AM KAISERDAMM / in Hans Schlafzimmer
Als ich in das Schlafzimmer zögerlich zurückkehre, klopfe ich zaghaft, obschon die Tür noch offen steht.
Nachdem ich zuvor vollauf mit Agathe beschäftigt war, bleibe ich jetzt zunächst im Türrahmen stehen und betrachte nun erstmals die gesammte Szenerie als Außenstehender: die Unordnung im ganzen Zimmer, das Wasser auf dem Boden, Miri auf allen vieren beim Aufwischen ... letzteres ein Anblick, den ich sonst sicherlich ausgekostet hätte, aber nicht heute ... Agathe im Bett, in das ich sie zurückgelegt habe, und wieder bei Bewusstsein. Hans Lohenstein ist unverändert verstört und unsicher, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Agathe schaut Hans fragend an, der offensichtlich auf eine Frage, die unbeantwortet im Raum zu hängen scheint, nicht recht zu antworten weiß.
Rötungen in Agathes Gesicht und an ihren Unterarmen zeichnen sich mit zunehmender Deutlichkeit ab.
Obwohl mir keine Wahl blieb, als Agathe mit Gewalt daran zu hindern, sich selbst zu Schaden, ist mir die Situation unangenehm. Scham ist mir eher ungewohnt und das Gefühl verunsichert mich. "Die Hämatome an den Armen wird Agathe mit Kleidung bedecken können ... aber was ist mit ihrem Gesicht?" Unwillkürlich streiche ich über meine Wange, auf der Agathes Fingernägel drei lange Kratzer hinterlassen haben, entlang derer nun kleine Blutstropfen trocknen. Die vielsagenden Schrunden in meinem Gesicht werden in den nächsten Tagen Anlass zu Spekulationen geben, soviel scheint mir sicher. "Noch ein paar stumme Demütigungen mehr ... was soll's ... Frauen sind wie Katzen! ... ich bin stärker als sie, aber sie verpassen einem selbst wenn sie unterliegen mit Sicherheit einen Denkzettel, den man nicht so schnell vergessen wird." Erneut meldet sich mein schlechtes Gewissen. "Was machst DU dir Gedanken darüber, was die Leute über DICH denken? ... Für Agathe ... nein: für BEIDE Lohensteins ... wird die Situation ungleich unangenehmer ... und ungewohnter."
Heute habe ich ganz andere Lohensteins kennengelernt als bisher. Je stärker der Wahn Agathe machte, um so schwächer wurde Hans. Und ich kann nicht umhin, Agathe mit einer gewissen Bewunderung zu betrachten. "Ich hätte nicht gedacht, dass so viel Kraft in ihrem schlanken Körper stecken könnte ... so viel ... Wildheit ... Es war wirklich schwer, sie zu packen zu kriegen." Ich erinnere mich an unser Ringen, an die körperliche Nähe, an die Herausforderung und was sie in mir anstieß ... "Nein, ich war nicht verängstigt, wie Hans Lohenstein ... ich habe es ... genossen, sie zu bändigen." Ich weiß, ich sollte mich wohl für meine ungebührlichen Gedanken schämen. Unwillkürlich blicke ich zu Boden und unterdrücke ein dieser Situation völlig unangemessenes Lächeln. "Verdammt, reiß Dich zusammen." Aus einer irrationalen Furcht davor, jemand könne in meinem Gesicht lesen, hefte ich meinen Blick auf Miri, als würde das der Situation angemessener sein. Aber meine Angst, 'ertappt' zu werden, schwindet auf diese Weise. Unziemlicher Gedanken wegen Miri verdächtigt zu werden, würde mein Inneres unentdeckt lassen.
Ich fühle mich fehl am Platz ... zuviel Nähe, zuviel Vertraulichkeit, zuviel Grenzüberschreitung ... "Ich sollte nicht hier sein. Ein Fahrer wie ich sollte nicht in diesem Schlafzimmer sein." Aber ich habe auch das Gefühl, jetzt einfach zu gehen, würde die Sitiuation verschlimmern ... könnte mich entlarven. "Ich sollte gelassen wirken ... unbeteiligt ... als wäre nichts ungewöhnliches geschehen. Kein Urteil, keine Erinnerung, als hätte ich sie nie berührt, als hätte ich sie nie so gesehen? Als wäre alle Erinnerung schon längst verblasst!"
"Vielleicht sollte ich kaltes Wasser holen ... und ein Tuch ... zum kühlen?", frage ich schließlich unsicher in die Stille. "Oder ein Mittel gegen Kopfschmerzen?" Medikamentennamen wie Aspirin, Oxycodon oder das aufputschende Ephedrin tauchen aus meiner Erinnerung ... lediglich aufgeschnappte Worte aus meiner Ambulanzzeit ... "Was könnte in einem solchen Fall richtig sein? Ich habe keine Ahnung von Erster Hilfe bei ... Irrsinn?"