist er ein letztlich brutaler wie langweiliger Antagonist.
Dennoch ist es ein Werk, welches man sicher so nicht häufig liest, und auch wenn die Multiperspektivität keine wirkliche ist, liest es sich dadurch zumindest in der ersten Hälfte sehr interessant. Wegen dieses ungewöhnlichen Ansatzes gebe ich dem Werk, trotz seiner Schwächen, 7 von 10 Punkten.
P.S.: Reviermarkierung spielt im Übrigen eine sehr wichtige Rolle in dem Buch. Permanent werden Dinge bepinkelt, eingekotet bzw. auf oder in sie ejakuliert. Wahrscheinlich ist dies der wahre psychologische Schlüssel zu dem Buch, inwieweit Macht mit Urin, Sperma und Kot zusammenhängt.
P.P.S: In einer Szene wird im Übrigen angedeutet, dass die Mordvariante, die Welson Wolf Rooney nutzt - er öffnet, v.a. schwangeren, Frauen den Unterleib mit einem Messer und vergewaltigt sie in das neu geschaffene Loch bis zur Ejakulation - ebenfalls von seinem eigenen Ziehvater bei dem Massaker genutzt wurde. Dieser Zusammenhang bleibt einmalig und nicht weiter beleuchtet. Darüber dürfte in dem Werk ausgiebig spekuliert werden, sollte es tiefergehende Rezeption erfahren.