Zwischenspiel 1
Burg Isenwaid, Garogs Hügel
an den letzten Tagen der Prinzessin
im Jahr 1504 nach Bahamut
Rael blickte zufrieden auf die geschlossene Geheimtür zur Gruft von Burg Isenwaid. Sie hatte in den vergangenen Wochen eng mit dem Mönch Zao an der Wiederherstellung der heiligen Ruhestätte gearbeitet; denn die Gräber waren von einer unbekannten Person - oder Kraft - mit nekrotischer Energie verunreinigt worden. So war die Gruft für ihren neuen Lehnsherren - Saer Anskar Fengrin - unter dem Mond des Richters beinahe zu einer Todesfalle geworden. Nun waren die meisten Grabstätten wieder intakt. Alle konnten leider nicht gerettet werden.
Die Mystikerin der Grünen Göttin warf einen letzten Blick auf die drei Wölfe von Haus Fengrin und schlenderte den Gang zur Bibliothek entlang. Ihre neue Aufgabe bestand darin die Büchersammlung des Rittergeschlechts zu sichten, zu sortieren und zu katalogisieren. Insbesondere die Abteilung „Naturkunde“ hatte aufgrund ihrer Nähe zum Eingang über die Jahrhunderte schwer gelitten. Als Jüngerin Nymias und Vertraute des Druiden Moryn, der Saer Anskar als engster Berater zur Seite stand, empfand sie es als ihre Pflicht sich dem Wissen um Flora und Fauna anzunehmen. Jetzt da die Untoten zerstört und die Grenzen zwischen den Lebenden und den Toten wieder hergestellt waren.
Bevor sie jedoch mit den Manuskripten über die heilenden Kräuter von Garogs Hügeln fortfahren wollte, musste Rael dem nagenden Drang nachgeben mehr über ihren geheimnisvollen Meister in Erfahrung zu bringen. Sein schlichter Name - Moryn - kam ihr eigenartig bekannt vor, obwohl er sich bisher in den Zirkeln Eralions nicht hervorgetan hatte. Nein, die Mystikerin verband den Namen Moryn fest mit den Hügeln die Burg Isenwaid umgaben. Als ihre zierlichen Finger über die Buchrücken der zahlreichen Bände in der gut bestückten Abteilung „Geschichte“ wanderten fiel es ihr plötzlich wieder ein. Auf einer Lichtung nahe dem Dorf Arienh hatte sie zum ersten Mal von einem ungewöhnlichen Jungen namens Moryn gehört. Es war die märchenhafte Geschichte eines Kindes das die Welt der Sterblichen verlassen hatte, um in Faerie - dem Reich der Feen - groß zu werden.
Handelte es sich bei ihrem Meister um jenen Moryn? Er besaß eine enge Verbundenheit mit den Feenwesen, aber das Märchen stammte aus einer Zeit als die Festung der Fengrins noch stolz über Garogs Hügel wachte. Es war damit nahezu vierhundert Jahre alt! Der Druide Moryn war für einen Menschen nicht mehr jung, aber er konnte auf natürlichem Wege unmöglich so alt geworden sein. Vermutlich erfreute sich der Name, gerade wegen dem Kindermärchen, in den Herzlanden Eralions einer gewissen Beliebtheit.
Rael zog dennoch ein paar verstaubte Bücher aus dem uralten Steinregal, bis sie einen beachtlichen Stapel zum kreisrunden Tisch im Zentrum der Bibliothek balancieren musste. Größtenteils handeltes es sich um Gefechtsberichte von Schlachten rund um das Heiligtum der Druiden in Garogs Hügeln, dem Steinkreis von Slagir dem Seher.
Die Firbolg las bis das Öl in ihrer Laterne zur Neige ging. Als die zitternde Flamme schließlich erlosch, bat sie Nymia die Schriften mit ihrem sanften Licht zu enthüllen und der Schwarzen Göttin wieder zu entreißen. So konnte die Mystikerin ihr Studium noch bis in die späten Abendstunden hinein fortsetzen.
Am Tag darauf zwang sich Rael zunächst die schwer beschädigten Folianten über das Kräuterwissen der Gnomenvölker zu sichten. Nach dem Mittagessen kehrte sie jedoch zu den Chroniken von Garogs Hügeln zurück. Gegen Mitternacht drang sie zu einem Bericht über die Schlacht um den Weiler Fion vor. Die Siedlung in den nordwestlichen Hügeln war 1106 n. B. von marodierenden Orks angegriffen worden. Obwohl die Ritter der Nordmark den wilden Kriegern aus Isgard schwer zugesetzt hatten, waren die Bauern von Fion mit ihren Sensen und Mistgabeln keine Gegner für die angeschlagenen Räuber gewesen.
Ein Kundschafter aus dem nahegelegenen Dorf Camran fand in den noch brennenden Ruinen von Fion den einzigen menschlichen Überlebenden der Schlacht: einen Säugling. Er nahm den Jungen mit sich und brachte ihn in den Nymiaschrein seines Dorfes. Die Priesterschaft der Grünen Göttin gab dem Säugling den Namen Moryn.
Endlich hatte sie einen Hinweis auf die wahre Abstammung des Jungen aus dem Märchen gefunden! Wenn der Säugling aus Fion sich letztendlich als das Kind in Faerie herausstellen sollte. Wissbegierig suchte sie alle Aufzeichnungen über Camran zusammen. Und tatsächlich wurde die Mystikerin wieder fündig! Denn in einem Bericht über eine ungewöhnlich blutige Schlacht um das Dorf im Jahre 1108 n. B. konnte Rael nachlesen, dass eine versprengte Gruppe menschlicher Bogenschützen am Ende der Kampfhandlungen mit einer an für sich überlegenen Streitmacht der Orks den Sieg davontragen konnte. Nachdem viele Männer und Frauen, sowie die gesamte Priesterschaft Nymias, bei der Verteidigung von Camran das Leben verloren hatten, wurde der Junge namens Moryn von den heldenhaften Bogenschützen zu den Druiden an Slagirs Steinkreis gebracht.
Die Firbolg hatte gerade aus allen Bereichen der Bibliothek Schriften über das uralte Heiligtum der Grünen Göttin zusammengetragen und sich an dem runden Steintisch niedergelassen, als sie über die Bücher gebeugt einschlief.
Rael träumte durch einen sternengesprenkelten Nachthimmel zu gleiten. Bald zog der volle, rot glühende Mond Tarans an ihr vorüber und sie gewann an Geschwindigkeit. Kurz darauf geriet sie in die nebelhafte Aura des grünen Mondes ihrer Göttin Nymia. Sie bewunderte zahllose Sternenkonstellationen, bis sie plötzlich auf einen grell strahlenden, blauen Vollmond zuflog. Beunruhigt verlor sie sich im hellen Licht Lumaenors und erwachte erschrocken in völliger Dunkelheit. Wie auch schon zuvor bat Rael ihre Göttin die Schriften wieder zu enthüllen, doch es war der Gott des Wissens der ihr Gebet beantwortete und die Bibliothek mit blauem Mondschein beleuchtete.
Die Mystikerin wusste nicht wie lang sie geschlafen hatte. Es kümmerte sie auch nicht. Sie wollte einzig und allein herausfinden, was am Steinkreis von Slagir dem Seher mit Moryn geschehen war.
Wieder war es der Bericht über eine Schlacht, der Rael in einer Fußnote über den Verbleib des Jungen aufklärte.
Eine kleine Orkhorde hatte sich 1109 n. B. nordwestlich des Heiligtums versammelt. Die Druiden der Hügel hatten deshalb Tierboten zu den schwindenden Waldfestungen von Nymias Orden des Grünen Baums, aber auch nach Burg Isenwaid entsandt. So trafen Menschen und Orks erneut in der Ebene unterhalb des Steinkreises aufeinander.
Das Hügelland färbte sich rot vom Blut der edlen Ritter und Ordenskrieger, die Eralion gegen die grausamen Berserker, Menschenjäger und Wolfsreiter der Orkhorde verteidigten. Wieder waren es die Bogenschützen von Camran, die das Kampfgeschehen maßgeblich im Sinne des Drachenkönigs und seiner Truppen beeinflussten.
Auf dem Höhepunkt der Schlacht, als das Heiligtum der Grünen Göttin verloren schien, übergab eine Druidin den Jungen mit dem Namen Moryn an ein beschworenes Feenwesen. Als die Magie jedoch schwand, die den Eladrin nach Avalon gebracht hatte, riss er den Jungen an seiner Hand mit sich zurück nach Faerie, in das Reich seiner Gebieterin! Mehr war dem Bericht nicht zu entnehmen.
Rael hätte erschöpft sein müssen, aber sie war es nicht. Im Gegenteil! Mit dem Gefühl einer Legende zu dienen, fühlte sie sich beflügelt und voller Tatendrang. Die Firbolg hatte mit ihren Nachforschungen nicht alle Zweifel ausräumen können, allerdings mochte sie die Vorstellung dem Jungen aus Faerie nah zu sein.