Stellt euch einen Film über eine Kleinstadt in Quebec, Kanada vor. Die kleinen Leute dort haben alle ihre eigenen Probleme, Leiden oder unerfüllten Wünsche, sie sind zum größten Teil vom Schicksal geschlagen. Wenn sie sich aber in ihrer Misere dann doch ´mal etwas gönnen wollen, dann verabreden sie sich mit Freunden im leckersten Schnellimbiss am Ort um gemeinsam eine gute Portion Poutine (kanadisches Fastfood: Pommes mit Cheddarkäsestückchen und Bratensoße) zu essen, sich gegenseitig von ihrem Leben zu erzählen, sich zu trösten und sich übereinander aufzuregen. "Poutine" ist eine Art Kammerspiel und findet fast ausschließlich in besagtem Schnellimbiss statt. Vom Leben der Gäste erfährt man hauptsächlich durch ihre Gespräche.
Auf ein kurzes Setup folgt eine ebenso kurze Charaktererschaffung. Wichtigster Punkt dabei ist die Wahl eines "regret": eines Leidens, eines Bedauerns oder eines unerfüllten Wunsches des Charakters.
Die Szenen beginnen damit, dass Gäste das Restaurant betreten und ein Gericht wählen. Dann essen und unterhalten sie sich.
Ein Spieler, der keinen Gast spielt, kann die Rolle des "Kellners" übernehmen. Er soll die Konversation in Gang halten, aufpassen, dass die Gäste bei ihren Gesprächen beim Thema bleiben, hin und wieder Ratschläge geben und eventuell auch mal den Advokaten des Teufels spielen. Der "Kellner" kann wirklich ein Kellner sein, er kann aber auch in Form des Restaurantbesitzers oder des Kochs auftreten. Wenn eine Szene endet, geben die Gäste dem "Kellner" Trinkgeld. Die Höhe hängt davon ab, wie zufrieden sie mit ihm sind. Das Trinkgeld ist eine Ressource, die dem Spieler des "Kellners" später ermöglicht, für seinen Charakter besondere Szenen zu wählen.
Das Spiel verwendet metaphorisch Begriffe aus dem Restaurantwesen für Lebensabschnitte und -ereignisse der sich unterhaltenden Gäste. Die Gäste wählen ein Gericht, aber damit wählen die Spieler gleichzeitig einen bestimmten Verlauf, den das Leben ihres Charakters genommen hat. Was auch immer da geschehen ist wird natürlich das folgende Gespräch bestimmen.
Ein wichtiges Werkzeug des Spiels ist die Menükarte. Hier finden sich die einzelnen wählbaren "Gänge" und Beispiele dafür, was sie im übertragenen Sinne für die Charaktere bedeuten könnten. Wenn ich eine neue Figur einführen will, wähle ich wahrscheinlich erstmal einen Appetizer (etwa: "the chef who dreams big"). Um einen Story Arc in Gang zu bekommen, wähle ich ein All-Day Breakfast (vielleicht "a visitor from the past"), um vorhandene Probleme zu steigern braucht man "Lunch" (beispielsweise "Make them pay"). Ein paar Gänge kosten etwas. Diese Kosten müssen aus dem Trinkgeld bezahlt werden, das ein Spieler in seiner Rolle als Kellner verdient hat. Wer beispielsweise ein Thema möchte, das sich mal nicht um die eigene Misere dreht, der zahlt einen kleinen Betrag (und wählt dann vielleicht "Hobbies"), auch seine Mahlzeit mitzunehmen (und die Szene damit an einem anderen Ort stattfinden zu lassen) kostet ein wenig. Um einen Story Arc dem Ende zuzuführen braucht es ein "Dinner", das schon etwas teurer ist (vielleicht "an illness wins"). Am teuersten aber ist ein glückliches Ende eines Story Arcs, dies bedarf eines "Desserts" (das vielleicht "Freedom" heißt). Der "Kellner" kann noch ein paar Spezialitäten ("Tagesangebote") aus dem Ärmel ziehen (beispielsweise einen Bekannten auftauchen lassen, der die letzten Sätze der sich Unterhaltenden mitanhört).
Wenn eine Spielsitzung endet, wird ein Charakter zum "Angestellten der Woche" gewählt. Alle Nominierten bekommen noch ein wenig Trinkgeld, der Sieger beginnt in der nächsten Sitzung als erster Gast.
Wenn ein Charakter sein "Dinner" oder "Dessert" hatte, kann sein Spieler ihn zur Ruhe setzen oder mit einem "Breakfast" für ihn ein neues Kapitel in seinem Leben aufschlagen.
Der Rest der Regeln enthält Beispiele und Spieltipps über das Framen von Szenen, Vergeben von Trinkgeld, Beenden von Szenen, Spielgeschwindigkeit und das Erfinden neuer Ereignisse, die sich nicht auf der Menükarte finden lassen ("Ordering Off-Menu"). Auch eine rudimentäre Karte von der Ortschaft, in der sich das Restaurant befindet, ein Cheat-Sheet für den "Kellner" und ein Sicherungspapier für das Festhalten der Story Arcs liegt bei.
Das Thema des Spiels ergibt sicher nicht unbedingt epische und lange Kampagnen. Die Regeln für den "Angestellten der Woche" und die Möglichkeit für mehrere Story Arcs hintereinander zeigen aber, dass zumindest mehr als ein OneShot angedacht ist. Ich finde eine Minikampagne von vielleicht drei oder vier Sitzungen für das Spiel am angemessensten.
Beim Lesen der Regeln fühlte ich mich irgendwie sehr an Jim Jarmusch Filme erinnert. Ich hatte gleich Bilder von dem Restaurant und dem großartigen Koch im Kopf, der nie bekannt wird, weil er in dieser hinterwäldlerischen Kleinstadt arbeitet. Ich stellte mir auch gleich vor, wie die Leute an ihren Tischen die Köpfe zusammenstecken und wie sich zwischen ihnen ein manchmal etwas aufdringlicher und extravaganter Kellner hindurchbewegt. Meine Phantasie ist jedenfalls angeregt. Ich würde das Spiel gern mal ausprobieren.
Der Autor schreibt, das Spiel sei "still in early playtest". Mag sein. Einige Aspekte sind nicht allzu penibel ausgearbeitet. Das Framing der Szenen ist beispielsweise kaum geregelt. Die Gruppe beschließt einfach, wer das Restaurant betritt und sich zu unterhalten beginnt. Auch wer Kellner ist, ist nicht so richtig klar. Die Spieler sollen sich abstimmen und darauf achten, dass jeder mal dran ist. Durch solche vagen Ansagen wackelt es an einigen Stellen ein wenig... aber auch wirklich nur ein wenig. Die offenen Fragen betreffen Dinge, die sich entweder ganz einfach regulieren lassen (beispielsweise durch das Wörtchen "reihum") oder die sich von selbst ergeben und gar keine Regel brauchen.
Wer sich mit mir auf eine Portion Poutine verabreden möchte, darf sich gerne melden.
Zuletzt zitiere ich die Widmung, die der Autor an den Schluss seines sympathischen Spiels gestellt hat:
"This game is dedicated to everyone who grew up in a small town, and never truly left. Where would we be without our trials and tribulations?"