Da muss ich aber doch auch wieder einhaken:
Vom Konzept geht es darum, eine Rolle einzunehmen, die du jederzeit ablegen kannst, um Dir selber oder anderen gegenüber deine Empathie mit vermeintlich Schwächeren oder Leidenden zu versichern/vorzuführen.
Dann hatte ich das richtig verstanden - "Misery Tourism" wäre es demnach, wenn man sich selbst "erheben" möchte oder, um es allgemeiner zu formulieren, die Motive unlauter sind.
Aber offen gestanden käme ich gar nicht auf die Idee, meinem Gegenüber so etwas zu unterstellen, denn man kann ja nicht in den Kopf anderer Leute hineinschauen. Wenn mir also mein Gegenüber sagt "Nein, meine Motive waren wie folgt....", dann muss ich ihm das glauben, denn ich habe ja gar keine Möglichkeit, das Gegenteil zu beweisen.
Generell scheint mir da die Abgrenzung gar nicht wirklich möglich zu sein. Ich meine, eine Vielzahl von Geschichten aus diversesten Genres und Medien erzählen von großem Leid, ein paar Beispiele hatte ich im Startpost genannt. Es erscheint mir einigermaßen absurd, den Vorwurf des "Misery Tourism" automatisch an jeden Konsumenten der eines der von mir genannten Bücher oder Filme zu erheben.
Wenn man jetzt mittels des Mediums Rollenspiel entsprechende Genres emuliert und auch damit Geschichten von Leid erzählt, wieso hätte das eine andere Qualität, unterstellt, dass nicht plötzlich die Motivation sich ändert, wenn man das Medium wechselt.
Ich habe in Runden - insbesondere deziderten Drama-Storyrunden - Charaktere gewählt, denen Leid widerfährt oder widerfahren ist.
Hinterbliebene eines Mordopfers. Zu Unrecht Inhaftierte. Gewaltopfer. Kriegsveteranen. Der Grund dafür war nie, sich irgendwie an diesem Elend zu ergötzen oder auch sich dadurch irgendwie empathisch zu fühlen (auch wenn ich in der glücklichen Situation bin, dass mir nichts von diesen Dingen leibhaftig widerfahren ist) - der Grund war immer, einen passenden Protagonisten zum bespielten Genre, zur angedachten Geschichte zu finden.
Und wenn man sich ein paar Stunden intensiv in so eine Situation hineingedacht hat, dann kriegt man auch tatsächlich einen andern Blickwinkel darauf; den leisen Anflug einer Ahnung, wie sich das tatsächlich anfühlt. Im Idealfall hat man durch diese Beschäftigung mit der Ausgangssituation tatsächlich den Hauch des Anflugs einer Ahnung bekommen, wie Menschen in der entsprechenden Situation sich wirklich fühlen.
Aber letztlich geht's nicht darum, wenn, dann ist das ein Nebeneffekt. Es geht darum, eine Genregeschichte zu spielen mit Genreprotagonisten (und -antagpnisten).
Ab wann die Grenze zum "Misery Tourismus" überschritten ist, das kann nur ich entscheiden, niemand sonst. Denn niemand außer mir kennt mein Innenleben und meine Motivation, solche Geschichten und Charaktere zu spielen.
Langer Rede kurzer Sinn:
Glaube, verstanden zu haben was der Begriff "Misery Tourism" bedeutet, halte ihn aber mangels Beleg- und Abgrenzbarkeit für unbrauchbar. Zumindest zur Beschreibung und Kategorisierung; um eine gefühlsmäßig wahrgenommene Geschmacksrichtung eines Spielstils zu beschreiben mag er taugen, aber dafür könnte so ziemlich jeder beliebige Begriff herhalten.
Postscriptum:
Ich höre schon förmlich den Vorwurf "Besserspieler", und möchte dem gleich entsprechend begegnen: Auch ich fälle hier keine Werturteile. Wenn man Geschichten/Genres lieber mag, in denen der Fokus auf anderen Dingen liegt, wenn man andere Aspekte des Mediums Rollenspiel stärker hervorhebt, dann ist das eine absolut legitime und valide Vorliebe. Tue ich übrigens auch - ich spiele derzeit in einer D&D-Runde (Tomb of Annihilation) und leite eine andere (Dragon Heist) und habe an beiden enorm viel Freude.