Medien & Phantastik > Lesen
Evolution der Spielbücher / Choice of Games
Lew:
Seid gegrüßt, Foristen und Foristinnen,
(auch ihr, Floristen!)
in den 90ern war ich in dem Alter, in dem man sich auf Fighting Fantasy-Spielbücher stürzt. »Der Hexenmeister vom flammenden Berg« und so, Ihr wisst schon. Darüber bin ich überhaupt zum Pen-and-Paper-Rollenspiel gekommen.
Aus heutiger Sicht finde ich die meisten der alten Spielbücher verbesserungswürdig: andauerndes Monstermetzeln, keinerlei Charaktertiefgang, keine sich entwickelnden sozialen Beziehungen, Überleben oft reines Würfelglück, magere Story, frustrierende Tode (die quasi zum Schummeln zwingen).
Damit will ich die Leistung der Autoren der 80er-Jahre nicht schmälern. Das Genre überhaupt zu erfinden war eine großartige Leistung, und eine riesige Leserschaft hatte und hat großen Spaß an den Büchern. Ich habe mich nur gefragt, ob es eine Evolution gab seitdem. Und geforscht und gespielt, um das herauszufinden.
Das Ergebnis war erfreulich. Es gibt eine Vielfalt von tollen Fortentwicklungen des Konzeptes, sowohl auf Papier als auch auf Smartphones (die, wie ich finde, eine bessere Plattform für solche Spiele darstellen).
Ein Beispiel für eine gut durchdachte und ausgereifte Modernisierung ist sicherlich »Reiter der schwarzen Sonne«, welche jedoch absichtlich vom Spirit der 80er nicht abweicht.
Aber was ist mit ganz neuen Spielbuch-Konzepten mit mehr Charakterplay? Da Spannendste, was ich da gefunden habe, ist der Publisher Choice of Games LLC, da deren Veröffentlichungen viel näher an Rollenspiel kommen, wie ich es mag (also ein konsequentes anti-Powerplay-Konzept verfolgen). Diese Spiele erscheinen ausschließlich digital.
Hier habe ich eine Liste an Unterschieden notiert, die ich im Vergleich zu klassischen Spielbüchern wie Fighting Fantasy / Einsamer Wolf / … bemerkt habe:
* Es geht viel um ein Beziehungsgeflecht zu diversen Personen / Wesen / Gruppen. Die einzelnen Beziehungen verändern sich andauernd durch die eigenen Handlungen.
* Man kann das Spiel nicht gewinnen oder verlieren, sondern eines von vielen Enden erreichen – was einem dann persönlich zusagt oder nicht.
* Erst im Lauf des Spiels bekommt man eine Idee davon, was für ein Ende man möchte und strebt das dann an.
* Die Charaktereigenschaften bzw. Fähigkeiten werden nicht zu Anfang festgelegt, sondern ergeben sich aus den Handlungen, ohne dass das simpel ersichtlich ist (kein »wenn du dies wählst, gibt das +5 auf jene Fertigkeit«).
* Daraus folgt ein punkteloses Spielgefühl: Es gibt zwar intern irgendwelche Charakterwerte, aber man kennt die nur grob und muss keinen Gedanken daran verwenden.
* Die Szenen des Spiels sind weit weniger räumlich organisiert (als bei bei einem Dungeon Crawler, wo ich jeden Raum als eine Szene bezeichnen würde), sondern zeitlich, mehr wie in einem Roman.
* Es gibt keinen Glücksmechanismus (kein Würfeln). Entweder man hat eine ausreichende Eigenschaft, um etwas zu schaffen, oder halt nicht.
* Generell gibt es kaum die Situation, dass man etwas schafft oder nicht schafft. Eher geht die Geschichte in die eine oder andere Richtung.
* Kein Speichern / Laden / Schummeln.
* Kein Inventory.
* Die Stats-Seite (meist textuell ausgedrückte Werte für Charaktereigenschaften und Beziehungen) kann man anschauen – aber auch komplett ignorieren und trotzdem ohne Nachteile spielen.
Ich schreibe das hier, weil mich Eure Meinungen als erfahrene Rollenspieler und Rollenspielerinnen interessieren. Kennt Ihr die Choice of Games-Spiele? Ist das interessant? Wie könnte man das Konzept Spielbuch noch mehr verbessern – aus Sicht des »richtigen« Rollenspiels? Ist der komplette Mangel an Powerplay cool oder zu viel des Guten? Was haltet Ihr davon?
Herzlichst,
Lew
readyandnot:
Das klingt spannend und auch für mich genau richtig, das sehe ich mir auf alle Fälle an. Danke erstmal für die Empfehlung!
Für alle, die es wie ich gern noch schneller hätten: hier ist die Webseite und die interactive fiction sind, so heißt es dort, auch bei Steam, in den Appstores und beim großen A zu haben.
Mehr dann, sobald ich Zeit damit verbracht habe. Herzliche Grüße inzwischen (schönes Ritual!),
ready¬
Huhn:
Habe das mittlerweile steinalte Choice of the Vampire auf dem Smartphone und habe es bereits mehrfach durchgespielt. Hat immer noch Wiederspielwert, denn ich weiß, dass ich einige Pfade noch gar nicht beschritten habe und mir deswegen sicher noch ein paar interessante Szenen entgangen sind (ich hab noch nicht rausgefunden, wie man seinen Charakter dahin bringt, mit Tieren sprechen zu können oder eine wirklich funktionierende Farm aufzubauen). Auch die verstecken Pfade machen Laune. Hey, einmal hab ich irgendnen Geheimkult aufgetan, weil ich wissen wollte, was passiert, wenn ich meine gesamte Energie darauf vergeude, mich mit einem sonst eher nebensächlichen NSC gutzustellen. Man kann, soweit ich das sehe, quasi unterwegs nicht "scheitern". Es gibt eine ganze Reihe von Enden und keines fühlte sich für mich bislang nach einem falschen an. Alles mögliche Optionen, wo halt die Geschichte hinführen kann, abhängig von den von dir zuvor gewählten Ausgangspunkten und deinen restlichen Entscheidungen. Dadurch lädt mich das Spiel zum mutigen Erkunden ein.
Die Fighting Fantasy Bücher, die ich auch sehr schätze, spiele ich für gewöhnlich nur so lange, bis ich sie "geschafft" habe. Wenn ich einmal das beste Ende erreicht habe, gibt es keinen Grund, die nochmal auszugraben, zumal ich so gut wie alle anderen Storypfade meist vorher auf dem Weg in Sackgassen schon erkundet habe. Lädt auf Dauer zum Schummeln ein, denn ab dem 10. Durchlauf macht es immer weniger Freude, ständig dieselben Szenen durchzublättern und sich an denselben Monstern "abzuwürfeln".
Dass man bei den Choice-of-games die Werte seines Charakters jederzeit einsehen kann und sie den Verlauf des Spiels direkt beeinflussen, eben indem sie deine Handlungsmöglichkeiten erweitern oder einschränken, macht mir total Spaß. Dadurch sehe ich auch konkret, welche Entscheidungen welche Konsequenzen haben und kann den Verlauf des Spiels gezielter lenken. Gerade beim erneuten Spielen find ich das wichtig, damit ich weiß, wie ich den Charakter spielen muss, um einen bestimmten Verlauf zu fokussieren. Trotzdem ist es unvorhersehbar genug und die Entscheidungen sind vielfältig genug, dass ich nicht das Gefühl bekomme, mich einfach nur durchzuklicken.
Jetzt wo ich so schwärme, frage ich mich, warum ich mir eigentlich nicht noch mehr von den Spielen organisiert habe. Das angekündigte "Vampire: The Masquerade — Night Road" scheint ja schon auf mich zu warten ...
Ich muss aber auch sagen - Fighting Fantasy und andere solche sind für mich immer Events. Ich nehme mir die Zeit, bereite das Material vor, koch mir nen schönen Tee und mache dann einen Spieleabend. Das eine Choice-of-game, das ich besitze, war immer als Lückenfüller gedacht. Ich hab sonst keine Spiele auf dem Smartphone und manchmal ist Internet nicht verfügbar. Für solche Fälle habe ich als Notlösung immer dieses Spiel parat, das mich eben mal ne Stunde lang beschäftigt hält. Eventcharakter hatte das für mich nicht und entsprechend niedriger sind möglicherweise auch meine Erwartungen daran.
Megavolt:
Die Choice of Games Sachen kann ich nur empfehlen. Ich versuche ja ohnehin, mehr Aufmerksamkeit für sie zu erregen, zuletzt während unsere Interviews mit dem Soloabenteuermacher Sebastian Thurau.
Nachteile: sie sind auf Englisch / irgendwie kann man die Schriftgröße und Art nicht komfortabel anpassen, was gerade am Desktioprechner blöd ist
Ich pack da immer ein, wenn gerade ein großer Sale ist. Vor allem gibts da ja irre viele!
Es gibt ein Choice of Games Soloabenteuer (ist sogar eine kleine Reihe), bei dem man einen Rechtsanwalt spielt, der Dämonenpakte verhandelt, das fand ich total nett von der Idee her. :)
Lew:
Habt vielen Dank für Eure Gedanken und Erfahrungen zu dem Thema! Die finde ich spannend.
Kurz – für Uneingeweihte – eine Anmerkung zur Benennung der Spiele: Ob man Spielbücher, Gamebooks, Soloabenteuer, Choose-your-own-Adventure oder Interactive Fiction dazu sagt, hängt schlichtweg vom eigenen Background ab und ist, von Nuancen abgesehen, gleichbedeutend.
Ich habe eine spezielle Motivation, um hier Meinungen über Spielbücher zu erfragen, die ich Euch im ersten Post nicht verraten habe. In diesem Post werde ich es aber tun.
--- Zitat von: readyandnot am 21.01.2021 | 15:57 ---Das klingt spannend und auch für mich genau richtig, das sehe ich mir auf alle Fälle an. Danke erstmal für die Empfehlung!
--- Ende Zitat ---
Es freut mich, dass ich Dich auf potentiell schöne Spiele hinweisen konnte. Wenn eines gespielt hast würde ich mich freuen, wenn Du mir verrätst, was man daran hätte besser machen können.
--- Zitat von: Huhn am 22.01.2021 | 09:27 ---Habe das mittlerweile steinalte Choice of the Vampire auf dem Smartphone und habe es bereits mehrfach durchgespielt.
[…]
--- Ende Zitat ---
Danke, Huhn, das sind für mich wertvolle Anekdoten über Deine Spielerfahrung mit Choice of the Vampire. Als wichtigstes Fazit ziehe ich aus Deinem Beitrag: Besonders das Entdecken versteckter Pfade macht Dir Spaß, motiviert auch dadurch, dass man für Experimente nicht mit einem plötzlichen Tod bestraft wird. Das kann ich sehr gut nachvollziehen.
--- Zitat von: Megavolt am 22.01.2021 | 10:22 ---Die Choice of Games Sachen kann ich nur empfehlen. Ich versuche ja ohnehin, mehr Aufmerksamkeit für sie zu erregen, zuletzt während unsere Interviews mit dem Soloabenteuermacher Sebastian Thurau.
--- Ende Zitat ---
Hammercool, das Interview werde ich mir bald anhören.
--- Zitat von: Megavolt am 22.01.2021 | 10:22 ---Nachteile: sie sind auf Englisch
--- Ende Zitat ---
Die Choice of Games-Spiele sind im englischsprachigen Raum sehr populär; zusammengenommen gehen die Downloads in die Millionen. Das finde ich ziemlich krass für solche »Nerd-Nischenspiele« (Zitat von meinen Nichtrollenspielerfreunden).
Allerdings gibt es solche Apps auf Deutsch quasi gar nicht. Nada. Oder kennt Ihr welche? Ich habe im Google Play Store nichts dergleichen gefunden.
Zu meiner Motivation, aufgrund derer ich Euch mit Fragen belästige:
Womöglich ließ es sich schon erahnen – ich schreibe gerade selbst (auf Deutsch) an meinem ersten Spielbuch (vorerst als Android-App). Dabei bin ich noch am Überlegen und Ausprobieren, welche Konzepte am meisten Spaß machen. Momentan bin ich bei einer alchimistischen Mixtur aus 80% Choice of Games und 20% Fighting Fantasy. Stark vereinfacht ausgedrückt.
Leider kenne ich sehr wenig Leute, die solche Spiele mögen. Ich bin aber auf Berichte über Spielerfahrungen angewiesen, um zu lernen, was für Andere toll und was frustrierend ist. Und da ich mich stark an Choice of Games orientieren möchte, habe ich Euch nach Eurer Meinung dazu gefragt.
Navigation
[0] Themen-Index
[#] Nächste Seite
Zur normalen Ansicht wechseln