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[AD&D 2.5E] Von Feuer und Düsternis – Erzählungen aus Euborea
Jenseher:
Die Hitze über den Öfen flimmerte. Der rötliche Feuerschein flutete die Halle. Wellenförmig strömte der Schmerz durch Neires Kopf, der von seinen Augen kam. Dann begann der gesamte Raum in Purpur zu explodieren. Der junge Priester entfesselte die Magie der Linsen des Jensehers und spürte seine Kraft in den Geist Oordrins eindringen. Zuvor war der Verwalter mit einem Säckchen von Edelsteinen zurückgekehrt, das er bereits an Heergren übergeben hatte. Jetzt lächelte der Mann mit den hellblonden Haaren und den grünen Augen Neire an. „Ihr seid ein wahrer Freund Oordrin. Ihr habt den Nachtzwerg bezahlt, für uns. Nicht viele würden dies tun.“ Oordrins Lächeln zog sich über beide Backen, als er antwortete. „Ja, Freund Dödnar. Alle sind hier willkommen. Sie lachen und sie weinen. Sie essen und trinken um zu leben. Und unsere Sonne lässt Getreide und Früchte wachsen. Sie spendet Leben und Liebe für alle, die hier Zuflucht suchen.“ Neire legte jetzt seinen Kopf schief. Die Schmerzen hatten nachgelassen. Er flüsterte zischelnd, in seinem Nebelheimer Singsang. „Was ist euer dunkles Geheimnis, Oordrin? Nur ein Narr füttert Pöbel und Abschaum, wie ihr es tut.“ Zu Neires Erstaunen, nickte der Verwalter. „Die Rohstoffe sind ein Geschenk unserer immerwährenden Sonne. Sie bringen die Bewohner von Dreistadt näher zur ihr und uns damit zu ihm. Er ist die Sonne in der Leere. Wir dienen ihm. Er ist der einzige Gott. Alles wird durch ihn vergehen.“ Das Gespräch inmitten des Turmes wechselte nun zwischen Neires Fragen und Oordrins Antworten. „Euer Gott ist die Sonne?“ Oordrin schüttelte den Kopf. „Nein mein Freund. Unser Gott ist die Sonne der Sonnen, die in der Mitte der Leere steht. Er ist kurz davor, alles zu verschlingen. Er ist die Reinheit der Energie, die Macht, die einst über alle Sterne und Welten fallen wird.“ Neire unterbrach Oordrin. „Er wird also am Ende alles zerstören?“ Wieder schüttelte Oordrin den Kopf. „So ist es nicht, mein Freund. Ihr habt es noch nicht verstanden. Aus seiner Zerstörung wird Stärkeres kommen. Doch alles wird anders sein. Auch die Sonne aller Sonnen wird stärker sein.“ Neire nickte und fragte. „Und die Einwohner von Dreistadt? Werden sie vernichtet werden, wenn sie sich vollgefressen haben?“ Oordrin schüttelte ein drittes Mal seinen Kopf. „Sie nehmen seine Essenz auf, denn als Sonne gewährt er ihnen die Nahrung. Sie sehnen sich nach ihm und sie dienen ihm als Nahrung. Denn er thront als Sonne aller Sonnen in der Leere. Und er braucht Nahrung.“ Neire hatte noch nicht erkannt, für wen oder was Oordrin stand. Er fragte: „Gibt es einen heiligen Ort, an dem man eurer Sonne besonders nah ist? So etwas wie ein Heiligtum?“ Jetzt wiegte Oordrin seinen Kopf hin und her. „Nein und ja. Unsere Sonne ist überall. Doch es gibt einen Ort. Dort sind wir ihm näher. Es ist die Adlerfeste, die wir um jeden Preis verteidigen müssen.“ Neire sprach hastig. „Die Kriegerin, die wir eben sahen. Ist sie eures Glaubens? Befiehlt sie eure Truppen?“ Wieder schüttelte Oordrin den Kopf. „Ihr meint Amria? Sie ist nicht eingeweiht in unsere Lehren und nur zweite in der Hierarchie. Der Kommandant der Adlerfeste ist Ulf Kalthand. Auch er gehört nicht zu den Erleuchteten. Es sind nur Krieger, die uns vor den Angriffen der Riesen schützen sollen.“ Neire nickte. „Sie sind keine Erleuchteten, wie ihr es seid Oordrin. Sie kennen wahrscheinlich nicht einmal den Namen eures Gottes. Wie heißt er, euer Gott?“ Oordrin grinste schäbig, als er antwortete. „So ist es, mein Freund. Sie sind nicht erleuchtet. Aber unser Gott hat viele Namen. Manche nennen ihn Unbändiges Chaos, andere den Verrückten oder die immerwährende Explosion. Er war stets existent, kennt kein Alter. Seinen mächtigen und verborgenen Namen kennen nur die wenigsten. Doch ich werde ihn euch anvertrauen, mein Freund. Sein Name ist Azathoth, die Sonne in der Leere.“
Edda trat in das Gemach des kleineren Turmes ein. Sie hörte viele Schnarchgeräusche, aber auch gedämpfte Stimmen. Das Kichern von Kindern, vereinzelte Rufe und Beschimpfungen. In dem Gemach war der Geruch von Schweiß und abgestandener Luft. In einer Ecke spielten Kinder mit einer Puppe, die von Schnüren gehalten wurde. Sie dachte zurück an das Gespräch, das Neire mit dem Verwalter gehalten hatte. Oordrin hatte an Neires Lippen gehangen und ihm alle seine Geheimnisse erzählt, während das arbeitssame Treiben im Turm unbeeinflusst weitergegangen war. Oordrin hatte berichtet, dass er der einzige Erleuchtete in Dreistadt wäre, doch seine Brüder und Schwestern sich unter der Adlerfeste verbergen würden. Er hatte davon erzählt, dass die Adlerfeste bereits von Riesen angegriffen worden war, aber sie nicht verstanden wieso. Aus irgendeinem Grund hatten die Riesen den Ort wohl als Ziel auserkoren. Oordrin hatte auch seine Sorgen über die Angriffe der Riesen geäußert. Er sah seine Bürger in Gefahr, in die sie bereits eine Saat der Sonne Azathoths eingepflanzt hatten. Die Spuren der Riesen führten wohl in den westlichen Teil des Schildes. Eine Region, die nördlich der Ruinen von Zyantorm lag. Oordrin wusste aber nicht, wo sich die Riesen genau befanden. Bekannt war ihm nur, dass ein neuer Anführer mit dem Namen Horknar die Riesen um sich gesammelt hatte. Berichten nach, war der Anführer wohl nicht von der Rasse der Hügelriesen. Oordrin war sich nicht sicher, doch er glaubte, dass Horknar sich von den Hügelriesen als Halbgott anbeten ließ. Der Verwalter hatte Neire auf die Frage, ob die Tempelinsel ein Teil ihres Heiligtums wäre, das vielleicht größte Geheimnis erzählt. Die Bewohner, die wohl genügend der Sonnensaat Azathoths in sich hineingefressen hatten, wurden zuerst auf die Tempelinsel gebracht. Dort, aber vielleicht auch früher, fielen sie in einen tiefen Schlaf. Sie wurden dann in Kisten gepackt und des nachts mit Booten über den Fluss in Richtung der Adlerfeste verschifft. In den Tiefen unter der Adlerfeste wurden sie dann an die Sonne unter den Sonnen verfüttert. Oordrin hatte von diesem Schicksal gesprochen. Dass es eine Wohltat für diese armen Geister wäre. Zuletzt hatte er von seinen Glaubensbrüdern erzählt, die unter der Adlerfeste Wache hielten. Sie sangen dort ihren Reigen, damit ihr Gott nicht zu früh aus seinem Schlaf gerissen würde – was auch immer das bedeuten sollte. Edda verdrängte die Gedanken an das lange Gespräch und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. Sie sollte Angnar und Baldwin Bescheid geben und sie zu einem Essen mit dem Verwalter einladen. Sie fand Baldwin, der dort schlief und zog an seiner Kleidung. „Baldwin, wacht auf. Ich bin es.“ Langsam öffnete der junge Mann seine Augen und lächelte verwundert. „Ihr seid zu mir zurückgekommen, edle Dame.“ Edda nickte und erwiderte das Lächeln. „Ja, der Verwalter hat uns zu einem Essen eingeladen. Ihr und Angnar sollt daran teilnehmen.“ Baldwins Lächeln wich jetzt einer Enttäuschung. „Aber… ich dachte… nur das Fräulein und ich.“ Edda lachte wieder und antwortete. „Ihr solltet die Einladung nicht ausschlagen. Und wir können ja nachher einen Spaziergang an den Klippen machen. Nur wir beide.“ Baldwin nickte freudig und stand ruckhaft auf. Er benötigte aber noch einiges an Überzeugungsarbeit, um Angnar zu einem Mitkommen zu bewegen. Doch er flüsterte dem missmutigen Karrenzieher die Geschichte von ihrem Spaziergang zu. Er forderte Angnar auf, ihn jetzt nicht im Stich zu lassen. Schließlich hatten sich beide fertiggemacht und Edda kehrte mit ihnen in den Hauptturm zurück. Sie sah, dass das arbeitssame Treiben wie zuvor fortgeführt wurde. Auch aus einem Keller und dem oberen Geschoss hörte sie Stimmen, Rufe und Geräusche von Küchenwerkzeug. Als sie den Turm betreten hatten, nickte Neire Oordrin zu, der nun einen Befehl aussprach. „Ihr dort, macht die Türen zu und schließt sie ab.“ Die beiden Arbeiter folgten dem Befehl und bewegten sich auf die beiden großen doppelflügeligen Eingangsportale zu. Während sie die Türen schlossen, wendete sich Neire den beiden jungen Arbeitern zu, die Edda mitgebracht hatte. Der jugendliche Priester betrachtete Baldwin, der wiederum nur Augen für Edda hatte. „Ah, die beiden Karrenzieher. Habt ihr euch vorbereitet auf das späte Essen, das ihr mit uns genießen wollt?“ Zischelte Neire mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. Immer wieder schaute er auch Edda an. Edda antwortete für Baldwin. „Sie freuen sich sehr auf ein Essen mit dem Verwalter. Baldwin und ich wollen nachher einen Morgenspaziergang an den Klippen von Dreistadt machen.“ Neire schaute zuerst Edda an, dann verwandelte sich sein Gesicht in ein Lächeln und er zeigte seine perfekten Zähne. „Oh, ihr wollt nach dem Essen einen kleinen Spaziergang machen? Ich habe gehört, dass der Küstennebel von Dreistadt besonders in den Morgenstunden zu genießen sei. Nehmt eine tiefe Brise davon, wenn es euch genehm ist. Füllt eure Lungen, denn es wird euch guttun, kleines Menschlein. Als Saat müsst ihr dann nur noch in der Sonne unter den Sonnen aufgehen, um den Erleuchteten zu dienen.“ Er zwinkerte dabei dem Verwalter zu, der noch immer bei ihnen stand. Oordrin nickte, aber ihm war ein unwohler Ausdruck anzumerken. „Ihr beide wartet hier. Oordrin, wir haben zwar euren Keller gesehen, aber ihr müsst uns noch zeigen, was ihr oben habt.“ Neire winkte Edda und Heergren heran, ihr zu folgen. Edda spürte den fordernden Blick, den ihr Liebhaber ihr zuwarf. Sie fragte sich ob es immer noch die Eifersucht war, die Neire in der Szene nach dem Gasthaus gezeigt hatte. Er musste doch wissen, dass ihr Liebäugeln mit Baldwin nur aufgesetzt war und sie den einfachen Karrenzieher bei der nächsten Gelegenheit getötet und von den Klippen gestoßen hätte.
Vor der Treppe blieb Neire stehen und bat Oordrin, Heergren und sie vorzugehen. Dann spürte sie, dass es losging. „Glaubt mir Oordrin, ich kenne die Leere. Sie ist voller Nebel. Vielleicht kann eure Sonne sie verdrängen, vielleicht verdrängt sie aber auch euch.“ Mit diesen Worten begann der Prophet des Tempels des Jensehers an zu murmeln, als er eine Rune in die Luft zeichnete. Edda konnte den beißenden Geruch von Chlor riechen, der sich um den Propheten Jiarliraes ausbreitete. Sie drehte sich um und sah die grünen Schwaden, die Neires schwarze Magie beschwor. Der Strom von dickem Nebel ging aus Neires Fingern hinfort. Die Wolke von giftigem Gas drang in den Raum hinein und erreichte rasch die ersten Arbeiter. Edda war sich nicht sicher, ob sie jemals etwas Grauenvolleres gesehen hatte. Vielleicht damals im Dschungel, ja… aber diese Erfahrungen hatte sie fast verdrängt. Außerdem war sie jünger gewesen. Vor ihren Augen begann sich die Haut der Menschen zu zersetzen. Einige husteten Blut, andere hatten roten Schaum vor dem Mund. Sie sah Arbeiter, die sich zu kratzen begannen. Es war als ob der giftige Nebel ihr Fleisch hätte schmelzen lassen. So kratzten sie sich große Stücke Haut aus ihren Gesichtern. Sie sah Augen zerfließen und Haarbüschel, die die Arbeiter sich in ihrem Wahn vom Kopf rissen. Alle versuchten in einer Panik zu atmen. Doch da war nur der Tod, der auf sie zu walzte. „Edle Dame, bringt euch in Sicherheit. Ich werde euch…“ Sie hörte die Stimme von Baldwin und sah noch das Gesicht des Karrenziehers, mit den kurzen blonden Haaren. Der junge Mann stürmte todesmutig durch die Wolke auf sie zu. Edda konnte sich das Lächeln nicht verkneifen, doch sie befürchtete, dass es Baldwin bis zu ihr schaffen würde. Sie zog ihr Kurzschwert und sie wusste, dass sie ihn töten würde. Sie hoffte nur, er würde sie nicht mit seinen Körpersäften besudeln. Baldwin sackte jedoch ohne einen Schmerzschrei irgendwo in den grünen Schwaden zusammen. „Der Verwalter, Heergren, Edda, jetzt.“ Kurz und eindringlich waren Neires Worte, die Eddas Betrachtung unterbrachen. Sie drehte sich um und griff augenblicklich Oordrin an. Sie stand hinter dem Verwalter und ihre Klinge drang tief in Oordrins Lunge. Auch Heergren und Neire hackten und stachen auf die Gestalt ein. Doch obwohl der Verwalter nicht vorbereitet war, waren ihre Angriffe nicht tödlich. In Oordrins Augen wuchs die Erkenntnis, dass er betrogen worden war. Die Freundschaft zu Neire verwandelte sich in Hass und er griff in eine seiner Taschen. Es war Heergren, der schneller war. Der Nachtzwerg rammte seine Axt zwischen die Rippen des Verwalters und Oordrins Augen wurden glasig, als er zu Boden sank. „Schlagt ihm den Kopf ab Heergren… Edda und ich gehen nach oben.“ Edda sah den Nachtzwerg nicken und sie folgte Neire. Schon nach einigen Treppenstufen stürzten ihnen die ersten Arbeiter von oben entgegen, denen Furcht in den Augen stand. Die Bürger blickten an ihnen vorbei, in die Halle, die mit Leichen gepflastert war und in der der grüne Nebel waberte. Noch immer hörten sie Todesschreie. Die Wolke hatte sich weiterbewegt und floss auch über die Kellertreppe hinab. „Wir brauchen hier Hilfe. Helft ihnen, bei allen gütigen Göttern!“ Der Mann mit dem roten, pausbackigen Gesicht und der Halbglatze schaute sie verzweifelt an. Eine dicke, mittelalte Frau mit fahler, blasser Haut und schwarzen Haaren schrie panisch. „Was ist hier passiert, wo sind die Wachen?“ Neire war vor Edda und schritt auf die Menschen zu. Der Jüngling beruhigte die Arbeiter. „Bringt euch in Sicherheit Arbeiter. Irgendetwas Böses ist hier eingedrungen und hat Oordrin getötet.“ In ihrer Panik konnten die Arbeiter Neires Worte kaum verstehen. Dann stürzten sie an ihnen vorbei. Was folgte war ein Blutbad. Edda schritt hinter Neire und sie tötete jeden, der es schaffte an Neire vorbeizuschlüpfen. Ihr altes Schwert aus Vintersvakt drang tief in weiche Leiber, durchschnitt Fettmassen und Muskeln. Ein jeder Treffer war gezielt und tödlich. Blut besudelte sie und auch Neire. So drangen sie schließlich in das Turmgemach vor. Dort sahen sie Glutöfen und Spieße von Fleisch und Fischen. Der Geruch von Holzkohle und Gebratenem drang ihnen entgegen. Bis auf einen Mann war der Raum leer. Der letzte Arbeiter war so groß wie Neire, doch viel schwerer. Er trug eine Lederschürze, die von Blut besudelt war. Er hatte kurzes, schütteres schwarzes Haar und eine blasse Haut. In seinen zitternden, fleischigen Fingern hielt er ein Schlachterbeil. Panik stand dem Mann in den Augen und er stürmte auf Neire zu. In seiner Todesangst versuchte er Neire umzurennen. Edda duckte sich geschickt zur Seite hinweg, als der Schlachter mit Neire zusammenprallte. Neire wurde unsanft auf den Boden geschmettert. Als Edda zustechen wollte, sah sie, dass Neires Degen bereits das Herz durchbohrt hatte. Der massige Körper bedeckte jedoch Neire, der keuchend unter dem toten Mann lag. Ein Strom von Blut floss aus dem fleischigen Leib auf Neire hinab. „Edda, helft mir bitte und schafft ihn runter“, keuchte der Jüngling, dessen gold-blonde Locken von Blut besudelt waren. Edda trat heran und begann den Leichnam mit ihrem Stiefel wegzudrücken. Sie sprach lächelnd zu Neire. Adrenalin und Kampfrausch spielten mit Gefühlen. „Natürlich mein Liebling. Nur solltet ihr beim nächsten Mal nicht so eifersüchtig sein. Was glaubt ihr, hätte ich denn mit dem Tölpel eines Karrenziehers gemacht? Was glaubt ihr, wozu sich romantische Spaziergänge an Klippen besonders gut eignen?“
Jenseher:
Wellen rauschten an den Sandstand. Der Wind blies ihnen eine kühle, salzige Brise entgegen. Das Morgengrauen deutete sich an und ließ die Brandung dunkel schimmern. Neire, Edda und Heergren benötigten einen Augenblick um sich zu orientieren. Dann war die leise, zischelnde Stimme Neires zu hören. „Kommt! Wir befinden uns auf der einstigen Tempelinsel von Torm. Lasst uns einen Schlafplatz finden, wo wir den Tag verbringen können.“ Edda nickte freudig und schaute auf das Meer. Auch Heergren war beeindruckt vom Ausblick der schier unendlichen Weite. Ihre Empfindungen standen im Kontrast zu den Erlebnissen in Dreistadt: Die Todesschreie, der Geruch von Chlor und der Gestank von verätzten Leichen. Sie hatten zuvor die Wertgegenstände und den Kopf Oordrins eingesammelt. Nachdem Neire und Edda Geräusche und Stimmen von den Eingangstüren gehört hatten, hatten sie sich auf die Treppe zurückgezogen. „Irgendetwas ist dort… Ich höre Schreie,“ hatte eine Stimme gerufen. Eine andere hatte geantwortet: „Die Türen sind abgeschlossen. Brecht sie auf, wir müssen hinein.“ Als sie die dumpfen Schläge gegen das Holz vernommen hatten, war Neire zu ihnen geschritten. Er hatte hastig angeraten Dreistadt zu verlassen. Neire hatte dann seine schwarze Kunst gewirkt. Langsam hatten sie sich in Schleier von Schatten aufgelöst – waren verschluckt worden von Düsternis. Sie waren dann an dem Sandstrand erschienen, an dem Neire und Bargh vor fast zweieinhalb Jahren mit dem Boot des getöteten Fischers gelandet waren. Wasser hatte ihre Füße umspült. Jetzt schritten sie dem Uferwald entgegen, dessen Blätterkronen sich in den Windböen wiegten. Über den Wipfeln sahen sie die dunklen Felswände des Vulkans und darüber den Sternenhimmel. Sie traten in das Küstengehölz und suchten sich einen geschützten Platz für ihre Ruhe. Heergren spannte seine Lederplane und Edda und Neire rollen ihre Decken aus. Bevor sie sich zur Ruhe begaben, säuberten sie alle ihre Kleidung vom Blut. Neire und Edda nahmen zudem ein Bad im Meer. Dann errichtete Neire seine Fackeln um den abgehackten Kopf von Oordrin. Der Prophet Jiarliraes begab sich in einen Kniesitz im Fackelkreis und begann zu beten. Das Fackellicht warf tanzende Schatten und der Singsang von Chorälen drang durch den Wald. Nachdem Neire sein Ritual beendet hatte, begab auch er sich zur Ruhe. Neire und Edda wechselten sich ab mit der Wache und widmeten sich ihren Studien der schwarzen Kunst. Als in den Mittagsstunden der Himmel mit Wolken zuzog und es anfing zu regnen, verlegten die beiden ihr Lager unter das alte Fischerboot. Für eine Zeit lauschten sie dem Trommeln des Regens auf das Holz. Edda erzählte alte Geschichten aus Vintersvakt. Erst in den Abendstunden zog der Regen ab und die Wolken rissen hier und dort auf. Sie warten bis die Sonne versank und brachen dann auf.
Vorsichtig schlichen Neire und Edda auf den Steg zu, auf dem sie Bewegung gesehen hatten. Sie hatten die Insel umrundet und mittlerweile war der letzte Rest der Abenddämmerung der Nacht gewichen. Seitdem sie die Künste der Schattenmagie gemeistert hatte, konnte Edda selbst die finsterste Dunkelheit durchblicken, als wäre es Tag. Auch Neire hatte diese Fähigkeit erlangt. Das Kind der Flamme war sich jedoch nicht sicher, ob es ein Segen seiner Göttin oder seine Meisterschaft der schwarzen Künste war. Das Paar hatte ihren Begleiter Heergren an den steinernen Klippen zurückgelassen, die sie bereits überquert hatten. Zuvor hatten sie noch ihre Waffen mit dem tödlichen Gift bestrichen, das von Neire einst im Gasthaus von Dreistadt hergestellt worden war. Dann hatten sie sich lautlos in Richtung des Steges bewegt. Hier und dort waren Sterne zwischen den Wolken zu sehen, wie auch die silberne Scheibe des aufgehenden Mondes. Der Wind war weniger, als noch an der Küste zuvor. Neire und Edda konnten sich nicht mehr sehen. Neire war durch seinen Tarnmantel verborgen und Edda hatte einen magischen Schleier der Unsichtbarkeit um sich beschworen. Je näher sie dem Steg kamen, desto mehr Details konnten sie beobachten. Zwei Krieger hielten Fackeln und standen am Anfang des Steges. Ihre Kettenhemden glitzerten im Licht und sie trugen Streitkolben, die sie in ihre breiten Gürtel gesteckt hatten. Beide Wachen blickten in das schlauchartige Tal, das in das Innere des alten, erloschenen Vulkanes hineinführte. Am Ende der Anlegebrücke schaukelte eine Barke im Wasser der dunklen Brandung. Dort konnten Edda und Neire drei Gestalten erkennen, die damit beschäftigt waren drei übergewichtige Leiber in das Innere des Bootes zu hieven. Die Arbeitenden waren in graue Roben gekleidet, die chaotische Muster von goldenen Verzierungen und Punkten trugen. Sie sprachen ab und an in gedämpften Stimmen. Sie ächzten unter der Last. Gerade versuchten sie den ersten Körper auf die Barke zu bewegen. Zwei andere Körper ruhten fast regungslos in Schubkarren. Neire und Edda waren jetzt so nahe, dass sie Einzelheiten erkennen konnten. Der Körper, den die Gestalten auf dem Steg abgelegt hatten, hatte einen gewaltigen Bauch. Er war älter und besaß graues schütteres Haar. Mit geöffneten Augen starrte er in den Himmel. Doch der Mann war nicht tot, obwohl seine Haut im Mondschein bleich schimmerte. Langsam hob und senkte sich sein Brustkorb. Neire und Edda beachteten das Geschehen nicht weiter und versuchten an den Wachen vorbeizuschlüpfen. Für einen Augenblick starrte eine Wache in Richtung von Neire, doch sie gelangten unbemerkt auf den Steg. Plötzlich hörten Edda und Neire das dumpfe Poltern von trägem Fleisch und plumpen Fettmassen. Die drei Berobten hatten gerade eine schwerstübergewichtige Frau aus der zweiten Schubkarre gehievt. Der massive Körper war ihnen jedoch entglitten. Jetzt lag die Frau dort seitlich. Ihre kolossalen Brüste und ihr unförmiger Wanst berührten den Steg. Sie schien für einen Augenblick schneller zu atmen. Doch ihre Augen, die tief eingesunken in ihrem aufgeblähten Gesicht lagen, stierten weiter in die Leere. „Passt auf, verdammt nochmal! Wir müssen sie unbeschadet zur Adlerfeste bringen.“ Die Stimme übertönte das Rauschen der Brandung deutlich. Ein anderer Berobter antwortete. „Es ist ihr schon nichts passiert, keine Angst. Sie wird ihm schmecken, ja… Es wird ein Festmahl für ihn werden.“ Als die Anhänger des seltsamen Sonnengottes den Leib auf die Barke gehievt hatten, hatten Edda und Neire sich hinter ihnen versteckt. Sie lauerten in den Schatten und warteten auf Heergren. Lang mussten sie nicht ausharren. Die drei Berobten entluden gerade den letzten Körper aus der Schubkarre, da hörten Edda und Neire den leisen Steinschlag. Auch die Wachen hatten das Geräusch vernommen. Nach kurzer Beratung bewegten sich beide in Richtung des Geräusches. Die beiden Fackeln entfernten sich langsam in die Dunkelheit. Die drei Gestalten ließen jedoch nicht von ihrer Arbeit ab. Sie versuchten die Frau unter ihren Fettmassen zu packen. Mehrere Versuche schlugen fehl. Dann sahen Edda und Neire, dass Heergren auf die Wachen zuschritt. Er war noch nicht im Lichtkegel aufgetaucht und die Krieger hatten ihn noch nicht erkannt. Neire und Edda schlugen und rammten jetzt ihre Waffen in die Rücken der Gestalten. Das silberne Mondlicht verlor sich in ihren geschwärzten Klingen. Die Wirkung des Giftes folgte nicht, doch sie konnten zwei Gestalten mit mehreren gezielten Stichen töten. Der noch lebende Anhänger Azathoths fing jedoch an zu rufen. „Wir werden angegriffen… beschützt die Körper.“ Seine Stimme klang panisch. Der junge Mann mit den blonden Haaren und dem goldenen Bartflaum starrte Edda an, als er begann einen Zauberspruch zu murmeln. Doch Edda und Neire waren schneller. Sie umringten den Mann mit den blau schimmernden Augen und stachen ihn nieder. Dann drehten sie sich zu Heergren um. Sie sahen, dass der Nachtzwerg seinen ersten Widersacher mit einem Streich der Axt tötete. Das Gift hatte seine Wirkung entfaltet. Die zweite Wache flüchtete, doch Heergren tötete sie, indem er seine Axt in den Hinterkopf trieb. „In dieser Richtung befinden sich die Ruinen des alten Tempels. Dort müssen sie sich versteckt halten. Kommt, Edda… wir dürfen keine Zeit verlieren.“ Neire zeigt den Weg hinauf, der durch das enge felsige Tal führte. Dann verließen sie den Steg und wendeten sich Heergren zu.
Ein Sturm von Fackeln kam auf sie zu. Es war, als ob sich die Bildung einer Formation in allergrößter Hast abzeichnen würde. Sie waren zuvor dem Weg gefolgt, der sie durch das felsige Tal hinaufgeführt hatte. Als sie die Doppelreihen der alten, steinernen Kriegerstatuen erreicht hatten, hatten sie die Fackeln in der Ferne bemerkt. Das Gewusel von Lichtpunkten kam aus dem zentralen Teil des Vulkankessels. Es kam von dort, wo sie die Ruinen des einst verbrannten Steinturmes sahen. Die Wohnmauer, die um die Haufen von gebrochenem Mauerwerk aufragte, schienen noch intakt zu sein. Auch hatten sie die Steinhöhlen erahnt, die als primitive Behausungen in den Boden eingelassen waren. Edda, Neire und Heergren hatten sich hinter den Statuen versteckt, als sie die Lichter gesehen hatten. Edda und Neire waren vorgeschlichen, während Heergren sich hinter dem ersten Paar der steinernen Krieger verborgen hatte. Neire und Edda lugten immer wieder hinter den Statuen hervor. Sie konnten zwei Kämpfer mit Zweihändern und Feldharnischen erkennen. Sie waren älter, hatten vernarbte Gesichter und wurden flankiert von jeweils zwei Paaren von jüngeren Langschwertträgern. Hinter der ersten Welle folgten zwei Reihen von Bogenschützen, die sich nach einem kurzen Befehl in zwei Rudeln sammelten. Nach jedem Rudel von vier Bogenschützen schritt jeweils eine Gestalt, die in einen Brustharnisch gekleidet und mit einem Kriegshammer bewaffnet war. Auf dem Brustharnisch schimmerte übernatürlich das Licht des Symboles einer goldenen Perle. Neire und Edda erkannten das Wappen als das der Sonne, ohne die Schwingen des Adlers. Als der erste Teil des Trupps an ihnen vorbeigehastet war, löste sich Neire aus der Dunkelheit seines Verstecks. Er beschwor die Chaosflamme Jiarliraes in seiner linken Hand. Bestärkt durch die Gebetsformeln zerriss die mächtige Detonation einer Kugel von magmafarbenen Flammen die Nacht. Neire hatte sein Feuer auf die Gestalten mit dem Zweihänder geworfen. Zwei der jüngeren Langschwertträger starben qualvoll in den Flammen. Die beiden älteren Krieger und zwei jüngere kämpften jedoch verbissen weiter. In den Flammen stürmte Heergren heran und ließ seien Axt hinabschnellen. Das Chaos der Schlacht tobte im erloschenen Vulkan, als Edda einen Blitz von invertiertem Licht entfesselte. Sie warf diesen in Richtung der Bogenschützen. Krämpfe und Todesschreie waren zu vernehmen. Gleißende Lichter entfesselter Flammenbälle rauschten über ihre Köpfe. Die beiden Kriegshammerträger stimmten Gebete an und stärkten ihre Verbündeten. Dann töteten Neires Flammenkugeln die Zweihandschwinger. Heergren machte die letzten beiden Krieger der Frontreihe nieder und so widmeten sie sich den Bogenschützen. Das Blutbad war grausam. Als nur noch drei Bogenschützen standen, rief der Verbliebene im schimmernden Brustharnisch: „Kämpft und schürt das Feuer der Sonne in euch… Ihr beiden, holt Verstärkung… wir werden…“ Weiter kam der Anhänger Azathoths nicht, denn er wurde von mehreren Magmakugeln zerfetzt. Ein Arm riss von seinem Körper und sein Kopf knickte unschön nach hinten weg. Der verbleibende Bogenschütze wurde von Edda niedergestochen. Die beiden flüchtenden Bogenschützen liefen in Richtung der Ruine hinfort. Nackte Angst war in ihren Augen zu sehen. Edda, Neire und Heergren folgten den fliehenden Bogenschützen und kamen zur kreisrunden Wohnmauer. Aus dem Ring kamen gerade weitere Gestalten hinaus, die ihre Rüstungen in größter Eile angelegt hatten. Sie sahen einen älteren Mann, der ebenfalls einen Brustharnisch mit einer glühenden Perle trug. Er hatte ein breites, kantiges Gesicht, gezeichnet von Furchen und Tränensäcken unter den Augen. Eine knollige Nase war von rötlichen Adern durchzogen. Seine blauen Augen blickten ernst, aber nicht ängstlich. Neben ihm war eine jüngere Frau mit hübschem Gesicht aufgetaucht. Auch sie trug die Rüstung mit dem Perlensymbol. Ihr schönes, schmales Gesicht hatte hohe Wangenknochen und eine gerade Stupsnase. Sie besaß gold-blondes Haar und grüne Augen, die jedoch hasserfüllt funkelten. Aus anderen Öffnungen kamen vier weitere Anhänger, die in graue Roben mit goldenen Symbolen gehüllt waren. Die Frau hatte Edda fixiert und schrie mit erboster, sich überschlagender Stimme. „Ihr verlottertes Weibsstück… ihr werdet untergehen in eurem eigenen Blut.“ Nur einen Augenblick später schlugen eine Reihe von Magmageschossen in den älteren Mann. Sein Körper wurde von der Gewalt zerfetzt. Ein weiterer Strahl von invertiertem Licht eines schwarzen Blitzes fuhr durch die hübsche Frau, reflektierte sich an der Felswand und traf zwei Robenträger. Die Frau und ein Robenträger wurden augenblicklich getötet. Von dem anderen Robenträger waren nur qualvolle Schreie zu hören. Die Rüstung, die der Mann unter seiner Robe trug, war geschmolzen und hatte sich in seinen Brustkorb gebrannt. Das Bild war so grauenvoll, dass die Bogenschützen die Flucht ergriffen. Edda, Neire und Heergren töteten den letzten der Anhänger und folgten den Bogenschützen. Keiner sollte ihnen entkommen.
Neire betrachtete die Gestalt, die dort schreiend auf dem Boden lag. Eines seiner Augen war zerplatzt. Sein Gesicht war ab dem Kinn verbrannt. Die Wunde war über dem Brustkorb am größten, wo das flüssige Metall sich mit seinem Fleisch verbunden hatte. An einigen Stellen schaute der rauchende Knochen des Brustbeines hervor. Die Schreie waren nicht laut, obwohl die Gestalt mit aller Kraft brüllte. Panik war in seinem verbliebenen Auge zu sehen. Der Mann war nicht alt gewesen, hatte braunes kurzes Haar, braune Augen und ein sympathisches Gesicht gehabt. Sein braun-rötlicher Flaum war größtenteils verbrannt und seine Sommersprossen waren kaum noch zu erkennen. „Wart ihr das letzte Aufgebot oder gibt es noch mehr von eurer Sorte.“ Neire beugte sich über den stinkenden Körper. „Ahhh… ahhh… letz… Auf… ahhh. Tötet mich… ahhh.“ Das verbliebene Auge blickte ihn panisch an und die Kreatur konnte kaum sprechen. Neire nickte und vergaß den Gestank von verbranntem Haar, Fleisch und Metall. Er blickte durch die Augen des Jensehers und die Welt wurde rot um ihn herum. „Ein Freund würde das für euch tun. Er würde euch töten, nur, wenn ihr nicht mehr zu retten wäret.“ Das Schreien reduzierte sich langsam in ein Wimmern. Dann fragte Neire weiter. „Was wisst ihr über das, was sich unter der Adlerfeste verbirgt. Seid ihr eingeweiht in die Geheimnisse?“ Der Junge wimmerte weiter, antwortete aber röchelnd. „Die Adlerfeste schützt die Stadt. Sie Schützt die Ankunft unserer reinigenden Sonne. Ich war nicht dort.“ Neire nickte und lächelte. „Der alte Mann mit der Knollennase… die hübsche Frau mit den blonden Haaren. Waren sie dort unten?“ Nach einer Welle von Muskelzuckungen, folgte ein Weinkrampf des Anhänger Azathoths. „Sie? In der Adlerfeste? Nein…“ Neire stand auf und blickte zu Heergren. Er nickte dem blutverschmierten Nachtzwerg zu, aus dessen Panzer einige abgeschlagene Pfeile standen. „Tötet ihn Heergren. Er weiß nichts und kann uns nicht helfen.“ Heergren schüttelte jedoch den Kopf. „Wir sollten ihn leben lassen, Prophet. Ich will wissen, wie zäh Menschen sind. Kann dieser armselige Bastard überleben oder wird er an seinen Schmerzen zugrunde gehen?“ Neire spürte zuerst Zorn, dass sich Heergren seinem Befehl widersetzte. Als die Wut verflog, nickte er Heergren zu. „Gut, so soll es sein… Habt ihr gehört Freund. Ihr sollt leben. Doch tut eurem alten Freund Dödnar den Gefallen und beendet eurer Wimmern. Es wird euch nicht näher zur Sonne unter den Sonnen bringen.“ Neire lächelte jetzt, bevor er sich umdrehte. Hinter ihm wurde das Wimmern erst leiser, dann war nichts mehr zu hören. Neire genoss die Stille, das Rauschen des Windes. Er betrachtete die Fackeln, die dort als glühende Punkte in der Düsternis lagen. Feuer und Dunkelheit waren auf das einstige Eiland von Torm zurückgekehrt.
Jenseher:
Bis auf das Rauschen des Windes, der sich an den Mauern der Ruine von Torm brach, war Ruhe eingekehrt im Vulkankessel. Der wolkenverhangene Nachthimmel war hier und dort aufgerissen. Der Mond war über die Kraterwände gestiegen. Das silberne Licht ließ die Szenerie in einer merkwürdigen Farblosigkeit erscheinen. Durch den Nachtwind war es zwar etwas kühler geworden, die Wärme des vergangenen Tages schien aber noch in den Steinen zu stecken. Sie blickten sich um und beachteten die Leichen für einen Augenblick nicht. Da war das verfallene Bauwerk des alten Tempels, dessen dunkle Steine bereits von Moos überwachsen waren. Fackellicht war vereinzelt vom Weg zu erkennen, der zwischen den Kriegerstatuen zum Meer hinabführte. Es mussten die Lichter des letzten Aufgebots der Sonnenanhänger sein, die dort flackernd im Wind lagen. Neire horchte, als er das Zwielicht betrachtete. Er hörte das schmerzerfüllte Atmen des schwer verletzten Anhänger Azathoths. Auch vernahm er die knirschenden Schritte von Edda, die von ihrer Jagd auf die Krieger zurückkam. Neire stellte dem verletzten Priester einige weitere Fragen, die der junge Mann unter einem Wimmern von Schmerzen beantwortete. So konnte Neire erfahren, dass die Körper – so bezeichnete der Mann die übergewichtigen Leiber der Einwohner von Dreistadt – in eine Starre versetzt worden waren. Es sollten die Gebete der Anhänger der Sonne unter den Sonnen sein, die diesen Zustand hervorriefen. Der Sonnenpriester war sich nicht sicher, ob die Körper ihre Umgebung noch wahrnahmen. Er verneinte die Frage nach einer Gabe von Schlaf- oder Rauschgiften. Als Edda zurückgekehrt war, durchsuchten sie die Gemächer, die sich in der Wohnmauer auftaten. Neire hatte zuvor an dem Gürtel der Frau drei feine Schlüssel entdeckt, die er an sich genommen hatte. In der Ringmauer fanden sie neben Schlafgelegenheiten für die Priester, einen Raum mit zwei Kisten. In der einen befanden sich metallene Splinte aus Eisen; in der anderen Kristallsplitter. An eine Wand war ein Pergament genagelt, das mit der Unterschrift eines Hohepriesters Lardrig Wermgard unterzeichnet war. Edda hatte schon einmal etwas von diesem Namen gehört. Tief im Nordosten von Euborea, noch hinter dem Orumanischen Reich sollte Lardrig dem Orden von Sunnadom, der Sonnengottheit der Menschen angehört haben. Der Hohepriester war dann in Ungnade gefallen und zum Tode verurteilt worden. Er hatte wohl Experimente mit jungen Akolythen durchgeführt. Den noch unerfahrenen Anhängern von Sunnadom hatte er versucht die Sonne einzupflanzen, um sie stärker zu machen. Die Versuche waren jedoch schiefgelaufen und die Anhänger waren von innen heraus verbrannt worden. Lardrig hatte aus dem Gefängnis fliehen können und war seitdem nicht mehr in Erscheinung getreten. Nach kurzer Beratung suchten sie die weiteren Räume ab. In einem Gemach konnten sie große eiserne Schalen mit Tonnen von Getreide und Massen von verschiedensten Fleischsorten erkennen. Die Fleischberge sahen noch frisch aus, als Neire aber auf das Gebet hindeutete, das an einer Wand hing, war Heergren schlecht geworden. Der Nachtzwerg hatte im Gasthaus von Dreistadt besonders viel von den gebratenen Hähnchen gegessen. Der Anblick der rötlich glitzernden Haufen von Fleischstücken, die hier in ihrem eigenen Saft und Blut standen und vielleicht schon von Azathoths Sonnensaat gesegnet wurden, drehte Heergren den Magen um. Sie fanden einen weiteren Raum mit drei Kisten, die magische Gegenstände und Schätze enthielten. Nachdem sie alles abgesucht hatten, berieten sie sich kurz. Dann fingen sie an die Steinbehausungen zu erforschen, die um die Ringmauer in den Boden eingelassen waren. In jedem Loch fanden sie Körper von stark fettleibigen Menschen. Es waren jüngere und ältere, doch keine Kinder. Sie mussten dort wohl schon länger liegen, denn der penetrante Geruch von Kot und Urin war in den primitiven Aushöhlungen. Alle Körper waren in einer Starre gefesselt; alle waren einfache Menschen und lebten noch. Eine Zählung der Leiber ergab 257. Mit den drei zuvor auf das Boot verladenen, 260 Körper. Sie entschieden sich, die Körper in einem Kreis zusammenzubringen. Sie konnten zwar die Schubkarren für den Transport benutzen, die Arbeit war jedoch schweißtreibend. Nachdem sie einige Zeit damit verbracht hatten die Körper zusammenzubringen, nahmen sie den toten Dienern des Kultes Waffen und Rüstungen ab. Dann platzierten sie die Leichen in der Mitte des Kreises. Neire trug Fackeln aus dem Inneren heraus und begann sie zu entzünden. Der Jüngling setzte sich zu den Leichen, in die Mitte des Kreises von starren, lebenden Körpern. Dann zog er sich vollständig aus und begann zu meditieren. Für Edda hatte das Bild etwas Seltsames an sich. Der teils aufrecht sitzende fettleibige Pöbel schien Neire zu betrachten. Doch bis auf die Atembewegungen waren die Fettwänste vollständig regungslos. Frauen und Männer gafften in die Leere. Die weiße Haut ihrer mächtigen Rundungen schimmerte im silbernen Mondlicht. Dann begann Neire einen schlangenhaften Singsang anzustimmen. Seine Augen funkelten rötlich und er sprach die fremden Gebete seiner Göttin.
Es war Jiarlirae, die mir die Macht gab. Sie brachte mich wieder an diesen Ort, auf diese Insel und ich vollbrachte ihr heiliges Werk. Die Nacht war zur Hälfte vorangeschritten, als ich ihre Gebete murmelte. Ich versank in einem Traum und ich nahm sie alle mit dorthin. Sie waren nicht tot, doch ihre Geister waren gefangen in der Leere. Sie litten unter dem unsäglichen Lichte, dessen Strahlen sie lähmten und verbrannten. Ich bat sie in mein Heiligtum und sie willigten freudig ein. Es waren so viele, die dort aus der scheußlichen Helligkeit kamen. Und auf einmal, welch Gewühle, trat ich in ihre Mitte.
Sie lauschten dem Rauschen der dunklen Brandung, horchten in das knisternde Feuer. Da war ein kleines Eiland aus zwielicht’gem Sand. Schwarze Wellen brandeten sanft von allen Seiten heran. Das Wasser umspülte meine Füße. Ich schritt durch ihre Reihen. Hinzu auf das Feuer, das in der Mitte magmafarben brannte. Die Flammen und das Zwielicht, sie spendeten Trost in dieser glühenden Leere. Das weiße Höllenfeuer verbrannte ihre Rücken, denn sie hatten sich dem Schutzort meiner Herrin zugewendet. Das grausame Höllenfeuer bedeckte weißlich den gesamten Horizont.
Ich trug eine weiße Robe, die die heilige Flamme reflektierte. Meine gold-blonden Locken, waren mit der Düsternis verwoben. Meine Augen waren aufgebrochenes Magma – rote Risse und dunkles Glühen. Ich trat an ihnen vorbei, an älteren und jüngeren, an Frauen und Männern. Ich schwebte über das Feuer hinauf. In das Zentrum des Kreises, den sie gebildet hatten. Ich erblickte ihre fernen Träume. Ihre Gedanken und Erinnerungen. Ich sah bekannte Gesichter, sah sie leben, sah sie arbeiten, sah sie lieben. Dann erhob ich meine Stimme: „Wisset, Bürger von Dreistadt… ihr seid hier sicher, doch nicht für lange. Betrogen hat man euch. Es ist die Hitze der Sonne unter allen Sonnen, die eure Körper und euren Geist verzehren will. Wisset ihr denn nicht wo ihr seid und wie ihr hier hinkamet?“ Es war Verwirrung, Schmerz und Leid in ihren Augen. Einige weinten bitterlich. Andere wanden sich in Pein. „Nein, wir wissen es nicht“, sagte eine dicke Frau. Ein fettleibiger Mann rief traurig. „Ich wollte leben und in Frieden sterben. Was ist nur diese Höllenqual?“ Ich hob meine Hände, von denen die Linke verbrannt war und mahnte. „Es ist die Sonne unter den Sonnen, die euch wohl genähret. Jetzt möget ihr es ihren Anhängern bitter vergelten.“ Da war plötzlich ein Gewimmel, als Wänste und Fettschürzen in einem panischen Reigen taumelten. Gebrechliche Stimmen schrien; Trauer und Resignation wandelten sich in umfassende Verzweiflung. „Was ist passiert mit uns?“ „Wir wussten es nicht.“ „Was ist mit uns, was ist dieser Ort?“ „Es brennt, es tut so weh.“ „Ist das unser Ende… bei allen Göttern bewahre!“ Wieder hob ich die Hände und bat sie an IHR Feuer. „Kommt näher, Bürger von Dreistadt, Freunde. IHRE Düsternis schützt euch vor dem grausamen Höllenfeuer. IHRE Flamme wärmt euch. Kommt näher.“ Sie rückten näher, sie wuselten um den Kreis des Feuers. Sie drückten sich aneinander - eng an eng. Sie drehten sich nicht um, denn sie spürten das vernichtende Licht der Sonne unter den Sonnen. Sie blickten nur in das Feuer meiner Herrin. Die Flamme glitzerte in ihren eingesunkenen Augen. Dann sang ich die Worte und forderte sie auf, sie dreimal zu wiederholen. Ich pries die Verse an, als den Ausweg aus dem verzehrenden Licht. „Es ist der Schwur zu Jiarlirae, der Schwertherrscherin, der Königin von Flamme und Düsternis, der Dame des abyssalen Chaos, den wir sprechen. Wir sind bereit ihren Weg zu gehen. Wir wollen ihrem Pfad folgen, durch Feuer und Schatten. Freudig versprechen wir ihr unsere Seelen, auf das sie aufgehen mögen, in ihrem Reich, in ihrer Kraft und in ihrer Herrlichkeit.“ Die Menge sprach mir nach. Zuerst flüsterten sie, dann wurde ihr Chor stärker. Nach dem dritten Mal wuchs die Flamme des inneren Feuers und vermischte sich mit dem Zwielicht des Sandes. Dann vergaßen sie die Sonne aller Sonnen. Sie vergaßen ihre einstige Bestimmung. In all ihrer maßlosen Vergänglichkeit vereinigten sie sich mit Feuer und Schatten. Es war der Übergang ihrer Seelen in das Reich meiner Herrin – es war die Kraft der Flamme und die Herrlichkeit der Düsternis, in ihrer reinsten Form. Ich führte sie hinüber, ich vollbrachte ihre Transzendenz in das unendlich dimensionale Urchaos und ich habe nichts Schöneres gesehen.
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In ihren Traum sah sich Edda mit Neire. Sie schwebten gemeinsam in einem Feuer, das von schwarzen Tentakeln durchzogen war. Sie hielten sich an den Händen und lächelten sich an. Dann zog Neire sie zu sich heran und sie schlang ihre Arme um ihren Geliebten. Die dunklen Flammen hatten ihre Kleidung verbrannt und sie waren beide nackt. Als sich ihre Haut berührte, spürte sie ein elektrisierendes Prickeln durch ihren Körper gehen. Da war sphärenhafte Musik, die sich in unendlichen Teilen auffächerte. Sie drehten sich in einem Strudel des Urchaos, der kein natürliches Gleichgewicht kannte. Sie blickte in Neires Augen und da war etwas… sie konnte es nicht erkennen, gleichwohl fesselte es ihre Sehnsüchte. Sie brauchte nur ein wenig mehr Zeit. Sie musste nur noch tiefer schauen. Dann war da das äußere Licht. Langsam wurde es stärker. Es war kalt und grausam. Heiß und gefühlslos. Es wollte sie vernichten, wollte das Leben herausbrennen, das sie in sich trug. Es wollte ihr den Blick nehmen. Es wollte ihr ihre Geheimnisse nehmen. Es wollte ihr Neire nehmen. Edda wachte zitternd auf. Die Abendsonne war tiefer gesunken und ein kühlerer Wind fuhr unter ihre Decke. Sie hatte sich an Neire geklammert, der noch schlief. Heergren hatte die letzte Wache übernommen und kurz berührten sich ihre Augen, als sie sich umblickte. Der Nachtzwerg mit der von bläulichen Venen durchzogen Glatze, dem langen geflochtenen weißen Bart und den blauen Augen nickte ihr zu. Edda wendete den Blick ab und verschwand wieder unter der Decke. Sie spürte die Wärme, die von Neires Körper kam. Sie konnte nicht mehr einschlafen und dachte nach. Die Erinnerungen an die Insel des Torm, waren auch jetzt, etwa elf Tage später, sehr gegenwärtig. Sie dachte zurück an das Bild des völlig entkleideten Neire, der sich in einem Kniesitz inmitten der geschändeten Leichen und der starren, fettleibigen Körper meditiert hatte. Einige Zeit war das so gegangen, dann hatte der Jüngling angefangen zu singen. Heergren und sie selbst hatten gefühlt, dass sich von Neire eine Macht ausbreitete. Also waren sie zurückgetreten. Dann hatte sich die Luft um Neire entzündet. Flammen waren aus dem Boden geschossen. Überall dort, wo die Leichen und Körper lagen. Die Hitze war unerträglich gewesen und sie hatte Neire in den Flammen nicht mehr gesehen. Es hatte nach verbrannter Haut, Haaren und Fett gerochen. Neires Feuer hatte gebrannt, bis alle Körper zu Asche zerfallen waren. Da war kein Schrei, kein Zucken gewesen, als die noch lebenden Körper starben. Es war so friedlich gewesen. Danach war Neire wie in einem Rausch erwacht. Er hatte davon erzählt, seiner Herrin ein großes Geschenk gemacht zu haben. Er hatte auch gesagt, dass er wüsste, was jetzt zu tun sei. Also waren sie, Kraft Neires schwarzer Kunst, in den Tempel des Jensehers zurückgekehrt. Zwei Tage lang waren sie Dingen nachgegangen, die sie erledigen mussten. Heergren hatte drei Anhänger mit Ketten geschmiedet, die einen wertvollen dunklen Opal trugen. Neire hatte dann die Anhänger verzaubert, so dass sie das Licht der schwarzen Sonne warfen, das alles sichtbare Licht verschluckte. Neire, Heergren und Edda - ein jeder hatte einen dieser Anhänger unter seiner Kleidung versteckt. Bevor sie aufgebrochen waren, hatten sie auch Kulde Kopfstampfer für eine Zeit von seinen Aufgaben befreit. Sie hatten den jungen Hügelriesen auf der Baustelle der Festung über Nebelgard gefunden. Kulde hatte sich gefreut wie ein schwachsinniges Kind, als er sie gesehen hatte. Sie hatte ihm zugelächelt und von einer wichtigen Aufgabe gesprochen. Ihre Reise hatte sie zuerst über die Straße nach Kusnir geführt. Sie hatten aber die kleine Stadt gemieden, die unter der Kontrolle des Tempels des Jensehers stand. Sie waren weiter um den See Gladnir gewandert und waren einem Fluss gefolgt. Sie wussten, dass das Gebirgswasser sie in den Schild führen würde. Edda hatte die Sommertage im Gebirge und in der Hochebene von Kusnir genossen. Nachts waren sie marschiert, Heergren zu Liebe. Aber auch sie mochte die grelle Sonne nicht, die ihr Tränen in die Augen trieb.
Jenseher:
Sie hatten vor sich die endlose schwarze See gesehen. Die Sonne war längst untergegangen, doch einige hohe Wolken strahlten noch in roten Tönen. Die Berge warfen lange Schatten und ein Abendwind war aufgefrischt. Langsam und behutsam waren sie hinabgestiegen und es war immer dunkler geworden. Je tiefer sie gekommen waren, desto mehr hatten sie die Wärme der Sommernacht gespürt. Immer näher waren sie der Landzunge gekommen, die von kleinen Büschen und Sträuchern überzogen war. Der salzige Geruch von Meerwasser und fauligen Algen war zu vernehmen gewesen. Dann hatte Edda die beiden Kreaturen gesehen, sie sich ihnen über den Grat eines Bergrückens genähert hatten. Sie hatte die beiden Orks, die in dunkle und graue flickenartige Gewänder gehüllt waren, bereits aus der Entfernung als solche erkannt. Es war mittlerweile Nacht geworden und die beiden Späher hatten sie noch nicht bemerkt. Sie waren dann weiter geschritten, Kulde voran. So waren sie schließlich auf die beiden Orks getroffen, die zuerst feindselig reagiert hatten. Kulde hatte mit ihnen gesprochen und ihnen mit donnernder Stimme erzählt, dass er Kulde Kopfstampfer sei. Er hatte gesagt, dass er ein mächtiger Anführer wäre und gerne Menschenköpfe stampfen würde. Das hatte er dann mehrfach wiederholt. Als die Orks daraufhin ein niederträchtiges, spöttisches Grinsen verbargen, waren Neire, Edda und Heergren hinter Kulde hervorgetreten. Die Kreaturen mit den schweinischen Schädeln hatten besonders Heergren mit hasserfüllten Blicken gemustert, doch Kulde hatte sie überzeugen können, dass seine Gefährten ihm als Söldner dienten. Er hatte verlangt, dass die beiden Späher sie zu ihrem Anführer geleiten sollten und sie hatten zugestimmt. Sie hatten gesagt, dass sie Kulde zu Horknar bringen wollten.
Nach einem schweigsamen Fußmarsch gelangten sie in die schwülen Marschlande, die sich vor dem Meer auftaten. Die Nacht war bewölkt und sternenlos. Schweiß rann ihnen in Gesicht und Augen. Der Weg war beschwerlich und sie versanken immer wieder im Schlamm und Matsch. Zwischen den kargen Büscheln und Gräsern stand in kleinen Seen fauliges Brackwasser. Mücken schwirrten um sie herum und ihr Schuhwerk war völlig durchnässt. Dann hörten sie Stimmen, die der Wind ihnen aus der Ferne herantrieb. Hohe, in den Untergrund getriebene Baumstämme hielten Fackeln, deren Licht in den Böen eines warmen Seewindes flackerten. Ein Weg in das Lager war einst mit Schilf ausgelegt gewesen, doch jetzt in schlechtem Zustand. Behausungen einfacher Zelte aus ledernen Häuten standen dort im Brachland. Ein Hämmern war zu hören und sie konnten die Schatten gewaltiger Kreaturen sehen. Sie passierten die ersten primitiven Unterkünfte und sahen, wie ihnen einige Augenpaare folgten. Die Gestalten, die sie betrachteten, waren beschmiert mit fauligem Morast und stinkendem Schlamm. Niemand hier kannte Kulde Kopfstampfer, der sich bei ihrem Einmarsch groß machte. Der junge Hügelriese hatte sich die Kette seines Morgensternes über die Schultern gelegt und strich sich die von Schweiß nassen Strähnen seines schwarzen Haares zurück. Er hob seinen Kopf mit der fliehenden Stirn, den kleinen braunen Augen, der platten Nase und dem ausgeprägten Unterbiss. Die hässliche Narbe seines verbrannten Ohres machte ihn älter, als er eigentlich war. Sie gingen auf die Ruinen eines Bergfriedes zu, um den teils eingestürzte Mauern lagen. Dort schien der Mittelpunkt des Lagers zu sein. In dem spärlichen Licht der Fackeln konnten sie Blicke in das Innere einiger Zelte erhaschen. Von dort hörten sie das Geschrei von Kindern. Sie sahen riesenhafte Säuglinge, die an den üppigen Brüsten hässlicher Hügelriesinnen genährt wurden. Sie sahen aber auch weitere Orks, von denen fast alle eine eiserne Fessel um den Hals trugen. An der Fessel waren Ketten befestigt, mit deren Hilfe die grobschlächtigen Hünen die armseligen, kleineren Kreaturen unsanft zogen. Einige bellten barsche Kommandos in ihrer dümmlichen, gutturalen Sprache. An einem Zelt, das an einem Stück intakter Mauer des Bergfriedes stand, sahen sie einen Hügelriesen mit einem Speer. Der Krieger war von imposanter Statur, einem gewaltigen Bauch, doch kräftigen Bein und Brustmuskeln. Sein fleischiger Schädel war völlig haarlos und er hatte einen gefährlichen, blutrünstigen Blick. Mit seinen langen, affenartigen Armen stützte er sich auf einen fast sechs Schritt langen Speer. Der Gigant war in ein Gespräch vertieft mit einem anderen, kleineren Riesen, der gerade aus der Hütte hervorgetreten war. Der Kleinere war etwa vier Schritt groß und hatte karmesinrote Flecken auf seiner bleichen Haut. Sein linker Arm war verkrüppelt und spastisch verdreht, während sein Rechter muskulös war. Sein Kopf war von einer missgestalteten Hässlichkeit. Dickes, schwarzes Haar hing bis auf die Schultern hinab. Sein Kiefer war verkrüppelt, seine lange Nase krumm und er hatte Blumenkohl-ähnliche Ohren. In seinem Gürtel trug er ein schwarzes Fleischerbeil mit gebogener Klinge. Er war in einen metallverstärkten Lederpanzer gekleidet und er hatte sie bereits gemustert. Sein linkes Auge schimmerte grünlich, während sein rechtes gelblich-krank war. Neire, Edda und Heergren blickten sich hastig um, während sie Stimmen vom Rande des Platzes hörten. Nur Neire konnte bereits einige Worte der Hügelriesensprache verstehen. „Wer ist das, kennst du ihn?“ „Was hat er uns mitgebracht? Kleine Menschen… Spielzeug für uns?“ „Horknar wird sich um ihn kümmern.“ „Vielleicht ein neuer Gefolgsmann von Horknar.“ Die orkischen Späher führten sie in Richtung des Zeltes an der Ruine des Bergfrieds, doch soweit kamen sie nicht. Plötzlich hörten sie die Stimme eines Hügelriesen, der ein krudes Schwert trug. „Ihr da! Sklaven! Was fällt euch ein. Wen bringt ihr hier ins Lager.“ Sie konnten erkennen, wie sich die beiden Orks duckten und unterwürfige Gesten machen. Sie antworteten zitternd und sprachen gebrochen die Sprache der Hügelriesen. „Wir bringen euch großen Meister. Nennt sich Kulde Kopfstampfer.“ Bei den Worten ließ Kulde seinen Morgenstern flatschend in den Morast fallen. Er spannte seine Muskeln und zeigte seine fauligen Zähne, als er anfing debil zu grinsen. Der andere Riese, der drei orkische Sklaven an Ketten hinter sich herzog, öffnete seinen Mund und blickte Kulde dümmlich an. „Kulde… so. Ihr seid wohl neu hier? Kenne euren Namen nicht.“ Kulde knirschte wütend mit den Zähnen als er über den Platz brüllte. „Isshh bin bekannt! Heisshe Kulde Kopfsshamfa. Habe viele Köpfe gesshamft… ja! Viel Kopfblut gesshamft… hahaha.“ Der andere Riese war sichtlich beeindruckt und deutete in Richtung des Zeltes. „Dort, Kulde. Geht zu Meister Horknar.“ Dann ließ der Riese die Ketten fallen und griff plötzlich nach den beiden Orks. Wie aus dem Nichts hatten seine zuvor trägen Bewegungen eine beeindruckende Schnelligkeit. Er bekam auch beide zu packen, die ihrerseits unterwürfig jaulten. Der Riese knirschte mit den Zähnen und sprach hasserfüllt. „Ihr beide kommt mit mir. Werde es euch lehren, wie man hier Befehle befolgt.“ Er zog die beiden Späher hinter sich her, während er sich mit schmatzenden Schritten entfernte.
Neire betrachte Horknar genau, der wiederum Kulde, Edda, Heergren und ihn musterte. Bevor der Anführer der Hügelriesen sprach, zog er schlürfend den Speichel hoch. Neire sah dort, dass ein kleiner Strom von Sabber aus dem einst zerstörten Kiefer hinablief. Neire dachte nach, während er Horknar betrachtete. In einem Buch über das Unterreich hatte er bereits von diesen Kreaturen gehört. In den Schriften war über die physiologische Degeneration und die körperlichen Entstellungen gerätselt worden. Die alten Gelehrten hatten Experimente, aber auch Inzucht dafür verantwortlich gemacht. Auch von magischen Kräften bestimmter Bereiche unter der Erde war gesprochen worden. Einige der Kreaturen sollten intelligenter sein und wohl auch Zauberkräfte besitzen. Als Horknar Kulde begrüßte, verdrängte Neire seine Gedanken und schaute nach oben. „Ihr seid also Kulde Kopfstampfer. Ich habe noch nicht von euch gehört.“ Kuldes Gesicht verzog sich zu einem stumpfsinnigen Blick, als er kindisch seinen Mund verzog. „Ich Kulde Kopfsshamfa. Viele Köpfe gesshamft.“ Da war ein Grinsen in Horknars Gesicht, das von einem Schlürfen von Sabber begleitet wurde. „Ihr habt Köpfe gestampft Kulde… soso. Wie viele Schlachten habt ihr denn bereits geschlagen?“ Kulde begann abermals idiotisch zu grinsen, doch dann dachte er nach. Er versuchte mit den Fingern seiner beiden fleischigen Hände zu zählen. Er formte sechs Finger und antwortete. „Vierzehn Sshlachten, hat Kulde gekamft. Grossher Kopfsshamfa, ja.“ Wieder war da dieses niederträchtige Grinsen, dass sich in Horknars degeneriertem Schädel abzeichnete. „Vierzehn Schlachten… beeindruckend, Kulde Kopfstampfer. Wie viele Köpfe habt ihr gestampft?“ Neire begann das Spiel Horknars zu langweilen, dass den Triumpf seiner überlegenen Intelligenz über die niedere Rasse der Hügelriesen zur Schau stellen sollte. Dennoch ließ er Kulde antworten. „Hunda Köpfa gesshamft, Kulde, ja… hunda… Kulde aus Okpro… torek..krat Daistadt, ja. Will Köpfe Daistadt sshamfa und Adlerfesshde stampf.“ Jetzt trat Neire hinter Kulde heran und erhob das Wort in der Sprache der Hügelriesen. „Ihr müsst Horknar sein.“ Neire sah, wie das Grinsen dem Gesicht des Anführers sich einstellte. Die widerliche Gestalt beugte sich zu ihm hinab und er konnte Fäulnis riechen. „Ihr seid ganz schön mutig für ein Menschlein… ein Krieger der stämmigen Rasse. Ein Menschenweib…“ Jetzt lachte Horknar, als er Edda anschaute. „Hat sie Fähigkeiten, um euch die Reise zu verschönern.“ Neire sah Kulde aufbrausen. Der junge Hügelriese hob seinen Morgenstern und Gewalt lag in der Luft. „Edda grosshe Kriegerin, jaa… viele Sshlachten sshlagen sie.“ Horknar nickte und richtete sich wieder auf. „Ja, mein Name ist Horknar und ihr seid in mein Land gekommen. Im Gegensatz zu Kulde Kopfstampfer, habe ich mir noch keinen Namen verdient. Aber ja… ihr seid an der Adlerfeste interessiert?“ Neire hatte gezittert, als die hässliche Kreatur ihn angeschaut hatte. Jetzt antwortete er Horknar, der beständig seinen Speichel hinaufsaugte. „Wir hörten, dass ihr ein Interesse an der Eroberung der Adlerfeste habt, mächtiger Horknar. Daher sind wir zu euch gekommen, daher ist Kulde zu euch gekommen. Wir haben eine alte Rechnung mit ihrem wahren Herrn zu begleichen. Ich könnte euch helfen, denn ich war bereits in der Adlerfeste. Doch wieso bestrebt ihr die Eroberung?“ Horknar hatte bei seiner Rede eine Augenbraue erhoben. Der Riese blickte ihn bohrend an, dann lachte er. „Hahaha… wieso ich die Adlerfeste erobern will? Was meint ihr? Wo kann man besser ein Heer aufstellen? Im Schlamm oder in den Felsen?“ Nur einen kurzen Augenblick dachte Neire nach. Dann antwortete er zischelnd. „In den Felsen der Adlerfeste könntet ihr es besser schützen.“ Horknar nickte, doch dann schüttelte er den Kopf. „Ein Heer müssen wir hier aufbauen, im Schlamm. In den Felsen wären wir ohne Nahrung. Doch die Adlerfeste, sie hat eine andere Bedeutung. Sie schützt den Weg in die Lande dahinter. Das Herzogtum Berghof und andere menschliche Reiche. Fette Beute, das ist es was ich will. Die Adlerfeste bedeutet Kontrolle. Sie ist der erste Schritt. Ich will mir einen Namen machen. Vielleicht Meister Horknar, wie dieser Bastard Meister Halbohr. Aber ich glaube eher, dass Meister Halbohr eine Sagengestalt ist. Eroberer Horknar oder König Horknar wären nach großen Taten angebracht. Was meint ihr Menschlein… diese Namen haben doch einen Klang.“ Neire nickte und lächelte seinerseits, als er den Namen von Meister Halbohr vernahm. Dann sprach er: „Meister Horknar, wir könnten euch bei dieser Aufgabe behilflich sein. Wie ich bereits sagte, war ich vor einiger Zeit in der Festung. Und ich weiß, dass der Hohepriester Lardrik Wermgard aus dem Verborgenen seine Schattenfäden zieht.“ Als Horknar Neire nach seinem Wissen fragte, erzählte er dem Anführer der Hügelriesen von seiner damaligen Eroberung der Adlerfeste. Außerdem erzählte er von Wermgard und dem unsäglichen Kult der Sonnenanbeter, der sich wohl ungesehen verbarg vor Ulf Kalthand, dem Anführer der Adlerfeste. Oder war Ulf Kalthand eingeweiht in die Machenschaften? Als Horknar ihnen von den Erkenntnissen seiner orkischen Späher berichtete, welche die Festung beobachteten, schritten sie zu einer kruden Landkarte, die Horknar in den schlammigen Boden neben sein Zelt gezeichnet hatte. Er erzählte ihnen von den Booten, welche die Späher auf dem Fluss gesehen hatten. Die Boote waren aber nie weiter als bis zur Festung gefahren. Kein einziges Boot hatten sie stromabwärts auf dem Fluss nach Kusnir gesehen. Neire vermutete einen geheimen Zugang in die Adlerfestung. Er berichtete Horknar auch von den Körpern, die von den Priestern aus Dreistadt transportiert wurden. Auf Neires Vermutung hin, dass jetzt keine Boote mehr fahren würden, fragte ihn Horknar nach seinem Wissen, wer er denn eigentlich sei und was sein wahrer Grund wäre die Festung anzugreifen. Der hässliche Riese zweifelte schon längst ihren Söldnerstatus an. Neire zeigte seine verbrannte Hand und sprach. „Seht Meister Horknar. Ich bin ein Kind der Flamme und sie haben mich dazu gemacht. Die Anbeter der Sonne unter den Sonnen. Sie haben mich verbrannt, für immer gezeichnet. Jetzt will ich Rache. Lardrik Wermgard muss sterben und wir können uns gegenseitig helfen. Auch wollen wir die Schätze, die sich unter der Feste befinden.“ Horknar lachte diabolisch und zog sein Maulwasser schlürfend hinauf. Dann sagte er: „Rache, kleines Menschlein. Ein starker Drang, der euch treibt. Wir können uns wahrlich helfen. Ich habe 38 Kämpfer, Hügelriesen allesamt. Es wird wahrscheinlich nicht reichen die Feste zu erobern, aber wenn ihr…“ An der Ruine des Bergfriedes bildeten sie einen kleinen Kreis. Sie sprachen lange über ihren Plan. Der warme Küstenwind brachte die Fackeln zum Flackern und ihre Schatten tanzten lebhaft über dem Morast.
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Ein Tag hatten sie auf die Rückkehr der Späher gewartet. Horknar hatte die Orks bereits vor Tagen losgeschickt und erwartete sie in der nächsten Zeit. Den vier Gefährten war ein Platz im Zelt der orkischen Sklavenarbeiter zugewiesen worden. Als einige der Sklaven in Richtung von Edda geblickt und lüsterne Anspielungen gemacht hatten, war Kulde aufgesprungen, hatte sich vor sie gestellt und drohend gebrüllt. Ihre weitere Zeit war ereignislos geblieben und über den Tag hatte ein anhaltender Nieselregen eingesetzt. Der Wind war aufgefrischt und das Lager war in Schlamm und Morast versunken. Als die Nacht bereits eingebrochen war, waren die Späher zurückgekehrt und hatten von der Adlerfeste berichtet. Sie hatten keine weiteren Boote gesehen und Horknar hatte beeindruckt genickt. Auf die Frage, wie lange die Hügelriesen für die Vorbereitung eines Angriffs bräuchten, hatte Horknar mit drei Tagen geantwortet. So hatten sie einen Pakt geschlossen. Am dritten Tag und nach Einbruch der Dämmerung wollten sie angreifen. Horknar mit seinen Riesen sowie Kulde und sie von Innen. Horknar hatte vorgeschlagen, dass sie sich ein Boot besorgen sollten, um eine Lieferung in die Adlerfeste vorzutäuschen. Sie verrieten nicht was sie tun wollen, doch sie besiegelten den geplanten Angriff mit einem Schwur. Dann brachen sie auf in die warme, regnerische Nacht.
Jenseher:
Schroffe Bergspitzen und Kämme zeichneten sich düster im silbernen Mondlicht ab. Neire, Edda und Heergren klammerten sich an den Felsen und blickten hinab in das hohe Tal. Fast senkrecht stürzte die Wand in die Tiefe, in deren Kanten und Kaminen sich der Wind brach. Unter ihnen lag dunkel die Schlucht. Dort war die Passstraße, die von Kusnir nach Dreistadt führte. Sie konnten deutlich die Lichtpunkte erkennen die auf der Burg brannten. Die Adlerfeste thronte über dem Tal, auf dessen Grund sie das silberne Band des Flusses sehen konnten. Die Höhe war jedoch zu groß, als dass sie ein Rauschen des Wassers vernahmen. Nachdem Neire sie Kraft seiner schwarzen Kunst in den östlichen Teil des Schildes gebracht hatte, waren sie einige Zeit durch die Felsen geklettert. Sie hatten nach einem geeignetem Platz Ausschau gehalten, von dem sie die Adlerfeste beobachten konnten. Schließlich hatten sie ein kleines Felsplateau, nahe eines der Gipfel entdeckt, das ihnen neben einem Beobachtungspunkt, Schutz vor der Sichtlinie zur Festung gab. Sie hatten sich dort niedergelassen und eine Zeit die Schlucht beobachtet. Sie hatten auf dem Bauch gelegen und in den Abgrund gestarrt. Jetzt zogen sie sich zurück in die Schatten der Felsen, um sich zu beraten. Neire trat zu Edda und nahm ihre Hand. Seine blauen Augen mit den vertikalen Pupillen blickten sie ernst an. Er flüsterte zischelnd: „Edda, ich muss hinabgehen, um die Burg zu erkunden. Ihr bleibt mit Heergren hier und beobachtet das Tal.“ Edda nickte, doch er spürte ihre Sorge. „Achtet auf euch Neire und macht keine Dummheiten. Wenn Horknar Recht hatte, sind die Truppen gut gerüstet und wachsam. Oordrin, der Stadthalter von Dreistadt, sprach zudem von dem geheimen Unteren der Festung. Wer weiß was dort wartet. Solltet ihr gesehen werden, ist unser Plan zunichte gemacht.“ Neire nickte und zog Edda näher zu sich heran. Er roch ihr Parfüm, das den Duft seltener Blumen verströmte. „Ich weiß Edda und glaubt mir… ich würde viel lieber bei euch bleiben. Doch ich muss die Festung auskundschaften.“ Dann drehte Neire seinen Blick zum Nachtzwerg. „Heergren, ihr werdet auf Edda aufpassen. Schützt sie mit eurem Leben. Sie wird die Akademie Schwarzenlohe in Nebelgard führen, wenn wir zurückkehren. Meister Halbohr würde es euch nicht verzeihen, wenn ihr etwas zustieße.“ Heergrens Miene erstarrte und er beugte seinen Glatzkopf, der von dunklen Venen durchzogen würde. Im Mondlicht hatte sein Antlitz fast ein untotes Aussehen. „Jawohl, mein Prophet. Ich werde Edda beschützen, bis ihr zurückkehrt.“ Neire nickte und begann Edda zu küssen. Er spürte ihre Wärme, ihre weichen, zarten Lippen. Eine Zeitlang standen sie dort, eng umschlungen im Mondlicht. Dann zog er sich seinen Tarnumhang über, schritt zum Abgrund und ließ sich in die Tiefe fallen.
Neire betrachtete den Felsspalt, durch den ihm klares, kaltes Wasser entgegenströmte. Er schwebte über den rauschenden Fluten des Flusses, der das Tal durchfloss. Sein Ring verlieh ihm die Fähigkeit zu fliegen und so war er in das Tal hinabgeschwebt. Sein Tarnmantel hatte ihn verborgen. Neire war dem Fluss um die Adlerfeste gefolgt und hatte nach geheimen Öffnungen Ausschau gehalten. Als er die Burg fast umrundet hatte, war er fündig geworden. Die Spalte war nur zwei Schritt breit und weder vom Passweg, noch von der Festung zu sehen. Sie endete an einem schlanken Höhleneingang, der in die Richtung der Burg wies. Spalte und Tunnel waren nicht von Menschenhand geformt. Der Stein schien über die Jahrtausende glattgeschliffen zu sein. Die feuchte Luft war kühl hier und von einem Rauschen erfüllt. Neire schwebte langsam in den Tunnel hinein, den er nach Fallen zu untersuchen begann. Je weiter er in das Reich des Steines kam, desto leiser wurde der Fluss hinter ihm. Das Wasser der Höhle quoll friedlich aus dem Inneren der Erde hervor. In der Dunkelheit des Tunnels sah Neire ein Licht. Auch hörte er seltsame Flötentöne, deren Widerhall schwach war. Er erkannte keine Melodie. Vielmehr waren es chaotische Muster – weder harmonisch noch disharmonisch. Neire folgte dem Tunnel und kam an eine Biegung. Aus dem Stein ergoss sich das Wasser in kleines Kavernenbecken, das sich nach rechts hin in eine mittelgroße Höhle eröffnete. Dort lag der steinerne Boden oberhalb der Wasseroberfläche. Aus einer höhergelegenen Öffnung der Höhle kam ein bleiches, gleißendes Licht, das in seiner Gleichförmigkeit Neire in den Augen schmerzte. Eine steinerne Rampe führte auf die Öffnung hinauf. Der Aufgang und die Öffnung zeigten Muster von Steinbearbeitung. Das Herz des jungen Priesters begann schneller zu schlagen, als er über den Boden schwebte. Dort konnte er deutliche Schleifspuren erkennen, die vom Ufer die Rampe hinaufführten. Zitternd begann er Boden und Wände abzusuchen. Zuerst fand er nichts, doch dann bemerkte er die goldenen Runen im Stein. Die Luft vor ihm flimmerte von Magie, die Neire begann zu untersuchen. Die Schule der Veränderung und die Form der Runen ließen ihn einen Zauberspruch erahnen, der die Bewohner warnen sollte. Neire mied den Bereich und schwebte höher, dem Licht entgegen. Als er in durch die Öffnung blickte, brannte das Licht in seinen Augen. Er wollte sie schließen, so groß war der Schmerz. Doch er musste beobachten, was hier war. So wischte er sich die Tränen von den Wangen und starrte in das grausame Licht. Hinter der Öffnung schaute Neire in eine weitere Höhle, die viel größer war. In der Mitte war ein Loch im Boden, das trichterförmig in die Tiefe wies. Dort brach der gleißende Strahl von Licht hervor. Er schien aus dem Unteren zu kommen. Von dort hörte er auch ein sonores Grollen. Die Höhle hatte andere Bereiche und Öffnungen, von denen einige durch hölzerne Bretter versperrt waren. Hinter einer halb geöffneten doppelflügeligen Türe sah er regenbogenfarbiges Licht hervordringen. Neire zog sich in die Schatten einer Felsspalte zurück und beobachtete schwebend die Höhle. Er horchte in die Dunkelheit. Eine Zeitlang passierte nichts. Dann hörte er Geräusche und bemerkte, dass zwei Gestalten schweigsam ihren Wachgang schritten. Beide waren in blank polierte Brustharnische gehüllt, trugen ein Schild mit dem Symbol einer Sonne und Strahlen sowie lange Bastardschwerter, die sie in Scheiden über den Rücken gelegt hatten. Beide hatten ein gerötetes Gesicht, wie von einem Sonnenbrand. Der kleinere Krieger hatte eine Glatze und braune Augen. Der größere hatte kurze, fast weiße, strohblonde Haare und hellblaue Augen. Als sie ihre Schritte entfernten hörte Neire Schnarchgeräusche und leise Stimmen. Hatten die Wachen vielleicht eine der Türen offenstehen lassen? Neire lauschte den gedämpften Worten, die dort flüsterten. „Wie lange noch… wie lange wird es noch dauern?“ Ein anderer Mann antwortete. „Ich weiß es nicht, Bruder. Vielleicht nicht mehr lange. Es ist schon länger keiner mehr da gewesen.“ Wieder war da die erste Stimme, die jetzt eindringlicher sprach. „Aber er hat Hunger und er muss kräftiger werden. Er muss wachsen. Was ist mit Oordrin, wieso lässt er nicht von sich hören?“ „Gerüchte, nur Gerüchte. Irgendetwas ist passiert in Dreistadt. Aber keiner hier weiß genau was.“ Die Beschwichtigungen wirkten anscheinend nicht, denn die besorgte Stimme zitterte jetzt. „Wieso sagt uns Ulf Kalthand nicht was dort passiert ist?“ Wieder war da die ruhige Antwort. „Ich weiß es nicht. Vielleicht muss sich Meister Wermgard selber kümmern. Vielleicht muss er nach dem Rechten sehen. Aber er hat keine Zeit… hat wichtigere Aufgaben.“ Die erste Stimme schien Ruhe zu geben und fragte deutlich unerregter. „Die Musiker… sie sind bald dran. Sollen wir sie wecken?“ „Nein, lasst sie noch ein wenig schlafen. Sie haben die wichtigste Aufgabe.“ Danach herrschte für einige Zeit Schweigen und Neire fürchtete die Nacht über dem Tal schwinden. Er wollte sich gerade auf den Rückweg machen, da hörte er abermals Stimmen. „Ehrwürdige Musiker, wacht auf.“ Die Stimme klang freundlich, bestimmt. Als das Schnarchen nicht aussetzte, wiederholte sie ihre Worte. „Ehrwürdige Musiker, es ist Zeit. Wacht auf, denn ihr müsset euren Dienst tun.“ Das Schnarchen verstummte und Neire hörte eine wohlklingende Stimme. „Habt Dank Bruder, ihr habt Recht. Es ist Zeit. Doch nicht für ihn, denn er wird seinen Schlummer fortsetzen. Es ist unsere Zeit, doch noch nicht die seine. Wir werden das Lied fortsetzen, um seinen Schlaf zu erhalten. Bis die Zeit für ihn reif ist.“ Als Neire die sich nähernden Schritte hörte, begann er in die Dunkelheit hinabzusinken. Er hatte genug gesehen und gehört und so verließ er lautlos die Höhlen unter der Adlerfeste.
~
„Sie saß dort in ihrem Turmgemach und hat bis in die Morgenstunden auf eine Rolle von Pergament geschrieben.“ Neire blickte Edda und Heergren an, die sich an den Schatten des Felsen lehnten. Sie saßen auf jener Seite, die der Adlerfeste abgewandt war und hatten bereits geruht. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand überschritten. Neire war nach dem Verlassen der Höhlen zur Adlerfeste hinaufgeschwebt. Dort hatte er in das Gemach des Kommandanten geschaut, an dessen Eingang Bargh, Wulfgar, Rognar und er einst gegen den Oger gekämpft hatten. Neire hatte dort Amria wiedergesehen, der sie zuvor in Dreistadt begegnet waren. Die stellvertretende Kommandantin der Adlerfeste hatte tiefe Augenringe gehabt. Im Fackellicht des Raumes waren ihr immer wieder die Augen zugefallen. Dennoch hatte sie beharrlich auf das Pergament geschrieben. Irgendwann hatte sie sich zu Bett begeben und Neire hatte einen Blick in ihr sonnengebräuntes, grobkantiges Gesicht erhaschen können. Unter den rotbraunen Haaren, hatte er die Striemen von Narben und die schiefe, wohl einst gebrochene Nase der Frau wiedererkannt. Neire dachte zurück, an das, was dann passiert war. „Als sie sich zum Schlaf niedergelegt hatte, bin ich in das Gemach gestiegen. Ich habe ihre Aufzeichnungen gelesen.“ Heergren und auch Edda lauschten aufmerksam seinen Worten. Aus Heergren brach es hervor. „Was habt ihr gefunden, Prophet?“ Neire nickte ihm zu, als er antwortete. „Nichts Besonderes. Hauptsächlich Aufzeichnungen über Truppenstärken und Nahrungsreserven. Es schien mir, als würden sie keine Lieferungen mehr aus Dreistadt erhalten. Zwar hat Amria Verstärkung aus Dreistadt mitgebracht, aber es war auch von zwei Deserteuren die Rede.“ Edda schien auf anderes gehofft zu haben. „Nur taktische Aufzeichnungen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie hat mich so mitleidig angeschaut in Dreistadt. Als wolle sie mir ihre Geheimnisse anvertrauen.“ Edda lächelte ihn an und er nahm ihre Hand. „Ihr habt wie immer Recht, meine Liebe. In dem Schreibtisch habe ich ein geheimes Fach entdeckt. Dort waren einige Zettel mit ihrer Handschrift.“ „Und?“, fragte Edda und ihre Augen weiteten sich. „Sie macht sich Gedanken über Dreistadt. Sie fragt sich, wie es sein kann, dass dort so viele Flüchtlinge aufgenommen und trotzdem mit Nahrung versorgt werden können. Sie fragt sich, woher sie das Geld dazu haben. Sie fürchtet sich aber davor, Oordrin zu fragen. Sie fürchtet die Antworten, die sie erhalten würde. “ Heergren verzog sein Gesicht in Abscheu, doch Neire fuhr fort. „Da waren auch Gedanken zu Ulf Kalthand. Sie schrieb, dass sie nicht mit ihm sprechen könne. Dass er sich nicht zeige und sich immer hinter einer silbernen Maske verberge. Sie fragt sich, was er in seiner Zeit mache, kommt aber dann zu dem Entschluss, seine Handlungen nicht zu hinterfragen, da er ja die Festung stark gemacht habe. Sie will sich weiter ihren Aufgaben widmen, auch wenn sie sich mit der gesamten Verwaltung und dem Kommando der Adlerfestung überfordert sieht. Auch berichtete sie von einer Begegnung mit einem Bäcker in Dreistadt – von seinen langen roten Haaren und seinen tiefblauen Augen. Sie schrieb, dass ihr Herz schneller schlug als er sie anlächelte. Sie hofft ihn einst wiederzusehen.“ In Eddas Gesicht war Mitgefühl zu sehen, als Neire seinen Satz beendete. Die junge Schattenmagierin strich sich die Haare zurück und flüsterte. „Amria… die arme. Sie hat sich so gekümmert um mich in Dreistadt. Sie hat etwas Besseres verdient, als dieses Schicksal. Vielleicht hat sie ihre wahre Liebe in Dreistadt entdeckt.“ Nach den Worten vollzog sich in Heergrens Gesicht die vollständige Wandlung zur hasserfüllten Fratze. Er spukte aus und sagte: „Wahhh… das ist nicht euer Ernst, Fräulein von Hohenborn.“ Edda kicherte nun diabolisch. „Mein lieber Heergren. Wie leicht seid ihr nur an der Nase herumzuführen. Ich würde nichts lieber tun, als dieses Weibsstück im Blitz meiner Schattenflammen leiden zu sehen.“
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Bis zum Abend des dritten Tages hatten sie gewartet. Bis auf einen Karren eines Händlers aus Kusnir, hatten sie keine weiteren Ereignisse gesehen. Sie hatten den gebrüllten Befehlen gelauscht, die sie über das Rauschen des Flusses hinweg hatten hören können. Der Händler hatte zwei große Säcke mit Mehl, einen Sack mit Broten und ein Fass mit gesalzenen, eingelegten Fischen übergeben. Als er seinen Rückweg nach Kusnir angetreten hatte, war wieder Ruhe eingekehrt. Sie hatten ihre Zeit damit verbracht die Wachwechsel zu beobachten und die Soldaten zu zählen. Als sich der Abend des dritten Tages näherte, hatten sie begonnen mit ihren Vorbereitungen. Sie hatten Sprüche der schwarzen Kunst gewirkt und ihre Waffen mit tödlichem Gift bestrichen. Edda hatte Heergren die Fähigkeit einer Fledermaus verliehen, sich über unhörbare Geräusche zu orientieren. Der Nachtzwerg hielt seitdem die Augen verschlossen und hatte seinen Mund geöffnet. Zudem hatten sie das schattenhafte Schild beschworen, das schützend ihre Körper umgab. Nachdem Neire hinaufgeschwebt war und von dem Nahen der Riesen berichtet hatte, hatten sie einen Schwur auf die Dame des abyssalen Chaos gesprochen und waren aufgebrochen. Neire hatte sie durch Raum und Zeit versetzt. Sie waren in den Schatten versunken und in der Höhle mit der Rampe erschienen. Edda hatte einige Zeit benötigt, um sich an das grelle, bleiche Licht zu gewöhnen, dass durch die erhöhte Öffnung brach. Dann hatte Neire die warnende Magie gebannt. Er war vorgeschlichen und hatte am Eingang der Höhle angefangen einen Zauber zu wirken. Als Edda und Heergren das dunkle Krachen von Metall gehört hatten, wussten sie um das Zeichen. Der Kampf sollte beginnen. Edda zog das Amulett mit dem kostbaren Opal hervor, das Heergren geschmiedet hatte. Augenblicklich umgab sie eine Sphäre aus totaler Schwärze. Doch sie beide konnten die Dunkelheit durchblicken. Edda durch ihre schattenmagischen Kräfte und Heergren durch die verliehenen Fähigkeiten der Fledermaus. Sie folgten Neire hinauf über die Rampe. Edda blickte aus der Sphäre der Dunkelheit in die Höhle, die jetzt in Düsternis gehüllt war. Über dem Loch im Boden lag eine gewaltige Platte aus schwarzem Metall. Es war die Wand aus Eisen, die Neire dort beschworen hatte und deren Umfallen sie vernommen hatten. Nur das regenbogenfarbige Licht drang noch aus der doppelflügeligen Türe hervor. Es war aber zu schwach, um die gesamte Höhle zu erhellen. Edda hörte Ausrufe der Überraschung. Sie sah die beiden Krieger von denen Neire erzählt hatte. Beide hatten ihre Bastardschwerter gezogen und riefen zum Alarm. Aus einer hölzernen Türe, des Bretterverschlages, an der gegenüberliegenden Höhlenwand, drangen einige Anhänger des Sonnengottes in die Höhle. Es waren vier Gestalten, die in glänzende Plattenpanzer gekleidet und mit Streitkolben bewaffnet waren. Ihre Gesichter waren gerötet, wie von einem Sonnenbrand. Edda vernahm auch von ihnen Ausrufe von Überraschung und Erschrecken. Hinter den vier Anhänger erschienen zwei weitere Gestalten aus der hölzernen Tür. Ein Mann mit schneeweißen Haaren und hell-blauen, fast weißlichen Augen. Sein Gesicht war eingefallen und so stark verbrannt, dass sich an einigen Stellen die Haut ablöste. Er trug eine Platte aus Gold auf dem Kopf, einen strahlenden Plattenpanzer und einen verzierten Streitkolben mit einem glänzenden Juwel. In der linken Hand hielt er einen knöchernen Gegenstand, geformt wie ein langer, gebogener Zahn. Die andere Gestalt war gekleidet in eine vielfarbige Robe, die einen verwirrenden Eindruck von wirbelnden Farben machte. Das Gesicht des Mannes mit den schneeweißen Haaren war von einem Grauen verzerrt. Er rief lauthals in Richtung der beiden Krieger. „Was ist hier los, wo ist das Licht? Es muss scheinen…“ Als er keine Reaktion vernahm, schrie er panischer. „Hebt es hoch, hebt es hoch verdammt nochmal… es muss scheinen… das Licht muss scheinen!“ Zwei der Anhänger begannen zu murmeln, während die Krieger versuchten die Eisenplatte, die das Loch bedeckte, hochzuheben. Ein Sonnenpriester beschwor Gebete, während der andere ein Lichtkegel in der Mitte der Höhle zauberte. Auch von Neire hörte Edda den schlangenhaften Singsang von Gebeten. Beschützt durch die Dunkelheit des Amulettes bewegten sie sich weiter in die Höhle hinein. Da hörte sie die Stimme des Priesters mit der goldenen Platte. Er hatte anscheinend gesehen, wie die Krieger sich vergebens bemühten die tonnenschwere Eisenplatte zu heben. „Lasst es… lasst ab. Zieht eure Waffen Brüder und beschützt die Musiker… beschützt sie mit eurem Leben!“ Edda sah die sechs Anhänger durch die hölzerne Türe verschwinden. Die Krieger ließen von der Eisenplatte ab und begannen sich aufzurichten. Heergren und sie bewegten sich weiter auf die Krieger zu. Sie spürte Neire neben sich, hörte seine Gebete. Sie gingen auf die Gestalten zu, die sich noch im Licht wähnten und gerade ihre Waffen aufnahmen. Flamme und Düsternis waren in den Tempel der Sonnenanbeter gekommen.
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