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Casting the Runes: Occult Investigation in the World of M.R. James

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Achamanian:
Kann eigentlich jemand mehr zu M.R. James sagen? Der ist bisher immer an mir vorbeigegangen. Ich habe gestern mal die ersten zwei Stories aus seiner "Ghost Stories"-Sammlung gelesen und fand die schon gut erzählt - sie waren allerdings gefühlt an dem Punkt vorbei, an dem ich dachte, dass sie jetzt langsam mal in die Gänge kommen ... motivisch waren da schon ein paar starke Momente drin, letztendlich fand ich aber doch alles sehr betulich und absehbar. Ist das ein Autor, den man in seiner Jugend gelesen und geliebt haben muss (wie ich das auch bei Lovecraft empfinde), damit er einem im Erwachsenenalter noch was gibt? Gibt es herausragende Kurzgeschichten von ihm, mit denen ich es unbedingt mal probieren sollte?

Scimi:
James war Akademiker in einer Zeit, als sich für viele Dozenten und Forscher ihr komplettes Leben an der Hochschule abspielte. Diese Menschen hatten Wohnungen mit Putzdienst auf dem Campus, aßen in der Mensa, sprachen nur mit Fachkollegen und Studenten und hatten selten ein Familienleben oder generell Kontakt zum normalen Alltag außerhalb der Hochschulwelt. Das war im Prinzip eine große WG von Nerds, die den Spaß ihres Lebens daran hatten, gemeinsam und ungestört ihren Interessen und Hobbies nachzugehen. James hat sich mit mittelalterlicher Literatur und Geschichte befasst und sein Hobby war das Schreiben von Geistergeschichten. Die hat er regelmäßig seinem Bekanntenkreis von Mitakademikern vorgelesen und in Sammelbändchen veröffentlicht.

Das Besondere an den Geschichten ist, dass James Elemente moderner und traditioneller Geistergeschichten verbindet. In der Antike und im Mittelalter sind Geister üblicherweise Boten überirdischer Mächte. Ihr Zweck ist es, den Lebenden etwas zu sagen oder ihr Handeln zu beeinflussen. Der Geist ist dabei nur ein Bild, ein Mittel, um diesen Effekt zu erzielen. Moderne Geister sind dagegen Personen mit Motiven und einer Psychologie. Sie vertreten keine kosmische Macht, sondern ihr Erscheinen hat einen persönlichen inneren Grund. James verbindet beide Elemente, seine Geister sind daher oft mystischer und unmenschlicher als die üblichen Gespenster, haben ihren Grund aber meistens in einer Untat oder einer Tragödie ohne Notwendigkeit von göttlicher oder teuflischer Autorität. Das nimmt viele Elemente vorweg, die wir heute aus Horrorfilmen kennen, die ich vielleicht "dämonisch" nennen würde, sowas wie "A Nightmare on Elm Street" oder "Annabelle" oder "The Ring", wo die Bedrohung in menschlichem Leid ohne wichtige religiöse Komponente seinen Anfang nimmt, aber dann die Gestalt eines monströsen Gegners mit nicht abzuschätzenden Fähigkeiten annimmt, der kein Mensch mehr ist.

Dazu kommt der besondere Blickpunkt der James-Geschichten, der der Lebenserfahrung des Autors geschuldet ist. Alle handelnden Charaktere sind entweder Bildungsmenschen oder Hauspersonal, als gäbe es keine anderen Leute auf der Welt. Dabei sind die Personen nicht einmal unbedingt besonders intelligent oder gebildet, aber sie gehören zu einer geekigen, verschrobenen Kultur, die man damals an Universitäten gezüchtet hat. Das sind Protagonisten, die stundenlang durch die Pampa wandern, um sich an irgendwelchen Kirchen zu erfreuen, während sie alle anderen Menschen um sich ignorieren — um dann plötzlich ein ellenlanges Gespräch mit irgendeinem wildfremden Pfarrer oder Küster zu führen, die sie automatisch als gültige Gesprächspartner und Stammesmitglieder akzeptieren. Ich denke, das zeigt viel von der Weltsicht von James und seinen Kollegen und ich finde es immer wieder faszinierend. Und weil James was Leute angeht über etwas schreibt, was ihm gut bekannt ist, wirken die Charaktere und Interaktionen auch ziemlich authentisch.

Ich persönlich mag die Geschichten sehr gern und habe da auch mit jedem neuen Lesen mehr Spaß dran. Aber James' Stil ist nicht besonders mitreißend und spektakulär. Auch mit Konflikten und Bedrohungen ist er teilweise sehr sparsam, manchmal besteht die Haupt"gefahr" des Spuks darin, das geordnete Leben von weltfremden Professoren zu stören. Und bei James' vielen Geschichten gibt natürlich auch einige halbgelungene, obskure, einfallslose Exemplare, die man nicht unbedingt gelesen haben muss. Andererseits ist James extrem gut darin, die Spannung einer Geschichte mit immer neuen kleinen Details und Ereignissen zu halten, wenn man sich auf das Tempo einlassen kann. In Sachen Stimmung und Atmosphäre kann man sich da durchaus eine Scheibe von abschneiden.

Klassische Geschichten von James sind z.B. "Casting the Runes", "Count Magnus", "Oh, Whistle, and I'll Come to You, My Lad", "The Mezzotint". Die verschaffen auf jeden Fall einen guten Eindruck und wer mit denen nicht klarkommt, braucht gar nicht weiter zu lesen, groß etwas anderes kommt da nicht mehr.

Achamanian:
Danke, Scimi!
Ich habe wie gesagt erst die ersten beiden Stories au dem "Ghost Stories"-Sammelband (Canon Alberic's Scrap-Book und Lost Hearts) gelesen und fand bei beiden, dass sie jeweils eine sehr effektive unheimliche Sequenz enthielten, dass aber die diversen Vorzeichen sehr dick aufgetragen waren. Und letztendlich waren für mich beide Geschichten vom Gefühl her vorbei, bevor sie richtig angefangen hatten ...
Allerdings leuchtet es mir ein, dass James ein sehr wichtiger Einfluss auf den modernen Horror ist, gerade, wenn ich mir ansehe, was du zu seinem Geister-Konzept schreibst. Mir ist aufgefallen, dass John Langan, einer meiner modernen Lieblings-Horrorautoren oft mit James verglichen wird.
ich werde mir deine Empfehlungen auf jeden Fall noch ansehen, "Mezzotint" ist sowieso die nächste Story im Band.

Scimi:
Wenn du dazu kommst, würde mich dein Feedback zum Mezzotint interessieren. Ich sage vorher mal nichts dazu…  ^-^

Achamanian:

--- Zitat von: Scimi am 30.10.2019 | 16:49 ---Wenn du dazu kommst, würde mich dein Feedback zum Mezzotint interessieren. Ich sage vorher mal nichts dazu…  ^-^

--- Ende Zitat ---

"Mezzotint" hat sich für mein Gefühl jetzt nicht großartig von den beiden anderen Geschichten, die ich davor gelesen habe, abgehoben.

Auf der Haben-Seite gibt es für mich:
Eine interessante Grundidee.
Gute, atmosphärische Beschreibungen des Mezzotints - insbesondere des Stadiums, in dem die Geistererscheinung sich dem Haus nähert.
Glaubwürdig agierende Protagonisten, die sich für ihre geisterhaften Beobachtungen sofort Zeugen suchen, sie protokollieren und einander schriftlich bestätigen, was sie gesehen haben.
Hier und da schimmert auch ein feiner Humor durch, etwa, wenn in einer Grusel(!)geschichte die Rede davon ist, dass man den das Golf-Fachsimpeln zweier Protagonisten nun wirklich nicht zumuten kann.

Unbefriedigend leider:
Wieder mal ist die Geschichte vorbei, bevor für mein Gefühl wirklich etwas passiert ist. Vielleicht ist das einfach James' Methode, die ich unbefriedigend finde. Besonders die Auflösung des Mysteriums hinter dem Spuk finde ich fast schon lieblos - irgendwer (ich habe nicht mal so richtig kapiert, wer) kommt mit der bestenfalls mäßig unheimlichen Geschichte des Hauses um die Ecke, die in dem Mezzotint reflektiert wird. Und das war's dann.

Letztendlich ist das irgendwie eine nette Kamingeschichte, die gepflegten Grusel andeutet, der die ebenso gepflegte akademische Langeweile für ein halbes Stündchen vertreibt -  aber letztendlich bleibt mir das doch zu dünn ...

Ich bin auch mal gespannt, ob und wie man versucht, diese Art von Geschichten fü's Rollenspiel umzusetzen. Gumshoe passt zwar schon, insofern die Hauptfiguen ermitteln, aber letztendlich folgt aus diesen Ermittlungen bisher nie ein Handeln. Wenn man das mit Lovecraft vergleicht, gibt's bei Letzterem schon ein sehr viel stärkeres Bekenntnis zur Abenteuergeschichte, während ich bei MR James bisher nur Leute sehe, die sich auf keinen Fall jemals in Gefahr begeben würden, um einem Geheimnis auf den Grund zu gehen.
Letztendlich wird man da wohl ein bisschen vom Vorbild wegmüssen und eher für die Art der Schrecken auf es Bezug nehmen als für die Art der Geschichten. Aber das ist bei Lovecraft/Cthulhu ja auch schon ähnlich.

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