Ich persönlich (!) finde Alltagsfähigkeiten ganz schrecklich. Zu Erklären warum ist allerdings ein bisschen so wie zu erklären
warum Witze witzig sind. Sie sind es halt. Aber ich will es trotzdem einmal versuchen.
1) Alltagsfähigkeiten im RL und im RSP
2) Crafting
3) Spannung im Alltag
4) Proben und Konflikte
5) Kinder und Schlagzeuge
1) Die Fähigkeiten, die wir selber haben und alltäglich anwenden sind relativ konstant und die Leistung, die wir abrufen können, schwankt in einem sehr geringen Umfang. Wer Löten kann, kann löten. Wer Babies wickeln kann, kann Babies wickeln. Wer Brötchen backen kann, kann Brötchen backen. In einem Rollenspielsystem müsste ein Bäcker-Charakter für "Brötchenbacken" daher nicht 1d20+5 mit Zielwert 15 würfeln (50% zu scheitern), sondern eher 1d20+500 mit Zielwert 150 (0% zu scheitern). Das ist aber zu Recht unspannend. Und die meisten Rollenspiele machen das auch gar nicht so, meistens hat man immer irgendwie eine Chance etwas zu schaffen oder zu verkacken und dann treten erst recht die Immersionsrisse auf (vgl. Boba Fetts 80% Busfahrer).
2) Okay, technisch gesehen ist das nicht wirklich die Schuld von Alltagsfähigkeiten: Aber Crafting Systeme sind in (Rollen)spielen meist für alle Parteien unbefriedigend. Und Alltagsfähigkeiten haben sehr oft mit Crafting zu tun. Entweder ist Crafting das selbe wie Shopping, nur in ein wenig anders; oder es erfordert das Vorhalten von und Buchführen über hunderte von In-Game Ressourcen welche die SL dann auch im Spiel vorkommen lassen muss; oder es benötigt Charakter-Ressourcen wie z.B. XP und wird daher eh von niemandem gemocht. Um bei dem Bäcker zu bleiben, entweder ist es so, dass die erfolgreiche Anwendung der Alltagsfähigkeit dazu führt, dass man ein Brötchen ein paar Prozent billiger bekommt als im Laden, oder dass man als Spielleiter im Dungeon unterschiedliche Hefekulturen, Mehlsorten und Kochutensilien verstecken muss sowie sich unterschiedliche Rezepte ausdenken muss. Das geht natürlich zu Lasten der Vorbereitungszeit, welche man für das Abenteuer insgesamt hat und zudem sitzen all die anderen Spieler währenddessen daneben und langweilen sich ("können wir jetzt endlich weiter?" "nein, ich muss noch nach den 17 Körnern amyrrischen Ulg suchen welche mir noch für mein Greater D'afouque Rezept fehlen!").
3) Klar kann es auch mal spannend werden. Mein Lieblingsbeispiel dazu stammt aus dem Film
Password Swordfisch. Hier begegnen wir einem begnadeten jungen Hacker. Hacking ist quasi sein Alltagsskill und damit kann er regelmäßig andere Computer hacken (wurde vorher im Film etabliert), ähnlich wie der Bäcker Brötchen backen kann. Jetzt hat er ein "Vorstellungsgespräch" bei einem berüchtigten Gangster und soll einen Computer hacken (oder Brötchen backen)... während er auf Drogen ist, von einer Prostituierten einen geblasen bekommt und einen geladene und entsicherte Waffe an die Schläfe gehalten bekommt. Okay, jetzt wird es spannend. Schafft unser Bäckerjunge unter diesen Umständen seine Brötchen zu backen? Kann er jetzt endlichen seinen wertvollen Brötchenback-Skill anwenden? Jain, denn eigentlich geht es jetzt hier nicht mehr ums Backen. Wenn er scheitert, dann nicht zwangsläufig aufgrund dessen, dass er nicht backen kann, sondern weil der Stress und die Ablenkung zu hoch ist. Ich könnte zumindest jede SL verstehen, die hier nicht auf Backen proben lässt, sondern auf Coolness, Konstitution oder sonst irgendeinen anderen Wert. Selbst bei einem weniger extremen Beispiel, etwa einem sehr "narrativen" Spiel bei dem es um die verzwickte Lage in einer kleinen Inhaber-geführten Bäckerei geht und um die individuellen Probleme und Interaktionen der Charaktere, wird unser kleiner dicklaibiger Azubi an der perfekten Ausführung seiner Brötchenbackkunst doch eher durch seine Unfähigkeit, seine lustvollen Gedanken über die Tochter seines Chefs zu unterdrücken, oder den finanziellen Sorgen aufgrund seiner Star Wars Battlefront 2 Loot-Box Sucht behindert, als durch seinen Mangel an "Skill".
4) Wann wird im Rollenspiel eine Probe gemacht? Die meisten Rollenspiele erklären sehr gut wie eine Probe gemacht wird, aber nur selten wann und warum. Zunächst muss ein Konflikt vorliegen. Dies kann sein "Schaffen wir es die Dörfler vor den Orks zu beschützen?" oder auch "Schaffe ich es mir nicht anmerken zu lassen, dass ich heimlich auf Regina stehe wo ich doch eigentlich mit Sofia zusammen bin?". Wenn es keinen solchen Konflikt gibt, dann braucht man auch keine Probe zu machen. Hat die SL einen solchen Konflikt präsentiert und die Spieler ein Intention und einen Lösungsweg kundgetan, so muss nun abgeschätzt werden wie es weiter geht. Die SL kann zu dem Schluss kommen, dass der Lösungsweg automatisch gelingt oder scheitert, evtl. gar nicht zu der Intention passt oder einfach rein gar nichts mit dem Konflikt zu tun hat. Manchmal gibt es auch Situationen, in denen die Charaktere eine sehr hoch Chance haben zu scheitern aber es beliebig oft versuchen können. In solchen Fällen wird ebenfalls keine Probe fällig. Erst wenn diese Filter alle passiert wurden entscheidet die SL auf welche Eigenschaft eine Probe abgelegt werden muss. Das muss, wie in 3) gesehen aber nicht unbedingt die Alltagsfähigkeit sein.
5) Stell dir mal ein Schlagzeug vor. Jetzt setzt du ein Kind auf den Hocker und gibst dem Kind ein paar Sticks in die Hand. Was wird das Kind tun? Herzlichen Glückwunsch, wenn das Kind in deiner Vorstellung (mehr oder weniger gut) auf dem Schlagzeug getrommelt hat, bist du höchstwahrscheinlich ein Mensch. Das selbe gilt auch für "Alltagsskills" auf Charakterblättern und der SL. "Hm, ja gut, hat wohl schon irgendwie nen Grund, dass das Spiel das als Skill aufführt. Ach komm, mach doch mal ne Probe drauf. Sollst die Punkte ja nicht umsonst dafür investiert haben."
Obacht ! Und dann kommt dabei die Szene, die Issi geschildert hat, heraus. Und das schlimme ist, der Spieler wurde auch noch dazu verleitet einen Glückspunkt auszugeben welcher ihm nachher bei den "richtigen" Konflikten fehlt (natürlich nur unter der Annahme, dass später auch ein richtiger Konflikt auftrat in welcher dem Spieler der Glückspunkt geholfen hätte).
Mein Fazit:
Rollenspielsysteme sind aufgrund ihrer hohen Varianz dazu ungeeignet Alltagsfähigkeiten abzubilden. Der Bereich Alltagsfähigkeiten überdeckt sich zudem sehr oft mit dem Bereich Crafting, welcher in den meisten Rollenspielsystemen schlecht geregelt ist. Spannung kommt in Alltagssituationen meist von "nicht-alltäglichen" Quellen und muss daher auch mit "nicht-alltäglichen" Fähigkeiten gelöst. Die Existenz von Alltagsfähigkeiten in einem Rollenspiel verführt Spieler und Spielleitung dazu schlechte Entscheidungen für ihre Charaktere und das Spiel zu treffen.