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[AD&D 2.5E] Von Feuer und Düsternis – Erzählungen aus Euborea

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Jenseher:
Der Schneefall hatte zugenommen und der Tag ging dem Ende zu. Die dunklen Wolken lagen bedrückend über dem Tal. Nebel kroch die Bergwände hinab. Einige der Riesen hatten Fackeln entzündet, die den Platz in ein geisterhaftes Flackern hüllten. Neire zitterte am ganzen Körper vor Kälte. Er konnte sich kaum noch bewegen. Die Fesseln schnitten in seine Hände und seine Füße. Er war vollkommen nackt. Nackt, wie auch die beiden Gestalten neben ihm, die zu Flehen begonnen hatten. Nach seiner Verkündung hatten sie Brennholz aus dem ganzen Dorf herangeholt und zu einem großen Haufen aufgeschichtet. Dann waren hastig drei Pfähle in das Holz gestellt worden. Unter den Schreien von Runa und Osbart, waren die beiden von einigen Orks entkleidet und an die beiden äußeren Pfähle gebunden geworden. Neire hatte selbst seine Kleidung abgelegt, war auf den Haufen geklettert und hatte sich anbinden lassen. Immer wieder sah er die neugierigen Blicke der Menge, die seinen linken, bis zur Schulter schwärzlich verbrannten, Arm betrachteten. Dort funkelten die drei roten Rubine, die Herzsteine, die mit dem Fleisch seiner Schulter verwachsen waren. Auch die Narbe an seinem seitlichen Bauch war zu erkennen. In der Kälte schimmerte sie rötlich. „Bürger von Wiesenbrück. Wir gekommen… für Gottesurteil.“ Die Stimme Königin Huldas schallte über den Platz. Sie sprach mit dem schweren Akzent ihrer riesischen Weise. „Urteil bedeuten Feuer und durch Prüfung muss gehen. Müssen brennen in Feuer, in Reinigung. Gunst der Göttin belohnt Prüfung. Es beginnen.“ Hulda war nähergekommen und warf ihre Fackel auf das Holz. Einige der Riesen taten es ihr nach und begannen zu jubeln. Neben ihm hörte Neire Runa schreien. Ihr Flehen hatte sich in blanken Hass gewandelt. „Ihr seid wahnsinnig Flammenkind, ihr werdet verbrennen. Ist es das, was ihr wollt? Habt ihr das meinem Siguard erzählt? Verflucht sollt ihr sein. Bei allen Höllenteufeln möget ihr in diesem Feuer schmoren.“ Neire lächelte sie an, mit klappernden Zähnen. Dann blickte er verträumt zur Menge. Zuerst konnte er den Rauch riechen, der vom trockenen Holz aufstieg. Dann waren dort die ersten Flammen. Er spürte die wohlige Hitze, die ihn wärmte. Schon nach kurzer Zeit brannte es auf seiner Haut. Die Schmerzen waren fast unerträglich und Tränen liefen an seinen Augen hinab. Neben ihm hörte er jedoch panische Todesschreie. Sie wurden lauter und lauter. Es roch nach verbranntem Fleisch, nach schwelenden Haaren. Die Flammen waren jetzt um ihn und Neire begann die Todesschreie nachzuahmen. Dann vollführte er die Transition der Schreie in den Singsang seiner schlangenhaften Gebete. Er spürte die Schmerzen, sah das helle Feuer. Als die Schreie erstarben, begannen sich seine Fesseln zu lösen. In roten Glutstücken brachen sie auseinander und fielen hinab. Auch die Reste der Leiber von Runa und Osbart sanken in sich zusammen. Die Flammen waren so hell, dass er ihre leblosen Körper nicht mehr sah. Um ihn herum waren die Flammen, ein Zischen und ein Knacken von infernalischer Glut. Verzerrte, ferne Rufe der Menge drangen an ihn heran. Alles war wie in einem Traum. Ein Traum von Feuer und von Schatten im Schnee. Dann stieg Neire durch die Glut hinweg. Er näherte sich der Menge. Er trat heraus aus dem Feuer und Schneeflocken fielen auf seine makellos weiße Haut. Er war das Kind der Flamme – verbrannt mit den Sündern und Blasphemikern auf einem Scheiterhaufen und wiedergeboren in Flamme und Düsternis. Er war ihr Kind, ihr wahrer Prophet. Neire hob seinen linken schwarz-verbrannten Arm und formte seine Hand zu einer Faust. Die Herzsteine in seiner linken Schulter pulsierten rötlich-glühend. In seinen gold-blonden Locken schienen die Flammen noch zu tanzen, seine Augen wie von der Feuersbrunst rot zu leuchten. Seine Worte waren kraftvoll, ein zischelnd-hörbarer Schimmer in eisiger Winternacht. „Sehet den Ruhm der Göttin, den Ruhm von Jiarlirae.“ Und sie riefen ihm zu oder träumte er es nur. Sie frohlockten ihm, riefen ihn als Kind der Flamme an. Sie warfen sich nieder vor ihm in den kalten, dunklen Schnee. Neires Stimme überschlug sich, als er in den warmen Rauch des Feuers und in den schattenhaften Frostnebel blickte, der von den Berghängen kam. Er hatte seinen Namen für diesen Ort gefunden. Er rief der Menge zu: „Der Segen von Jiarlirae wird diesem Ort zu teil werden, der von nun an NEBELGARD heißen soll.“

Sie saßen im wohlig warmen Raum des Gasthauses zum alten Nussbaum. Ein Feuer prasselte im Kamin und erhellte den alten dicken Stamm des Baumes, in dessen Rinde Schnitzereien zu sehen waren. Der Geruch von gebratenem Ziegenfleisch und gerösteten Zwiebeln strömte aus dem Küchenbereich, aus dem sie dumpfe Klänge von Töpfen und Messern hören konnten. Bis auf Eirold, Mordin und Neire war die Halle des Gasthauses leer. Der Wirt, Raimir Gruber, hatte ihnen drei Krüge mit dunklem Bier gebracht und war dann verschwunden. Jetzt saßen sich Neire und Eirold am Tisch gegenüber. Mordin hatte am Feuer Platz genommen und starrte in die Flammen. Neire saß mit dem Rücken zum Kamin und blickte in das Gesicht des Dorfvorstehers. In dem flackernden Licht wurden die Falten des Alters zu Furchen und Schluchten. „Ihr habt weise gehandelt Eirold, doch meine Göttin verlangt die Wahrheit. Sie verlangt die ganze Wahrheit, falls sie auch eure Göttin werden soll.“ Wieder sah Neire die Furcht in den Augen des alten Mannes, dessen Blick wirr im Raum umherglitt. Eirold fing an zu stammeln. „Prophet… natürlich habe ich euch nicht alles erzählt. Wir hatten Probleme nach den Angriffen der Riesen. Seit sie wieder in den Bergen verschwunden sind. Drei Häuser sind vollständig niedergebrannt und es gab Streit über die Unterbringungen. Auch die Schäden der Flut sind noch nicht ganz beseitigt.“ Neire schüttelte den Kopf und sein Blick verfinsterte sich. „Das will ich alles nicht wissen, Eirold. Erzählt es Meister Halbohr, wenn er wieder hier ist. Ich möchte wissen, was ihr vor mir verbergt.“ Beim Namen Halbohr konnte Neire ein kurzes Aufflackern in den Augen von Eirold sehen. Dann blickte der Dorfvorsteher auf den Tisch und blieb stumm. Neire schaute einen Augenblick in das Feuer und konzentrierte sich. Die Flammen änderten langsam ihre Färbung und die Gaststube wurde karmesinrot vor seinen Augen. Er spürte das Pochen auf den Augen, doch es war längst nicht so stark wie einst in der Festung König Isenbuks. Neires Stimme zischelte in einem fremden Singsang. Leise anfangs, doch dann hörbar lauter. „Eirold, solltet ihr einem alten Freund nicht alles erzählen? Die Wahrheit und nur die Wahrheit, wie es sich alte Blutsbrüder versprochen hatten?“ Eirold hob seinen Kopf und in seinen Augen war ein rötlicher Schimmer. „Ja, mein Prophet… ja Neire… einem Freund wie euch kann ich es natürlich anvertrauen. Vor euch brauche ich keine Geheimnisse zu haben.“ Sie beide lächelten sich jetzt an und tranken an ihrem Bier. Dann fuhr Eirold fort. „Es war vor langer Zeit, da ich nach Wiesenbrück… äh… Nebelgard kam. Die Arbeit war hart und das Leben karg, doch nach ein paar Jahren konnte ich mir ein Haus kaufen. Auch nahm ich mir ein Weib. Wedrun war ihr Name. Wir hätten wahrscheinlich wie alle hier Kinder bekommen, wären alt geworden und dann gestorben. Es sollte aber alles anders kommen.“ Wieder hob Eirold seinen Krug, nahm einen tiefen Schluck und wischte sich den Schaum vom Mund. „Es war eines Abends, als ich in den Keller ging, um etwas von unseren Vorräten zu holen. Es war Winter und draußen fegte ein kalter Wind über den hohen Schnee. Es muss bestimmt mehr als zwanzig Jahre her sein.“ Neire unterbrach den alten Mann. „Wann war es Eirold, könnt ihr nicht erinnern?“ Auch Mordin hatte sich vom Feuer zu Neire und Eirold gedreht und lauschte aufmerksam. „Es war… ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Es muss kurz vor der vorletzten Ankunft des Linnerzährn gewesen sein. Es war noch nicht lange Winter und die Gruppe um die Abenteurer war noch nicht eingetroffen.“ Neire unterbrach Eirold wieder. „Niroth, Kara, Wargo, Faere und Adanrik, waren das nicht ihre Namen?“ Eirold nickte zögerlich. „Ja das mag sein. Ich erinnere mich nicht richtig… Nun, naja… ich ging also in den Keller und da sah ich den toten Fuchs. Ich weiß bis heute nicht, wie das Tier dort hinab gekommen war, doch er lag vor einer Wand und hatte im Boden gewühlt. Blut war an seinen Vorderpfoten und an seinem Maul zu sehen. Es sah fast so aus, als ob das Tier wie tollwütig nach etwas gegraben hätte. Ich brachte danach die Vorräte zu meiner Frau, doch in dieser Winternacht stieg ich wieder hinab und begann an zu graben. In den Morgenstunden wurde ich fündig. Ich hatte eine alte Treppe freigelegt, die weiter hinabführte und an einer schwarzen Türe endete. Meine Neugier hatte mich gepackt. Ich öffnete die Tür und fand dahinter eine Treppe die noch tiefer nach unten führte, in ein steinernes Labyrinth. Die Wände schimmerten in einem Schwarz, als ob sie das Licht meiner Lampe aufsaugen würden. Ich stieg hinab und fand weitere Türen. Einige verschlossen, doch andere führten in uralte Räume.“ Jetzt war es Mordin, der Eirold unterbrach. „Was habt ihr gefunden Eirold? Was war es?“ Eirold zuckte auf, als wäre er aus einem Traum erwacht, doch Neire beruhigte ihn. Dann fuhr der Dorfvorsteher fort. „In den nächsten Tagen und Wochen stieg ich immer wieder hinab. Ich studierte alte Schriften, fand seltene Gegenstände, dort verborgen. Dann war es Wedrun, mein törichtes Weib. Sie war mir gefolgt und hatte den Eingang entdeckt. Ich hatte es nicht gemerkt. Als ich am nächsten Tag arbeitete, muss sie wohl hinabgestiegen sein. Ich weiß nicht was sie dort entdeckt hatte, denn ich habe sie seitdem nie wieder gesehen. Voller Kummer widmete ich mich nun vollends dem Studium der alten unterirdischen Ruinen. Aus Wochen wurden Monate und aus Monaten Jahre. Ich lernte die Schrift zu verstehen, die Runen der schwarzen Künste zu lesen. Denn es waren die alten Meister der grauen Rasse, die diese Kerker erbaut hatten. Vielleicht unter ganz Nebelgard. Ich lernte ihre Kunst zu nutzen und verschaffte mir meine Vorteile. Jetzt wisst ihr es, mein Freund. Die ganze Wahrheit. Die schwarze Kunst half mir auf dem Weg zur Macht. So wurde ich Dorfvorsteher von Wiesenbrück… äh, Nebelgard. Die Geister der Bürger sind schwach, wendet man den Zauber nur im richtigen Augenblick an.“ Eirold lachte und jetzt stimmte auch Mordin in das Lachen von Neire ein. Neire trank einen Schluck seines Bieres, bevor er zu Eirold sprach. „Eure Geschichte ist wahr und nach dem Gefallen von Jiarlirae. Habt Dank für eure Ehrlichkeit. Ihr müsst mir zudem später diesen geheimen Eingang zeigen. Wer hätte gedacht, was sich unter Nebelgard verbirgt.“ Die Antwort von Eirold kam augenblicklich. „Natürlich zeige ich euch die unterirdischen Ruinen. Ihr seid Jiarliraes Prophet. Vielleicht seht ihr etwas dort, was ich nicht sehen konnte… Einen Gefallen müsst ihr mir aber tun, mein Freund.“ Neire nickte, als Eirold fragend abwartete. „Die Bürger von Nebelgard haben Angst. Ich glaube nicht, dass ihr es seid oder eure Riesen. Wir wurden überfallen. Sie haben unser Dorf geplündert und einige Einwohner erschlagen oder geraubt. Es war eine Horde von Riesen, doch andere als eure Feuerriesen. Kleiner, doch riesig. Primitiver, dümmer und unorganisiert, doch nicht weniger gefährlich. Wir haben Angst, dass sie zurückkommen und sich holen, was übriggeblieben ist. Das was wir noch haben ist nicht viel.“ Neire hatte ernsthaft zugehört. Jetzt lächelte er. „Ihr steht nun unter Jiarliraes Schutz. Habt keine Angst mehr Eirold. Sagt, wisst ihr wo diese Riesen herkamen?“ Eirold nickte zögerlich. „Ich glaube ja. Ein Jäger erzählte, dass er sie nordwestlich von hier gesehen hätte - vier Tagesreisen. In der Nähe des Halgahorns. Wenn ich mich richtig erinnere, in der Hirinrother Alm am Flüstersee. Doch es gibt keine Alm dort, gab vielleicht auch niemals eine. Die Ammenmärchen erzählen von einer weißen Weide, die dort seit jeher stand. In einer mondlosen Winternacht, sollte ein Blick durch die Zweige des Baumes die Feuer der Sterne offenbaren. Manch einer sprach gar von wilden Träumen, die einem dort widerfuhren. Einst kam ein Sternenkundiger in die Schneeberge und baute dort einen Turm, der Legende nach um die Weide.“ Neire deutete auf die alte Rinde des Nußbaums, die inmitten des Raumes aufragte. „So wie hier, so wie im Gasthaus zum alten Nußbaum?“ Eirold nickte und fuhr fort. „Vielleicht hat es damit etwas auf sich. Vielleicht war der Sternenkundige hier. Vielleicht gehörte er zur grauen Rasse. Ich habe der Geschichte nie richtig geglaubt, denn heute sind nur noch Ruinen am Flüstersee. Sie sind längst überwuchert vom Wald, von der weißen Weide keine Spur. Selbst die Jäger meiden die Gegend um den See, soll sie doch verwunschen sein. Verwunschen, das sagten sie sei…“ Mit einem lauten Krachen flog die Tür zur Küche auf und der Wirt, Raimir Gruber, erschien mit seiner Tochter Edda. Ein Lächeln war in dem Gesicht des Mannes mit den kurzen blonden Haaren, als er zu seiner fast erwachsenen Tochter sprach. „Erzählt ihr wieder eure alten Spukgeschichten, Eirold? Wir stehen unter dem Schutz der Göttin von Feuer und Schatten, da ist mit diesen Schreckensmärchen nichts mehr zu gewinnen.“ Seine Tochter lachte laut und warf ihre langen, blonden Haare zurück. Dann stellten sie die großen Teller mit dem dampfenden Ziegenbraten und den gerösteten Zwiebeln auf ihren Tisch. Auch brachten sie volle Krüge mit schäumendem Bier. Eirold stimmte in das Lachen ein und pries Jiarlirae. Doch Neire blieb diesmal still. Er dachte an die Hirinrother Alm und den Flüstersee. Er stellte sich den Blick durch die weiße Weide in den Sternenhimmel vor und fragte sich, was ein Sternenkundiger dort wohl gesucht hatte. Er fragte sich, ob die Geschichte wahr war und wo die Riesen jetzt ihr Unwesen trieben.

Jenseher:
Neire schnappte nach Luft und taumelte zurück. Die Energie, die er für den neuen Spruch hatte aufbringen müssen, raubte ihm alle Kräfte. Seine Knie zitterten. Dann blickte er auf das schwarze dünne Material, das einst wie dunkles Kristallglas, jetzt durchsichtig war. Das Ne’ilurum war kunstvoll dünn geschmiedet. Es hatte die Höhe eines großen Menschen und war mehr als halb so breit. Der Blick des Jünglings ging durch die Scheibe, in der er seine Silhouette wie ein schwaches Spielbild sah. Viel Zeit war vergangen, seit ihrer Eroberung von Nebelgard. Er war seitdem gewachsen und sein Gesicht hatte einige kindliche Züge abgelegt. Es waren zwei Winter vergangen seit Bargh, Halbohr und Zussa aufgebrochen waren und mittlerweile hatte der Frühling schon ein zweites Mal in diesem Teil der Schneeberge Einzug gehalten. Noch einen Augenblick betrachtete Neire seine Schönheit: Die weiße makellose Haut, die hohe Stirn und die gerade Nase. Seine gold-blonden, vollen Locken fielen ihm weit über seine Schultern hinab. Seine Augen schimmerten bläulich, doch schlangenhaft, vertikal geteilt. Auch seine gespaltene Zunge erinnerte in an sein nebelheimer Erbe. Dann blickte er auf sein jüngstes Werk und durch den Stahl hindurch. Tatsächlich vermochten seine Augen die Schwaden durchdringen, die über dem einstigen Bergdorf lagen. Die Macht seiner schwarzen Kunst, die jetzt im Stahl des seltsamen Erzes der Irrlingsspitze lag, machte es ihm möglich. Dass sein neuer Spruch erfolgreich gewirkt hatte, erfüllte ihn mit einem jauchzenden Glücksgefühl. Seine Kraft kehrte bereits zurück. Doch was er dort betrachtete, übertraf für einen Moment seine Erwartungen. Durch das Fenster konnte er in die Ferne blicken. Es war ein sonniger Tag und er sah die schneebedeckten Gipfel aufragen, die das Tal umgaben. In der Ferne thronte die steile weiß-glitzernde Pyramide der Irrlingsspitze über allen anderen Bergen. Er ließ seinen Blick in nächste Nähe hinabgleiten und sah unter ihm Nebelgard liegen. Das Dorf hatte sich geändert, seit sie es vor zwei Wintern erobert hatten. Neue größere Häuser waren entstanden und der Deich, der den Ort vor den Wassern der Fireldra schützte, war mit einer Stadtmauer erweitert worden. Er sah auf den matschigen Straßen Gestalten, die ihren Geschäften nachgingen. Rauch stieg aus vielen Schornsteinen auf. Auf der anderen Seite des Flusses und jenseits der Fireldrabrücke, hatte sich eine kleine Barackenstadt angesammelt in der die Flüchtlinge lebten, die aus den umliegenden Landen nach Nebelgard gekommen waren. Es handelte sich um arme, ausgestoßene oder zwielichtige Menschen, von denen einige in Acht und Bann standen. Sie hatten diese Hütten erbaut, arbeiteten auf den Baustellen von Nebelgard und hofften auf ein besseres Leben. Sie hofften auf den Reichtum und den Ruhm, der durch den Segen Jiarliraes kam, sollten sie auch als Henker, Soldaten, Huren, Waschweiber, Diebe, Spione oder Tagelöhner arbeiten. Sie träumten von einem Leben im Tempel oder vom Wissen schwarzer Kunst, denn sie hatten die Geschichten gehört, die man sich über Nebelgard erzählte. Es waren diese Geschichten an die Neire gerade dachte, als ein Lächeln über sein Gesicht huschte. Es waren die Geschichten, die er sich von den Spähern gerne und immer wieder erzählen ließ. Sie berichteten von einer dunklen Stadt, die Tag und Nacht und in jeder Jahreszeit unter einer dunstigen Glocke von Nebel lag. Man erzählte sich, dass das Feuer gewaltiger Essen der Unterberge und das Tauwasser von Bergschnee den Nebel schufen. In dieser Stadt sollte man schnellen Reichtum erlangen können, doch in einem weiteren Satz wurde dann gewarnt vor den dunklen Machenschaften, die dort im Gange waren. Besonders der letzte Teil der Legenden interessierte Neire. Es wurde berichtet von einer Bergfeste die im Bau war, von Riesen des Feuers, die die Errichtung der Zitadelle vorantrieben. Die Geschichten begannen fast immer mit Meister Halbohr, der als hinterlistiger Verräter und grausamer Heerführer die Stadt beherrschte. Sie endeten meist mit der Legende des Propheten, dem Kind der Flamme. Es wurde erzählt von einer Göttin, deren Geheimnisse in Flamme und Düsternis offenbart werden sollten. Es wurde berichtet vom Kind der Flamme, das mit Sündern auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden war und doch wiedergeboren und schöner als je zuvor aus des Feuers Brunst stieg. Neire liebte diesen Teil der Geschichte. Doch er verwarf die Gedanken. Jetzt war er stolz auf das Erreichte. Auf die Wirkung seines neuen Zaubers und auf das sehende Fenster aus Ne’ilurum. Er wollte weitere Fenster folgen lassen, um den Nebel der Stadt in jede Richtung zu durchblicken. Der Gedanke holte ihn in das hier und jetzt zurück. Er hatte so viele Dinge, denen er nachgehen wollte. Er liebte es sich im sich im Turm der Schatten aufzuhalten. Das Gebäude war inmitten von Nebelgard errichtet worden. Sie hatten dafür das Fundament das Haus von Eirold Mittelberg abgerissen. Die Nachtzwerge unter Granrig Hellengrub hatten den Turm aus Steinen geplant, die die Reste von Ne’ilurum in sich trugen. Das fünfeckige Gebäude überragte ganz Nebelgard und barg in den Tiefen die Geheimnisse der grauen Rasse der Elfen. Doch der Turm war erst vor kurzem fertiggestellt worden. Eirold war Neire treu ergeben und wachte über die niederen Geschosse. Die oberen Ebenen gehörten Neire. Hier rief er seine engsten Vertrauten zusammen und hatte Laboratorien jenseits des Tempels des Jensehers. Neire schüttelte den Kopf und trat vom durchsichtigen Ne’ilurum Stahl zurück. Die Kammern des Turmes und die Laboratorien mussten weiter gestaltet werden. Jede Aufgabe schien eine neue nach sich zu ziehen. Jede Forschung an Zaubern erschuf neue Ideen. Neire verstaute seine Zutaten und machte sich auf den Weg hinab. Er musste zurück in den Tempel des Jensehers, wo seine wahren Forschungen warteten.

Ohne den Sonnenschein war die Luft kalt und er sah seinen Atem kondensieren. Er schritt durch den Matsch der Gasse, die bergauf führte. Schlamm und Unrat häufte sich mit nichtgetautem, schwarzem Schnee, der an die Seiten der Häuser geschafft worden war. Der Nebel war dicht und überall. Er trug den Geruch von Feuer und Vergänglichkeit. Nuancen, die sich auf angereicherten Lüften dermaßen intensiviert hatten, dass sie nur noch als beißender Gestank wahrgenommen werden konnten. Neire hatte sich nach dem Verlassen des Schattenturms in eine graue Robe gehüllt, die seinen gesamten Körper und Kopf bedeckten. Er war in Gedanken versunken und dachte an die Vergangenheit und die Zukunft. Als er die Bäckerei passierte, aus deren Hintergasse der Geruch von warmem Brot den Gestank verdrängte, hörte er den einen schmatzenden Schritt im Schlamm, der näher war, als er eigentlich sein sollte. Nach dem Geräusch vernahm er ein weiteres… dann noch eins. Die Schritte kamen näher, doch durch die tiefgezogene Robe konnte er niemanden sehen. Dann drehte er sich um und fasste in das Leere. Sein Herz pochte und er war auf alles vorbereitet. Eine Hand hatte er an seinem Degen. Im Drehen schlug seine Hand gegen einen Widerstand, wie etwas Weiches. Für einen Bruchteil eines Augenschlages konnte er die Umrisse einer Gestalt sehen, die nach seinem Gürtel gegriffen hatte. Der Angreifer fühlte sich ertappt und zog ruckhaft seine Hand zurück. Neire sah, wie sich die Konturen einer bemäntelten Gestalt formten, die nun durch die Hintergasse des Bäckers flüchtete. Augenblicklich lief Neire hinterher, erinnerte sich dann aber an die Worte der schwarzen Kunst. „Erstarre!“ Seine Stimme hatte eine rohe und urtümliche Gewalt in sich. Die Fäden von Flamme und Düsternis waren in das Machtwort verwoben. Neire zeigte mit dem Finger auf die Silhouette und im Licht des offenen Hintereingangs begann sie ihre Richtung zu ändern. Sie wurde langsamer und stieß mit einem Stapel von Mehlsäcken zusammen. Weiterer Staub wurde in die Luft gewirbelt. Der Schlamm war hier weniger und Vordächer zogen sich lang über Hintergasse hinweg. Neire schritt vorsichtig näher und zog seinen Degen aus dunkel glänzendem Ne’ilurum. Die Gestalt schien wie eingefroren, übermannt von seiner schwarzen Kunst. Im Zwielicht waren nicht viel mehr als ihre Umrisse erkennbar. Neire legte den Degen an den Hals der Kreatur, die etwas kleiner als er war. Er flüsterte die Worte, als er die Kapuze der Robe zurückzog. „Wer seid ihr, dass ihr es wagt das Kind der Flamme zu bestehlen?“ Im Nebel erschwerten die aufgewirbelten Mehlpartikel die Sicht, doch er war in der Lage das Gesicht seines Angreifers zu erblicken. Was er sah, erfüllte ihn mit Erstaunen. Ihm gegenüber stand eine zierliche junge Frau, kaum älter als 17 Winter. Sie hatte langes schwarzes Haar und eine schneeweiße Haut. Eine feine Schicht von Mehlstaub hatte sich über ihre vollen roten Lippen gelegt. Ihr hübsches Gesicht besaß einen teilnahmslosen, überlegenen Ausdruck. Dieser Ausdruck schien nicht aufgesetzt, war ihr Gesicht doch unter seiner schwarzen Kunst fast erstarrt. Neire konnte nur sehen, wie sich ihre strahlend-blauen Augen langsam bewegten. Doch da war keine Furcht in ihrem Blick. Sie schien ihn interessiert zu betrachten. Ihre Hände waren in schwarze Handschuhe gehüllt und hatten gerade nach ihrer Waffe, einem Kurzschwert getastet. Neire strich über ihr Gesicht und ihre Lippen. Der Mehlstaub rieselte hinab und die Muskeln ihrer Wange fingen an zu zucken. Sie blieb jedoch stumm. Neire trat näher an sie heran und vernahm ihren süßlichen Geruch von Vanille und Honig. Er öffnete ihre Hand und griff nach dem Schwert, während er zischelnd sprach. „Ich nehme an ihr werdet diese schöne Waffe nicht gebrauchen wollen, wenn ich euch aus der Erstarrung entlasse. Es ist schon verwunderlich, dass ihr mich versucht zu bestehlen und in euren Augen keine Furcht zu sehen ist.“ Neire sprach die Wahrheit, doch er verheimlichte, dass er von ihrer Schönheit und ihrer Anmut verzaubert war. In der Rechten hielt er ihre Klinge, die einen schwarzen Opal am Ende des Griffstücks eingelassen hatte. Der Stahl der Schneide glitzerte silbern in der Düsternis. Mit der Linken, seiner verbrannten Hand, vollzog Neire eine schnelle Geste, als würde er eine Rune in die Luft zeichnen. Er beendete damit seinen Zauber. Langsam kehrte Leben in die Gestalt zurück. Ihre schwarzen Augenbrauen fingen an zu zucken und ihre Lippen begannen sich zu bewegen. Die ersten Worte waren langsam, klangen fast gelähmt. „Ich… ich wusste nicht… Ich wusste nicht wer ihr seid. Verzeiht, Kind der Flamme. Mein Name ist Edda, Edda von Hohenborn. Ich kam nach Nebelgard wegen des Goldes, was man hier verdienen kann. Doch ich wollte euch nicht bestehlen.“ Sie trat einen Schritt zurück und blickte sich um, als würde sie nach Fluchtmöglichkeiten suchen. Als sie von Gold sprach, lächelte Neire und sie erwiderte sein Lächeln. „Oh, eure Hand war dort, wo sie nicht hingehören sollte und ein einfaches Menschlein hätte euch wohl nicht bemerkt, Edda. Ich bin aber kein einfaches Menschlein. Ich bin Neire von Nebelheim, Prophet von Jiarlirae und Herr des Turmes der Schatten. Ihr seid mir jetzt etwas schuldig und ich habe euer schönes Schwert.“ Das Lächeln in ihrem Gesicht erstarb sofort, als Neire seine Forderung stellte. Edda stieß einen Seufzer aus und ließ bewusst übertrieben ihre langen, geschminkten Augenwimpern sinken. Allein ausgelöst durch diese Geste, spürte Neire ein warmes Gefühl durch seine Brust fließen und lächelte erneut, als sie antwortete. „Ich fürchte, ich habe keine Wahl. Doch ich bitte euch mir eines zu versprechen, Neire. Auch wenn ich nicht euer Göttin Jiarlirae diene, will ich nicht auf dem Scheiterhaufen enden.“ Jetzt war es Neire, dessen Miene sich verfinsterte. Er spürte die Wut – oder war es Enttäuschung – als Edda so über seine Göttin sprach. Er spürte, dass er wollte, dass sie Jiarlirae liebte, so wie er es tat. So wie einst Lyriell es getan hatte. Doch je länger er nachdachte, desto schneller verflog die Wut. Sie hatte schließlich Jiarlirae nicht verneint. Neire nickte und sagte: „Gut ihr habt mein Wort. Nun kommt. Ich habe im Tempel des Jensehers einige Dinge zu erledigen und ihr sollt dort eure Aufgabe erhalten.“

Neire und Edda waren der breiteren Gasse gefolgt, die mittlerweile in Serpentinen den Berg hochführte. Die Häuser schienen alle neueren Ursprungs zu sein. Düsterer Nebel und schwebende Asche verdunkelten auch hier das Sonnenlicht und der Matsch der Straße erschwerte das Gehen. Neire war bis jetzt schweigsam hinter Edda gegangen. Die Diebin hatte es nicht gewagt ihm eine Frage zu stellen oder zu sprechen. Sie spürte wohl, dass er ihr Schwert gezogen hatte und es ihr jederzeit in den Rücken stoßen konnte. „So sagt Edda, von woher kommt ihr? Erzählt mir von eurem Weg hierhin. Eurer Reise nach Nebelgard.“ Sie hatten mittlerweile die letzten urigen Häuser passiert, auf deren steinernen Mauern hölzerne Obergeschosse mit mächtigen, runenverzierten Dachgiebeln ruhten. Als Neire die Frage stellte, war nur noch der Nebel um sie herum. Die Geräusche seiner zischelnden Stimme wurden geschluckt von den Schwaden. „Ich komme von weit her. Von einer südlichen Insel. Dort liegt eine Stadt, die Vintersvakt genannt wird.“ Neire antwortete sofort. „Winter im tiefen Süden? Ich habe von der Wärme des Südens gelesen. Wieso dieser Name Edda?“ Sie drehte sich um und lachte auf, bevor sie weiter fortfuhr. „Es ist warm in Vintersvakt, oh ja. Es ist sehr warm. Doch die Stadt liegt an einem hohen Berg, der seit jeher eine weiße Spitze trägt. Man sagt der Schnee besänftigt das Feuer, das im Inneren des Berges tobt. Nur der weiße Rauch über der Spitze zeugt noch von diesem Feuer. Man sagt, seit der Ankunft der ersten meiner Vorfahren ist die Kuppe weiß gepudert. Seitdem wachen die heiligen Männer des Frostviggier über Vintersvakt. Dort oben, von ihrem Tempel im ewigen Schnee. Sollten sie einst nicht mehr dort wachen, so sagt man, wird das Feuer wieder ausbrechen und Vintersvakt zerstören.“ Neire spürte, dass er die heiligen Priester des ihm fremden Gottes nicht mochte. Er malte sich aus, wie sie versuchten das Feuer mittels Eis zu kontrollieren; wie sie die fortwährende Veränderung einfroren, um sie an ihre Gesetze zu binden. Er lachte auf. „Ha… eine Geschichte, die man vielleicht kleinen Mädchen erzählt. Seid ihr so aufgewachsen? Habt ihr den Geschichten der Frostviggier Diener gelauscht?“ Edda drehte abermals ihren Kopf zu ihm und rollte gelangweilt ihre Augen. „Andere Mädchen? Vielleicht ja. Ich hatte einen Vater der nie Zuhause war und meine Mutter starb bei meiner Geburt. Also spielte ich mit meinem Schwertmeister und er lehrte mich den Gesang der Klinge, die ihr nun für mich tragt. Als ich älter war, wurde ich dann von meinem Vater in die östlichen Küstenlande geschickt, um dort in einem unserer Schlösser zu leben. Burg Sturmhort am Ostend. Irgendwann wurde mir jedoch langweilig und ich kehrte von einem meiner Ritte nicht zurück. So kam ich nach Nebelgard, von dem ich einige Gerüchte gehört hatte.“ Neire ließ Edda ausreden, spürte aber, dass sie in Teilen log. Für heute wollte er es bei der Geschichte belassen, doch er würde sie wieder fragen. Die fernen Lande und Geschichten von Vintersvakt hatten sein Interesse geweckt. Mittlerweile waren Neire und Edda an das Ende der Straße gelangt. Nebelgard lag irgendwo hinter ihnen, verborgen in den dichten Schwaden. Hier oben war der Dunst lichter und sie sahen vor sich die Mauern aus gewaltigen schwarzen Steinquadern. Der Weg führte über eine provisorische Holzbrücke und überall ragten hölzerne Gerüste auf. Gedämpft klangen die Geräusche von Spitzhacken, Hämmern und Meißeln zu ihnen heran. Sie durchquerten die Burgmauern und kamen vorbei an Arbeitern. Menschen, Nachtzwerge und muskulöse Orks schufteten auf der Baustelle. Ab und an sahen sie schemenhaft die Gestalt eines Riesen gewaltige Steinquader schleppen. Die oberen Körperteile verschwanden unscharf im Nebel, so groß waren die schwarzen Körper der Feuerriesen. Dann durchquerten sie die Hallen eines fast fertiggestellten Hauptgebäudes. Als sie in den fackelerhellten Tunnel blickten, der in das Innere des Berges führte überholte Neire Edda und verbeugte sich gespielt elegant vor ihr. „Willkommen Edda im Reich von Flamme und Düsternis, willkommen im Tempel des Jensehers.“

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