Autor Thema: [AD&D 2.5E] Von Feuer und Düsternis – Erzählungen aus Euborea  (Gelesen 24936 mal)

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Sitzung 25 - Von farbigen Pilzen und Mutproben
« Antwort #25 am: 29.07.2022 | 22:06 »
Der große Schankraum war eingehüllt in eine schummrige Atmosphäre. Durch die geschlossenen Fensterläden drangen hier und dort vereinzelte Lichtstrahlen. Erhellt wurde der Raum jedoch hauptsächlich von milchigen Öllampen. Bargh, Gundaruk und Neire saßen an einem der Tische, nahe des großen Kaminfeuers. Auch Gundaruk hatte mittlerweile sein Essen erhalten und so widmeten sie sich genüsslich dem knusprigen Fleisch. Bargh hatte bereits zwei große Humpen des faden Biers getrunken und einen seiner beiden Teller hastig geleert. Jetzt ließ er sich etwas zurücksinken, verlangsamte seine Ess- und Trinkgeschwindigkeit und ließ ein lautstarkes Rülpsen von sich. Während Bargh sich nicht besonders für die weiteren Gäste zu interessieren schien, blickte sich Neire immer wieder im Raum um und betrachtete die Gesellschaft der drei Bauern sowie den vereinzelt sitzenden älteren Mann. Neire fragte sich, ob alle Bewohner der Oberwelt ein solch tristes und trostloses Leben fristeten. Ob ihre einfältigen Geister nicht in der Lage waren von Größerem zu träumen. Als Gundaruk den fettleibigen Wirt ein weiteres Mal zu ihrem Tisch rief, erhob er zischelnd seine Stimme. „Mensch… seid ihr alle eines kargen Geistes Kinder? Seid ihr Sklaven in diesem Lande?“ Der Wirt, der die vier randvoll gefüllte Bierhumpen auf ihren Tisch gestellt hatte, wollte sich bereits wieder seinem Spieß widmen. Er zuckte auf bei Neires Frage und blickte unterwürfig zu Boden - als wollte er nach einer Antwort suchen. Eine Antwort auf zwei Fragen, von denen er mindestens eine nicht richtig verstand. „Junger Herr, Sklaven sagt ihr? … Nein Sklaven gibt es hier nicht… ähh… vielleicht in den Küstenlanden. Dort gibt es sicher Sklaven. In den Küstenlanden… Sklaven, ja.“ Neire war bereits gelangweilt während er sprach und musste grinsen über die armselige Kreatur, doch Bargh erhob seine tiefe Stimme. „Dann trinken wir auf die freien Menschen von Kusnir, freie Menschen wahrlich…“ Seine Stimme erfüllte den Raum und klang seinem Trinkspruch genehm, doch Neire ahnte den Spott, als er in das Gesicht von Bargh blickte. Weiter kam der Krieger Jiarliraes allerdings nicht. Ein Bauer mittleren Alters hatte sich bereits erhoben, forderte seine beiden Kameraden auf es ihm gleichzutun und erwiderte Barghs Trinkgruß: „Auf die freien Menschen von Kusnir, Freunde! Gesellt euch gerne zu uns, wir machen Platz und die nächste Runde geht auf uns.“

Neire betrachte die drei Bauern und den in sich gesunkenen älteren Mann. Sie hatten ihre Tische am Feuer des Kamins zusammengestellt und der Wirt hatte eine weitere Runde des faden Bieres gebracht. Neire hatte sich bis jetzt zurückgehalten und die vier Fremden mit einer Mischung aus Neugier und latenter Arroganz gemustert. Der mittelalte Bauer hatte sich erneut gehoben und leicht verbeugt, bevor er zu sprechen begann. „Gestattet mir uns euch vorzustellen, edle Herren. Mein Name ist Siguard Einhand, das ist mein jüngerer Bruder Lorkan und der ältere hier heißt Lorn… Ach ja, dann ist da noch der, der das miesepetrige Gesicht zieht. Er ist unser Dorfvorsteher, Kurst.“ Tatsächlich nickte der ältere, korpulente Mann mit dem speckigen Lederwams ihnen zu, als er seinen Namen, Kurst, hörte. Für einen kurzen Moment lang herrschte Schweigen, dann war die zischende Stimme von Neire zu hören. „Es wäre unhöflich, wenn wir uns nicht vorstellen würden… Mensch. Das ist Gundaruk. Er war tot, doch er ist aus dem Grab in das Reich der Lebenden zurückgekehrt. Hier sitzt Bargh, der Drachentöter. Mein Name ist Neire.“ Die Bauern hatten sie - bis auf Kurst - mit bewundernden Augen angestarrt. Sie schienen auf etwas zu warten, als Neire sich zuletzt vorstellte und so fuhr er fort. „Ich diene Heria Maki, sie ist Schatten und bringt das Feuer. Sie belohnt die Rechtschaffenen und bestraft die Frevler.“ Tatsächlich sah Neire, dass Kurst seinen bereits wieder hinabgesunkenen Kopf ein weiteres Mal erhob und irgendetwas in seinen Augen aufblitzte, als er den Namen Heria Maki und die Rechtschaffenen hörte. „Trinken wir auf Heria Maki!“ sprach Bargh, während er versuchte ein Grinsen zu verbergen. Siguard, bereits deutlich lallend, war der erste der reagierte. „Auf Herio Mako! Wir trinken auf sie.“ Jetzt musste auch Neire lachen. Vielleicht ahnen sie es und spüren die Schwäche von Heria Maki. Würden sie so den Namen der Schwertherrscherin in den Mund nehmen, würde ich sie auf diesem Spieß rösten. Neire malte bereits das Bild in seinen Gedanken, wie die Bauern dort bei lebendigem Leibe brennen würden. Doch er mochte sie auch irgendwie. Er mochte ihre trunkene Einfalt. Und sie hatten bereits über Heria Maki gespottet, indem sie ihren Namen fehlerhaft gelallt hatten. Während er noch nachdachte, sprach Siguard bereits weiter. „Ich habe auch große Taten vollbracht, müsset ihr wissen, edle Herren. Ich habe die blauen Teufel gejagt. Bis in ihren Bau. Gejagt und getötet habe ich sie.“ Neire hatte in alten Schriften von blauen Teufeln gehört. Niederträchtige Wesen mit bläulich schimmernder Haut, die in Hügeln und Mittelgebirgen lebten. Sie waren böse und hinterlistig und so glaubte er den Worten von Siguard nicht ganz. „Es ist schon eine Schande, dass jetzt der Bau wieder bewohnt ist.“ Beide Bauern nickten, während Siguard fortfuhr. „Ein übles Wesen hat sich dort eingenistet. Es hat bereits unser Dorf überfallen. Sogar eine ganze Familie wurde getötet. Sogar Frauen und Kinder. Könnt ihr das glauben? Sogar Kinder.“ „Es ist ein Skulk, der in unserem Land sein Unwesen treibt. Diesem Unwesen muss ein Ende bereitet werden. Doch die Söldner, die Krieger sind alle hinfort. Es ist ein Fluch.“ Kurst, der seine tiefe, klare Stimme erhoben hatte, ließ jetzt wieder den Kopf sinken und grübelte weiter. „Wie hoch sind eure Verluste, Kurst. Könnt ihr nicht die Natur um Hilfe bitten?“ Gundaruk, hatte sein Luchsfell von seinem Kopf zurückgezogen und seinen haarlosen großen Schädel offenbart. Er blickte auf Kurst hinab und seine Worte waren fast fordernd. „Wir haben viele Tote zu beklagen. Ich muss gestehen, ich habe sie nicht gezählt. Doch die Natur? Früher gab dort etwas, wie ein Schimmer über dem See, den Feldern und den Hainen… Ehlonna. Sie beschützte das Land und gab uns reiche Ernten. Doch sie ist fort. Nun müssen wir selber zurechtkommen. Es braucht Ritter oder rechtschaffene Krieger hier. Vielleicht könnt ihr uns helfen, ihr dient der rechtschaffenen Göttin des Feuers, ja?“ Neire sah die Verzweiflung im Blick des alten Mannes, doch das erregte kein Mitleid in ihm. Es waren eher die Geheimnisse des Skulks, die ihn reizten. Von dieser Kreatur hatte er nämlich noch nichts gehört. „Wir sind auf der Suche nach Geheimnissen, Mensch. Ich habe die roten, arkanen Runen gesehen, die in eurem Dorf im Holz zu sehen sind,“ antwortete Neire, dessen seltsamer Singsang und Akzentuierung trunkene Blicke auf sich zog. Auch konnte man immer wieder seine gespaltene Zunge sehen, wenn er sie zwischen den Worten über seine weiß glänzenden Zähne gleiten ließ. „Dann könnt ihr also die Zeichen lesen? Es war der Skulk, der sie mit dem Blut seiner Opfer dort hinterließ.“ Die Worte von Kurst, der seinen lethargischen Zustand längst verlassen hatte, klangen verzweifelt und eindringlich. Neire bemerkte, dass der Dorfvorsteher zudem begann zügiger an seinem Bier zu trinken. „Wir können euch helfen, Mensch. Doch Heria Maki benötigt ein Brandopfer. Ihr solltet uns nach getaner Aufgabe belohnen und wir werden dieses Brandopfer verrichten. Grüne Edelsteine, wie Smaragde oder Jade, nehmen wir gerne an.“ Kurst dachte einen Moment nach. „Grüne Edelsteine haben wir leider nicht. Doch wir haben Edelsteine. Ich kann euch aus dem Familienerbe bezahlen. Rubine und sogar ein paar Diamanten.“ Neire blickte zu Bargh und sah, dass sein Begleiter nickte. Auch Gundaruk schien nichts gegen das Vorhaben einzuwenden. „Dann soll es so sein, Mensch. Ihr werdet uns morgen den Weg weisen und wir werden uns der Sache annehmen. Doch lasst uns trinken jetzt! Wirt, bringt uns eine Fiedel oder eine Harfe. Wir wollten singen und feiern!“ Die Bauern begannen zu jubeln und auch Kurst leerte seinen Humpen in einem Zug. Als der Wirt mit neuen Bierhumpen zum Tisch kam und den Besitz einer Fiedel oder Harfe verneinte, hatte Neire bereits mehrere kleine Stücke eines gelblichen Pilzes auf den Tisch fallen lassen. „Und lasst uns das fade Gesöff mit diesem Gewürzpilz aufbessern. Diese Pilze verleihen einem Getränk das gewisse Etwas.“ Zu seiner Überraschung sah Neire, dass Lorkan, der jüngste der Bauern, bereits einen Pilz verschlungen hatte und den Humpen zu mehreren gierigen Schlücken ansetzte. Nur Siguard schien ablehnend gegenüber dem Vorschlag zu sein. „Kommt Siguard oder habt ihr etwa Angst. Selbst euer Dorfältester hier will mit uns anstoßen.“ Tatsächlich nahm auch Gundaruk jetzt einen Pilz, stand auf und blickte auf den zögerlichen Bauern hinab. „Nun gut, dann lasst uns trinken!“ Neire beobachtete belustigt, wie sie gierig das Bier tranken und bereits ein neues forderten. Er würde ihnen schon zeigen wie man richtige Feste feiert. Nach einiger Zeit des trunkenen Austausches – Lorkan konnte fast nicht mehr reden und schwankte im Sitzen – erhob Neire wieder seine Stimme. „Mensch, ihr sagtet ihr habet die blauen Teufel bekämpft. Ihr müsst wahrlich mutig sein. Aber so mutig, dass ihr euch traut ein Spiel mit mir zu spielen?“ Neire hatte auf Siguard gezeigt, bei dem der Alkohol bereits deutliche Wirkung zeigte. „Ein Spiel meint ihr, eh? Natürlich spiele ich ein Spiel mit euch.“ Neire fing an zu grinsen und strich sich seine gold-blonden Locken zurück. Er zog zwei Platinstücke nebelheimer Prägung hervor und legte sie auf den Tisch. Eine leichte Wehmut befiel ihn, als er das Wappen von Nebelheim auf den Münzen glitzern sah; den Chaosstern, der dort in die Andeutung der Menschenschlange des wahren Blutes eingeflochten war. „Es ist ein Spiel zu Ehren der Göttin, Heria Maki. Wenn ihr die Münze länger in der Hand halten könnt, seid ihr der Sieger und dürft die beiden Stücke behalten. Vielmehr noch bestätigt die Göttin eure Rechtschaffenheit mit der Reinheit des Feuers.“ Sie sahen alle, dass Siguard seine Faust auf den Tisch knallen ließ. „Ist das das Spiel? Natürlich werde ich gewinnen.“ Noch während er lachte stand Neire auf, nahm die Münzen und schritt zum Feuer. Er blickte dabei zu Bargh und sah, dass der Krieger ihm zunickte. Neire nahm eine Ascheschaufel und stieß die beiden Platinmünzen vorsichtig unter die Glut der dicken Holzscheite. Er trat zurück und blieb hinter den Tischen stehen. „Erhebet euch für das Spiel, Menschen. Wir werden in Kürze beginnen.“ Tatsächlich erhoben sich die Bauern. Bargh, der jetzt eine Hand auf sein Schwert gelegt hatte stellte sich an den Kamin. Die Flammen schimmerten auf seinem silbernen Plattenpanzer. Neire spürte, dass der Pilz jetzt seine volle Wirkung entfaltete. Wärme raste durch seine Arme und verstärkte die Wirkung des Rausches. Doch nicht in geistes-vernebelnder Form. Die Farben um ihn herum waren nicht mehr so trist. Das Feuer glänzte wie tanzende Schatten und transparente Arme aus Flammen. Die vier Säulen des Raumes hörte er ächzen, die hölzernen Wände flüstern. Auch die Bauern waren wie in einem tiefen Rausch. Kurst torkelte schwankend hin und her und rief abgehackte Worte. Lorkan war bereits an einem Tisch zusammengesunken und Lorn, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, sprach Worte des Abschiedes und verschwand. Neire spürte, dass sein Geist sich langsam öffnete. Er trat an das Feuer und beförderte die Platinstücke auf die Schaufel. Sie funkelten glühend wie kleine Sterne und zogen im Rausch lange feurige Fäden mit sich mit. Neire schwankte zu Siguard hinüber und reichte ihm die Schaufel. Nur aus den Augenwinkeln sah er, dass Kurst, in einem Anfall von blindem Wahnsinn, nach einer der brennenden Münzen greifen wolle. Doch er zog die Schaufel rechtzeitig zurück und der alte Mann torkelte ins Leere. Als Siguard zögerte sprach Neire. „Stimmen eure Geschichten, ist euer Heldenmut wahr? Oder seid ihr doch ein Feigling? Ein Feigling, der selbst weit unter eurem Dorfältesten steht.“ Neire deutete dabei in Richtung von Kurst, der in ein paar Stühle gefallen war und gerade versuchte sich aufzurichten. Die Blicke lagen jetzt auf Siguard. Gundaruk stand hinter ihm und Bargh rückte bedrohlich näher. Noch immer zögernd begann der Bauer nach der Münze zu greifen. Auch Neire zog jetzt seine linke, grausam verbrannte Hand hervor. Im letzten Moment realisierte Siguard die Brandwunden an Neires Arm. Doch es war zu spät. Er hatte das glühende Metall bereits ergriffen und es brannte sich zischend in seinen Handballen hinein. Einen Moment lang versuchte er die Münze zu halten, doch der Schmerz war zu groß. Er ließ sie fallen und brach auf die Knie. Neire hielt seine Münze hoch. Sie brannte in seinem Fleisch und er genoss den Schmerz. Er blickte in die Flammen und suchte nach Zeichen. Seine Augen funkelten wie brodelndes, dunkles Magma, als er vor dem Kamin zu tanzen begann. Er sang den Choral einer fremden zischelnden Sprache und Bargh stimmte ein. Der Schankraum um ihn herum versank in einem feurigen Traum aus Licht und Schatten. Zeichen im Feuer sah er nicht, doch er dachte an die Münze und das Wappen von Nebelheim, dass der Bauer nun für immer mit sich herumtragen würde. Eine innere Freude erfüllte ihn als er den Gedanken sponn. Er musste sein eigenes Symbol weben. Es musste die Runen des Chaos tragen und die Dualität weisen. Er dachte an Schatten und Feuer.

Als Gundaruk wach wurde hämmerte sein Kopf. Sie hatten zu dritt in einer kleinen Dachkammer übernachtet, die der Wirt mit improvisierten Strohlagern für sie hergerichtet hatte. Er erinnerte sich nur noch schemenhaft an den letzten Abend. Die Bauern waren einer nach dem anderen im Suff zusammengebrochen und hatten schließlich schlafend auf dem Boden des Schankraumes gelegen. Als Neire seinen Tanz beendet hatte, hatten sie nach dem Nachtlager verlangt und der Wirt hatte den Raum verlassen. Neire war zu den Bauern getreten und hatte Bargh aufgefordert ihm zu helfen sie zu entkleiden. Als die Bauern schließlich nackt dort lagen, hatte Neire sich ein Stück erkaltete Kohle geholt. Er hatte begonnen obszöne Zeichnungen auf die Körper zu malen, die andeuteten, dass die Bauern sich gegenseitig verspottet hätten. Bargh und er hatten immer wieder gelacht und weiter Bier getrunken. Auch Gundaruk hatte die Szene belustigt. Er erinnerte sich an vergangene Abende im Krieg. Als sie nach einer siegreichen Schlacht in den immer noch warmen Ruinen einer abgebrannten Burg gezecht hatten. Die Menschen waren immer zuerst umgefallen, während er der letzte gewesen war. Ja, der Krieg. Er war grausam gewesen, doch er hatte die Abende ausschweifender, die Freundschaften und Gefühle intensiver gemacht. Schließlich war der Wirt zurückgekehrt und hatte gefragt was passiert war. Neire hatte geantwortet. Er hatte erklärt, dass die Menschen die Fassung verloren hätten. Dass ihnen der Alkohol zu Kopf gestiegen sei. So hatte schließlich er, Gundaruk, die nackten Leiber vor die Türe des Gasthauses geschleift. Das ganze Dorf sollte schließlich sehen, was den Zechern widerfahren war. Tatsächlich hatte er irgendwann im Halbschlaf das Lachen und das Applaudieren einer Menge gehört, die sich anscheinend vor dem Gasthaus gesammelt hatte. Gundaruk richtete sich auf und kleidete sich an. Die Luft in der engen Kammer war schlecht und er erinnerte sich schwach an das Ritual der Fackeln, dass das Kind der Flamme am letzten Abend noch durchgeführt hatte. Er raffte seine Sachen zusammen und ging durch das Gasthaus ins Freie. Von den Bauern war keine Spur mehr zu sehen. Die Sonne war bereits aufgestiegen und brach hier und dort durch die Wolken hindurch. Er vernahm den Geruch des Sees und der Felder und zog tief die Luft ein. Er spürte noch immer den Alkohlrausch und die Wirkung des bunten Vierlings. Die Farben waren so intensiv, das Sonnenlicht so lieblich. Es war, als ob seine Sinne geschärft, als ob er immer noch in Tierform verwandelt wäre. Er konnte sogar den Duft von Gras und Kräutern riechen, die an den Rändern der Straße wuchsen. Gundaruk fasste den Gedanken und begann zu suchen. Hier und dort pflückte er Kräuter, als er durch das Dorf schritt. Nach einiger Zeit kam er zum Gasthaus zurück, mit einem Bündel von Pflanzen. Er bemerkte, dass dort Bargh und Neire zu sehen waren, die gerade ihre Pferde sattelten. „Ah, Gundaruk. Da seid ihr.“ Neire winkte ihn heran und er bückte sich unter das Dach des Stalls. Neire trat jetzt näher und begann zu flüstern. „Gundaruk, ich habe die Runen Kraft meiner Göttin untersucht. Eine schwache Magie, doch ich konnte die Bedeutung erahnen. Es ist wie eine Botschaft, wie ein Hilferuf.“ Gundaruk sah Falten auf Neires gerader Stirn. „Die Worte befreit mich und Träger konnte ich entziffern. Vielleicht ist von einem alten Gegenstand die Sprache. Vielleicht von einem alten Fluch, um dessen Träger es hier geht.“ Gundaruk nickte und dachte nach. Auch er hatte von alten Geschichten gehört. Legendäre Gegenstände die in vergangen Zeiten erschaffen wurden. Oftmals hatten sie ihre Träger ins Verderben gestürzt. Geschichten rankten sich nicht nur um ihre Erschaffung, sondern auch um ihre Vernichtung. „Lasst uns erst einmal zu Kurst gehen und ihn nach dem Weg fragen.“ Gundaruk deutete zudem auf die Gräser, die er in beiden Händen trug. „Ich habe außerdem etwas vorbereitet, um ihnen zu helfen. Vielleicht ist ja doch noch ein Teil von Ehlonna hier, der mir antworten wird.“ Er sah jedoch, dass ihn Neire angewidert anschaute, als er den Namen erwähnte. „Die Götter sind schwach Gundaruk… nur die Schwertherrscherin, nur Jiarlirae…“ Gundaruk zuckte mit den Schultern. Er musste es versuchen. Was in der Zeit passiert war, seit er in diesem Grab gelegen hatte? Er musste es selbst herausfinden. Nach kurzer Zeit kamen sie über den Lehmweg zum Steinhaus des Dorfvorstehers. Es war neben dem Gasthaus das zweite Haus aus Stein, dass es in Kusnir gab. Bargh trat hervor und schlug mit seinem gepanzerten Handschuh gegen die hölzerne Eingangstüre. Doch das dumpfe Donnern provozierte keine Reaktion. Ein weiteres Mal, jetzt noch lauter dröhnte der Schlag. „Kurst, alter Säufer! Kommt hervor.“ Nach kurzer Zeit waren tatsächlich Geräusche zu hören und ins Sonnenlicht trat der gezeichnete alte Mann. Noch immer waren die verwischten Symbole der Kohle an seinem von Schlamm besudelten Oberkörper zu sehen. Zudem konnte Kurst anscheinend kaum seinen Hals bewegen. „Was wollt ihr?“ ächzte er mit heiserer Stimme. „Kurst. Weißt uns den Weg zum Bau. Wir werden heute aufbrechen,“ sprach Neire. Sie lauschten den abgehackten Worten des Dorfvorstehers. Als er seine Beschreibung beendete, trat Gundaruk hervor. „Kurst, ich habe Kräuter und Pflanzen gesammelt und werde versuchen eure Göttin anzurufen. Vielleicht wird Ehlonna euch helfen und weitere reiche Ernten schenken.“ Kurst starrte ihn einige Zeit an. „Tut was ihr nicht lassen könnt, Gundaruk. Ich weiß, ihr meint es gut mit uns, doch Hoffnung habe ich nicht.“ Damit trat der Mann in die Schatten zurück uns ließ die Türe hinter sich zufallen. Gundaruk begann mit seinem Speer Kreise in das Gras des kleinen Platzes zu zeichnen. Er verstreute die Kräuter und murmelte die Gebete zu Ehlonna. Neire und Bargh beobachteten ihn wortlos vom Rücken ihrer Pferde. Gundaruk beendete das Ritual, doch er spürte keine Antwort, keine göttliche Resonanz. Er war sich auch nicht sicher ob der Zauber gewirkt hatte. So brachen sie auf und folgten der Beschreibung. Gundaruk ging neben den beiden Pferden her. Nach einiger Zeit gelangten sie an einen Fluss und dann in einen Wald, in dem das Wasser schneller dahinschoß. Das Gurgeln erfüllte die von Vogelstimmen erfüllte Umgebung. Die Sonne stand mittlerweile hoch am bewölkten Himmel und vertrieb langsam die Nässe des gefallenen Regens. Gundaruk sah, dass Neire immer wieder den Wald und die Sonne betrachtete. „Neire, der Wald. Er scheint euch zu gefallen.“ Bemerkte Gundaruk und deutete mit seinem Speer in das schattige Unterholz. „Die Oberwelt ist groß und der Wald ist voller Schatten. Er scheint die Sonne zu verschlucken.“ Gundaruk nickte und antwortete bedacht. „Die Sonne und der Wald. Die Sonne dringt nicht tief hinein, doch der Wald benötigt die Sonne. Fast wie euer Dualismus von Schatten und Feuer. Vielleicht kann ich Ehlonna zurückbringen, vielleicht hat sie dieses Land nur vergessen.“ Gundaruk sah, dass sich die Miene Neires augenblicklich verfinsterte. Die Neugier und Freude in seinem Gesicht waren hinfort. „Ah, dieser Name einer schwachen Kreatur. Vielleicht solltet ihr ein paar Menschen opfern, den Boden mit ihrem Blut tränken und sie dann essen. Vielleicht ist es das, was Ehlonna braucht.“ Gundaruk blickte ausdruckslos in das spottende Gesicht Neires. Es überkam ihn ein seltsames Gefühl, wie ein dunkler Bote. Ein Gefühl, dass er nicht deuten konnte, dass ihn abstieß, aber auch seine Neugier weckte.
« Letzte Änderung: 5.08.2022 | 22:44 von FaustianRites »

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Sitzung 26 - Der Bau
« Antwort #26 am: 5.08.2022 | 22:41 »
Durch die Baumwipfel drangen Sonnenstrahlen des von Quellwolken überzogenen Himmels. Die Luft war klar und es roch nach nassem Wald. Um sie herum war das Gluckern des Bachlaufs zu hören, der den dichten Wald wie eine Schneise durchzog. Sie hatten mit den Pferden am kleinen Fluss haltgemacht. Die Tiere grasten jetzt dort und tranken das klare Wasser, das aus den nahen bewaldeten Bergen stammen musste. Eine Zeitlang waren sie dem Fluss in die Richtung der Hügel gefolgt, deren rollende Höhen sie immer wieder dunkel über dem Wald hatten aufragen sehen können. Neire zog die Luft ein und betrachte vom Rücken seines Pferdes seine Mitstreiter. Er genoss jeden Moment in der ihm fremden Oberwelt, in der er sich von Tag zu Tag sicherer fühlte. Ab und an war ein Vogel im Unterholz zu hören, mal konnte er Eichhörnchen sehen, die von Baum zu Baum sprangen. Neire blickte einen kurzen Moment zu Bargh. Der Alkohol und die Pilze der gestrigen Nacht hatten das Gesicht des jungen Krieger Jiarliraes gezeichnet. Das linke Auge, das Bargh nicht mit der Binde überdeckt hatte, wirkte glasig. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn und auf seinem von Brandnarben bedeckten, haarlosen Schädel gesammelt. Als ob Bargh seine Gedanken erahnen konnte, drehte sich der einstige Paladin auf seinem Reittier sitzend um und griff in eine der Satteltaschen. Bargh förderte einen von den Weinschläuchen hervor, die sie aus der verlassenen Feste mitgenommen hatten. „Neire, nehmt einen Schluck. Der Wein wird unsere Laune steigen lassen.“ Neire beugte sich zu Bargh hinüber und nahm wortlos den Schlauch entgegen. Auch er spürte eine Leere in seinem Kopf, die immer wieder plagende Gedanken hervorrief. Er trank mehrere Schlücke des würzigen Tranks bevor er in Richtung Gundaruk nickte. „Gundaruk, was ist mit euch? Probiert den Wein aus der verlassenen Feste, er ist wirklich vorzüglich.“ Neire wollte zu Gundaruk hinabreichen, doch der große Krieger verneinte kopfschüttelnd. „Wir sollten uns auf unsere Aufgabe konzentrieren. Ich will klar denken können, um meine Umwelt richtig wahrzunehmen. Ich will auf alle möglichen Ereignisse vorbereitet sein.“ Neire reichte den Schlauch wieder Bargh hinüber, der gierig einige tiefe Züge nahm. „Ahhh… Gundaruk,“ sprach Bargh in abfälligen Worten und wischte sich den an seinem Kinn herunterlaufenden Wein mit seinem Panzerhandschuh hinfort. „Ein paar Schlücke Wein haben auch vor einem Kampf nie geschadet. In einer Kneipenschlägerei, wie auch in einem Gemetzel, kann eine leichte Trunkenheit von Vorteil sein.“ Um seine letzten Worte zu unterstreichen schlug sich Bargh mit dem Handschuh gegen die silberne Brustplatte seines leicht verbeulten Plattenpanzers. Neire spürte jetzt die Wirkung des Alkohols und seine Laune stieg. Er blickte zu Gundaruk, der sich mittlerweile in einen Kniesitz begeben und seine Luchsfellmütze von seinem kahlen Schädel gezogen hatte. „Gundaruk, wie lange wart ihr eigentlich in diesem Grab gefangen? Kann es sein, dass ihr dort das Leben und das Feiern vergessen habt?“ Mit einer Kopfbewegung deutete Neire lächelnd auf den Wein. „Ich weiß es nicht Neire. Sagt, welches Zeitalter, welches Jahr haben wir jetzt?“ Neire war erstaunt von der Ernsthaftigkeit in Gundaruks grünen Augen. Der immer noch ein wenig fremde, große Krieger schien anscheinend wirklich nicht zu wissen, wie lange er dort verbracht hatte. „Es ist das Zeitalter von Ziansassith. Ziansassith, Menschenschlange des wahren Blutes.“ Als Neire den Namen des vergangenen Herrschers von Nebelheim zischelnd aussprach, meinte er für einen Augenblick den Wind in den Wipfeln rascheln. Es war, als wollten ihm die Lichtstrahlen der Sonne einen Weg in die Schatten weisen.

Sie waren eine Weile dem Fluss gefolgt, der sie langsam bergauf führte. Gundaruk war voraus gegangen, während Bargh und Neire ihm auf ihren Pferden folgten. Neire hatte während der Reise erzählt und ihre Umgebung kommentiert. Er – Gundaruk - hatte unweigerlich zuhören müssen. Doch er hatte sich langsam an den Jüngling mit den gold-blonden Locken gewöhnt, der sich selbst Kind der Flamme nannte. Teilen des Gespräches zwischen den beiden hatte er allerdings nicht folgen können. Er hatte bemerkt, dass Bargh und Neire sich immer öfter in einer fremden Sprache unterhielten, die ihn an einen zischelnden Singsang erinnerte. Er hatte bereits vermutet, dass Neire Bargh in einer fremden Lautung unterrichtete. Bargh schien bereits einige Sätze zu beherrschen. Als die Sonne höher stieg, war der Weg am Fluss schließlich steiler geworden. Auch hatten sie mehrere kleinere Stromschnellen umrunden müssen. Schließlich waren sie auf eine große Lichtung gestoßen, die von bewaldeten Hügeln umrundet war. Hier hatten sie abgesattelt und Bargh hatte Spuren entdeckt, die von dem Hügel in ihre Richtung geführt hatten. Die Spuren waren von den Stiefeln von vier Gestalten zu identifizieren gewesen, von denen eine leichter war. Sie hatte weniger tiefe Abdrücke hinterlassen. Auch konnte Bargh feststellen, dass die Spuren wohl relativ frisch waren – weniger als einen Tag alt. Gundaruk dachte einen Moment nach und erinnerte sich an alte Geschichten aus dem Krieg. Vielleicht sind es Späher, die wie wir den Bau erkundschaften. Doch dann müssten doch auch Spuren in diese Richtung führen. Vielleicht haben sie sich aus einer anderen Richtung angeschlichen und sind dann hier am Fluss in Richtung Kusnir weitergereist. Wir sollten jedenfalls auf der Hut sein. In der Ferne, in die Bargh die Richtung der auf sie zukommenden Spuren deutete, hatte Gundaruk das Bollwerk einer Einzäunung gesehen. Ein Wall von angespitzten Baumstämmen ragte vom höheren Teil der Lichtung hervor. Von dort war keine Bewegung zu sehen gewesen. Seine Erfahrung hatte Gundaruk instinktiv handeln lassen. Er hatte Neire mit den Worten „Könnt ihr euch noch an die Krähe vor Kusnir erinnern, Neire?“ angegrinst. Doch mit dröhnendem Kopf und steifem Nacken war der Schmerz der Verwandlung noch unerträglicher gewesen. Zuerst hatte sich alles gedreht, als er sich in der Gestalt der großen schwarzen Krähe in die Lüfte erhob. Doch dann hatten mehr und mehr die Instinkte des Tieres Kontrolle übernommen. Jetzt hob er sich höher und höher. Die Winde und Luftströmungen trugen ihn hinauf. Seine scharfen Augen überblickten die Lichtung, die anscheinend gerodet war. Modernde Baumstämme und Geäst bedeckten den größten Teil des Schlags. Den Fluss sah er von hier oben wie ein glitzerndes Band. Dieser machte eine große Schleife um die Lichtung und verschwand dann im Wald der höheren Hügel. Vorsichtig näherte sich Gundaruk dem primitiven Wall. Er sah dort Speere aufragen, wie die von Wachen. Doch keine Bewegung. Auf der Hügelkuppe war zudem ein kleiner Turm zu erkennen, der als einstöckige Plattform aus Baumstämmen errichtet war. Auch von dort war keine Bewegung zu erkennen. Gundaruk zog langsam einen langen Kreis über den Turm und in Richtung des Flusstals. Dann sah er plötzlich das gähnende schwarze Loch im Hang des Hügels. Unweit des Lochs konnte er zudem eine Bresche im Wall erkennen. Doch auch dort war keine Bewegung zu sehen. So kehrte er wieder zurück. Seine Krähenlaute hallten durch das einsame Tal und kündeten von seiner Ankunft.

Bargh und Neire hatten die Pferde am Rande der Lichtung ein Stück in den Wald geführt. Sie hatten ihnen gut zugesprochen und sie dort zum Grasen zurückgelassen. Daraufhin waren sie zum Fluss zurückgekehrt und hatten auf die Rückkehr der Krähe gewartet. Neire hatte die Zeit genutzt und sich am Fluss gewaschen. Gerade schaute er in das klare, quirlige Wasser hinab, das sein Antlitz immer wieder verzerrte. Der Wein und der Rausch des bunten Vierlings ließen das Sonnenlicht tausendfach brechen. Als ob jede Blase im Wasser ein kleiner funkelnder Stern wäre. Neire war so bewegt von dem Schauspiel, dass er an Nebelheim zurückdachte. Er dachte an Lyriell. Ihr Gesicht vom kostbaren Goldstaub glitzernd erhellt. Die langen roten Haare schimmernd in den Flammen des Festes – gleich einer Corona über ihm aufragend. Er erinnerte sich, wie sie von ihm gegangen war. Wie sie in der Tiefe verschwand. Tränen rollen über Neires Wange und er murmelte ihren Namen. In diesem Moment spürte er den Panzerhandschuh auf seiner Schulter. Er hörte die Stimme Barghs. „Neire, ihr sagtet ich sei wie ein Bruder für euch. Eigentlich geht es mich nichts an. Doch als dieser Bruder frage ich euch. Was bedrückt euch? Wer ist Lyriell?“ Neire blickte zu Bargh auf und seine blauen Augen schimmerten glasig. „Sie war meine erste und einzige Liebe, Bargh. Doch nun ist sie fort. Sie ist in das Reich der Göttin eingekehrt und für immer vereint mit Feuer und Schatten.“ Als Neire sprach, blickte er den gezeichneten Krieger vor ihm an. Er wusste, er lebte im jetzt und Lyriell war weit weg; vielleicht für immer fort. „Bargh. Wir müssen Nebelheim retten. Lyriell war nur der Anfang. Sie öffnete mir die Augen. Der nächste Schritt ist eure Aufgabe und wir müssen zuerst eure Maske herstellen.“ Neire, bemerkte, wie Bargh nickte und ihn mit fanatischem Blick anschaute. „Was immer wir tun müssen Neire, ich bin bereit.“ Neire drehte sich um und ließ seinen Blick über das Tal schweifen. „Also, wo ist diese verdammte Krähe?“ Kaum hatte er die Worte beendet, hörten sie die Schreie des großen Tieres. Sie sahen, dass Gundaruk unweit von ihnen landete und sich qualvoll verwandelte. Als der große Krieger sich schließlich erhob und ihnen von seinem Flug über das Lager berichtete, war Neire hervorgetreten und hatte eine schwarze Feder von seiner Schulter gehoben. Gundaruk hatte dabei auf ihn hinabgeblickt und die Worte „Ihr dürft die Feder behalten Neire“, gesprochen. Neire hatte dabei genickt und an alte Prophezeiungen und Flüche gedacht. Wer sollte schon wissen, welchen Zweck diese Feder einst erfüllen würde. Doch schon hatte Bargh das Wort ergriffen, der voll Tatendrang in Richtung des Walls zeigte. „Lasst uns aufbrechen. Wir werden niedermachen, was sich uns in den Weg stellt. Wir werden sehen, ob dieser Skulk ein würdiges Opfer für Jiarlirae ist.“ Neire nickte, stimmte mit Bargh ein kurzes Gebet an und schloss sich dem einstigen Paladin an. Er freute sich um den Tatendrang von Bargh, der sich in einem urwüchsigen Fanatismus und wallendem Hass seine Bahn brach. Es erinnerte ihn an den Dualismus von Schatten und Feuer – so dachte er an Jiarlirae, seine Schwertherrscherin, Königin von Flammen und Dunkelheit, Dame des aufsteigendes Chaos des Abgrundes.

Bargh hatte sie mit sich gezogen. Er war furchtlos den Hang hinauf und hineinmarschiert in das Erdloch, das sich im Eingangsbereich wie ein gestützter Minengang vor ihnen auftat. Geruch von Nässe und Stein waren ihnen entgegengekommen, wie auch ein Schwall kühlerer Luft. Ein paar Schritte hinab war es dunkel geworden und sie hatten die gehauenen Steinwände aufschimmern sehen können. An einer Kreuzung hatte Neire schließlich ein Geräusch gehört. So hatten sie den Gang zur Rechten sowie den Gang geradeaus nicht weiter beachtet und waren nach links abgebogen. Wenige Schritte in dem Tunnel, hörten sie alle plötzlich ein Krachen. Bargh war in diesem Moment auf ein Brett getreten, das er im schmutzigen Boden nicht gesehen hatte. Die morschen Bohlen brachen und er drohte in die Tiefe zu stürzen. Doch Neire fasste nach ihm und so konnte er sich gerade noch zurückwerfen. Seine Stimme hallte - viel zu laut - durch den Tunnel „Wer auch immer… diese Bastarde… dafür werden sie bezahlen!“ Als sie ihren Weg über die Fallgrube fortsetzten hörte Neire plötzlich ein Geräusch. Sie konnten eine kleine Höhle sehen sowie einen Tunnel, der nach rechts abbog. Das Geräusch schien aus dem Tunnel zur Rechten zu kommen. Doch Bargh war bereits dort hineingeeilt und Gundaruk gefolgt, der jetzt als erster ging. Was nun kam waren Ereignisse, die sich in der Dunkelheit überschlugen. Eine riesenhafte graue Raubkatze sprang aus einem weiteren unterirdischen Raum hervor, der die Größe einer kleinen Halle hatte. Gundaruk torkelte überrascht zurück, doch Bargh und Neire drängten voran. Neire bemerkte sofort eine weitere Kreatur, die am linken Eingang des Gewölbes in den Schatten lauerte. So stieß er zu mit seinem Degen. Bargh wandte sich ebenfalls der in den Schatten lauernden Gestalt zu und ließ sein Langschwert hinabfahren. Der Kampf war kurz und blutig. Zuerst fiel das humanoide Wesen aus dem Schatten – es hatte grobe Gesichtszüge, eine grünlich-graue Haut und Reißzähne. Dann brachten die Angriffe das Riesenpuma zur Strecke. Die Helden keuchten auf und betrachteten das Gewölbe vor ihnen. Neben vielen kleineren Nischen war ein weiterer Ausgang zu sehen. Gegenstände und Einrichtung füllten in einer Unordnung die unterirdische Halle. Wortlos begannen sie ihre Suche. Immer wieder blickten sie in der Dunkelheit nach weiteren Gegnern. Schließlich fand Bargh eine kleine Schatulle, die er sofort öffnete. Hervor kam grünlicher Nebel, der ihn aufhusten ließ. Für einen Moment röchelte er und spuckte ein paar Tropfen Blut. Doch dann weckte das Schimmern von wertvollen Gegenständen seine Aufmerksamkeit. Außerdem war eine vergilbte Karte zu sehen, die sich in der kleinen Truhe befand. Ein näherer Blick auf die Karte offenbarte kleine gekritzelte Runen der normalen Sprache: Villa und Skulk.


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Sitzung 27 - Der Bau II
« Antwort #27 am: 12.08.2022 | 22:40 »
Die Kreatur in der Höhle brüllte in einem hohen Krächzen. Der Schrei ging Neire durch Mark und Bein. Er war mittlerweile zu Bargh und Gundaruk aufgeschlossenen und konnte durch den schmalen Spalt im Stein hindurchsehen. In der Kammer, in der das Wesen in seinen Exkrementen und auf den Knochen seiner Opfer saß, waren sonst keine Ausgänge zu erkennen. Die Kreatur richtete sich auf und drehte sich langsam um. Sie hatte den Unterkörper eines Bären. Der Kopf war von Federn bedeckt und durch einen langen, gefährlichen Schnabel geziert. Neire handelte instinktiv. Er fing an seltsam zischende Laute zu murmeln und zerrieb Schwefel und Fledermausdung in seiner Hand. Als die Kreatur auf sie zu schnellte, warf er die Kugel aus rötlichem Feuer. Eine gewaltige Explosion von Magma erfüllte die Höhle und ließ den Eulenbär für einen Moment aus Neires Blickfeld verschwinden. Er spürte, wie die Flammen in den Tunnel hinausschossen in dem sie standen. Dann hörte Neire einen dumpfen Aufschlag. Als das Feuer sich legte sah er, dass die riesenhafte Kreatur grässlich verbrannt am Boden lag. Sie hatte ihr Leben in den Flammen Jiarliraes ausgehaucht. Neire bückte sich und trat hervor in die noch brennenden Flammen der Felskammer. Einen Moment lang dachte er zurück an die vergangenen Stunden. Sie hatten Höhle um Höhle des Baus untersucht. Ein Wirrwarr von Gängen hatten sie vorgefunden, doch keine weiteren Kreaturen. Schließlich hatten aus einem Gang die Geräusche der in Ketten gelegten Kreatur gehört. Neire fragte sich, wer den Eulenbär wohl versklavt hatte. Er bewegte mit einem seiner Stiefel die schweren Gliedmaßen. Doch er sah keine Symbole an den Ketten. Auch eine Untersuchung des Raumes ergab keine weiteren Ergebnisse. So drehte er sich um und kehrte zu seinen Kameraden zurück. Bargh nickte ihm respektvoll zu und sprach ein Gebet zu Ehren der Göttin. Neire stimmte ein in den zischelnden disharmonischen Choral. Nur kurz hielten sie inne um zu beten. Dann brachen auf und erkundeten weitere Gänge, die unerforscht in der Dunkelheit lagen.

Gundaruk ließ seine Augen über den von Wolken überzogenen Himmel gleiten. Sie waren gerade aus den unterirdischen Sälen des Baus aufgestiegen. Weitere Gänge und Kammern hatten sie entdeckt, doch keine Kreaturen. Ein Tunnel hatte sie am Fluss ins Freie geführt, doch sie waren wieder zurückgekehrt in die Erde und hatten weitergesucht. Schließlich hatten Gundaruks geübte Augen eine geheime Türe entdeckt. Vielleicht war es der Teil seines elfischen Blutes, der ihm dies ermöglicht hatte. Sie hatten die kleine Kammer hinter der Türe durchsucht und einen wertvollen elfischen Tarnumhang gefunden. Neire hatte erzählt von einem solchen Gegenstand schon einmal in alten Legenden gehört zu haben. Als alle Gänge erkundet waren, hatten sie sich entschlossen aufzubrechen und der Karte zu folgen, die sie hier unten gefunden hatten. Gundaruk betrachtete die bewaldeten Hügel und die Felsen. Eine malerische Landschaft, die von der jetzt etwas tiefer stehenden Sonne in ein prachtvolles Licht gehüllt wurde. Das Rauschen des Windes war zu hören und aus der Ferne drang das sanfte Geräusch der Stromschnellen des Flusses. Er nickte Bargh und Neire zu, die hinter ihm aus der Tiefe in die Sonne hervorkamen. Besonders Neire schien das helle Licht nicht zu vertragen und kniff die Augen zu. Bargh hatte bereits die Augenbinde umgelegt und den roten Rubin seines rechten Auges verdeckt. „Also reisen wir der Karte nach, Neire? Zu dem Punkt, wo Villa und Skulk steht?“ Neire blinzelte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Noch immer waren Reste des getrockneten Blutes in seinen gold-blonden Locken zu sehen. Seine Kleidung war hier und da von Schlamm und Spinnweben bedeckt. „Gundaruk, ihr habt euch tapfer geschlagen dort unten. Und eure verborgenen Fähigkeiten das Verdeckte zu erkennen haben sich euch ausgezeichnet.“ Gundaruk wusste nicht genau worauf Neire hinaus wollte und so zögerte er einen Moment. Doch schon fuhr der junge Priester fort. „Wir wissen nicht ob wir den Skulk bereits getötet haben, Gundaruk. Lasst uns zu unseren Pferden zurückkehren und nach der Villa suchen.“ Auch Bargh nickte und zeigte mit seinem rechten Panzerhandschuh in die Richtung des Waldsaumes der unteren Lichtung. So setzten sie sich alle in Bewegung. Gundaruk bemerkte, dass Bargh immer wieder nach Spuren Ausschau hielt und sich für einen Moment niederkniete. Nach kurzer Zeit kamen sie am Waldrand an und fanden dort die Pferde – friedlich grasend. Als Neire ihm ein weiteres Mal den Weinschlauch anbot um auf seine Taten anzustoßen, verneinte er nicht. Der Wein aus der verlassenen Festung hatte tatsächlich einen vorzüglichen Geschmack. Auch verdrängte er die langsam aufkommende Müdigkeit. Sie setzten ihre Wanderung am Fluss fort. Dann wurde langsam das Licht der Sonne weniger und die Schatten länger. Plötzlich hörte Gundaruk ein Knacken im Wald. Wie ein Zweig, der durch Bewegung zerbrochen wurde. Nach seinem warnendem Hinweis sattelten Neire und Bargh augenblicklich ab und ließen die Pferde zurück. Sie drangen in Richtung des Geräusches vor, weg vom Fluss. Zuerst sahen sie nichts, doch im dichteren dunkleren Wald konnten sie die Silhouette einer Gestalt erkennen, die einen Bogen trug. Knöcherne Gesichtszüge, eine gedrungene Stirn und platte Nase sowie spitze Eckzähne ließen eine Ähnlichkeit zu dem Bewohner des Baus erkennen, den sie dort erschlagen hatten. Gundaruk zögerte nicht lange. Er beschwor die Natur zur Bewegung. Jetzt überschlugen sich die Ereignisse. Neire und Bargh bewegten sich auf den Bogenschützen zu. Doch hervor stürmten zwei Krieger, mit Langschwert und Dolch bewaffnet - dem Aussehen nach dem Bogenschützen ähnlich. Doch ihr Fortkommen kam jäh zum Erliegen. Ranken und Wurzeln begannen zu greifen wie dunkle Schatten. Der Wald knackte und raunte. Die Krieger ächzten und schrien. Gundaruk sah, wie eine vierte Gestalt hervortrat. Die ältere Frau war zwar nicht größer als die Krieger, aber fettleibig und häßlich. Warzen bedeckten ihr unförmiges Gesicht und sie hinkte beim Gehen. Ein intensiver Kampf entbrannte. Die Frau beschwor faule Magie und für einen Moment wirkte es, als wolle Bargh der Flucht ergreifen. Doch der heilige Krieger riss sich zusammen. Dann ließ Neire die Macht seiner Göttin Chaos und Verderben über die Kreaturen bringen. Schattenhafte Blitze und Feuerkugeln aus Magma ließen die Körper ihrer Gegner zerplatzen. Gundaruk sah, dass der Junge die Flamme von Chaos und Schatten in seiner Hand hielt. Seine Augen glühten wie Kohlen in der Dunkelheit.

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Sitzung 28 - Verstümmelte Leichen
« Antwort #28 am: 20.08.2022 | 09:17 »
Neire ließ sich verzweifelt niedersinken. Die Flamme in seiner linken Hand brannte unkontrollierbar hernieder. Er spürte einen ziehenden Schmerz von seinen Herzsteinen im linken Arm ausgehen. Das Gefühl von Ohnmacht breitete sich in ihm aus. Er wagte es nicht sich umzublicken. Barghs verbliebenes lebendes Auge betrachtete ihn forschend. Er spürte, dass sich etwas verändert hatte. Er spürte den Verlust des Feuers. Kälte, die vom Boden aus an ihm hochkroch. Doch er konnte sich nicht erheben; verharrte er doch wie gelähmt. Tränen rannen über seine Wangen. Er versuchte die alten Gebete zu rezitieren, doch sie klangen farblos und falsch. Da war auch etwas, etwas anderes. Die tiefer stehende Sonne drang nicht mehr weit durch den dichten Wald. Nur vereinzelte Strahlen durchbrachen das Dickicht. Alles mischte sich in einem idyllischen Licht aus knorrigen Bäumen und Schatten. Auch das entfernte Rauschen des Flusses verwusch dieses Bild. Neire war sich sicher. Zwischen in Bäumen sah er Thaakaz, die Rune von Nebel und Dunkelheit. Die Rune schmiegte sich gegenüber von Neire und Bargh in ein Tor von Bäumen. Auch Bargh war an diesem Abbild beteiligt. Er stand in der Sonne und brach einen Teil der Strahlen. Einen Moment lang sammelte Neire seine Gedanken. Soll es heißen…? muss ich den Weg des Feuers verlassen? Soll ich den Weg des Schattens wandeln? Es musste so sein. Das Schwinden seiner Fähigkeiten hatte er bis jetzt nicht erlebt. Und ein Zeichen dieser Intensität hatte er nur ein einziges Mal zuvor gesehen. Neire erhob sich langsam. Er spürte den gepanzerten Handschuh von Bargh sanft auf seiner Schulter. Er hörte, dass der gefallene Paladin mit ihm betete. Doch weiter liefen die Tränen an seinen Wangen hinab. Er fühlte sich wieder wie das, was er eigentlich war. Ein fünfzehn Jahre alter, schwacher und unerfahrener Junge. Kaum nahm er Notiz vom siegreichen Ende des Kampfes; er betrachtete nicht die zerkochten und aufgeplatzten Körper seiner Widersacher. Er hatte seine geliebte Flamme verloren und würde nun in den Schatten wandeln.

Gundaruk richtete sich ruckhaft auf. Ein Traum des vergangenen Krieges hatte ihn geplagt. Er hatte auf die Angreifer mit seinem Speer eingestochen, doch sie waren immer näher gerückt. So war der Traum weitergegangen und hatte ihn gequält. Er hatte diese Angewohnheit. Aus den vergangenen Tagen des Krieges. Beim Aufwachen schnell an der Waffe zu sein. Meist nach viel zu kurzem Schlaf. Doch er hatte sich an dieses Leben gewöhnt und es hatte ihm das ein oder andere Mal zu einem taktischen Vorteil verholfen. Doch jetzt spürte er, dass irgendetwas ihn behinderte. Irgendein Ding um ihn herum. In der Nacht brauchten seine grünen Augen eine gewisse Zeit, um die Dunkelheit auch ohne Licht zu durchblickten. Dann sah er das Zelt, das er bei seinem wüsten Aufstehen mit sich gerissen hatte und er erinnerte sich an den letzten Abend. Sie hatten nach dem Kampf die Gegenstände der Kreaturen geplündert und ein kostbares Langschwert sowie einen seltenen Dolch gefunden. Sie waren dann aufgebrochen und hatten nach der Karte navigiert. Die Stimmung von Neire war nach dem Kampf in ewiges Trübsal abgesunken. Der Junge kam ihm auch ängstlicher vor, als zuvor. Und Gundaruk kannte Neire jetzt schon einige Zeit. Als die Sonne hinter den Hügeln verschwand hatte Bargh eine kleine Lichtung erspäht und sie hatten dort ihr Lager aufgeschlagen. Bargh und Neire hatten Wein getrunken. Tatsächlich war Neires Stimmung etwas besser geworden. Doch noch immer hatte er eine tiefe Melancholie ausgestrahlt. Schließlich war Gundaruk in sein Zelt gekrochen und Neire hatte die erste Wache übernommen. Gundaruk riss das Zelt von seinem riesenhaften Leib und blickte sich um. Er war instinktiv mit seinem Speer aufgestanden, den er immer an seiner Seite hatte. An einen Baum gelehnt schlief Bargh, in seinem silbrigen Plattenpanzer. Doch von Neire war keine Spur zu sehen. Hatte der Jüngling sie unbewacht zurückgelassen? Gundaruk kam nicht weiter mit den Gedanken. Von hinten spürte er ein Stechen in seiner Milzgegend und keuchte auf. Doch es war keine Waffe die ihn traf. Eher, als ob ein Kind ihn kitzeln wollte. Als er sich umdrehte sah er tatsächlich schemenhaft Neire in den Schatten stehen. Der Junge hatte sich den elfischen Tarnumhang umgelegt und war kaum von der Umgebung zu unterscheiden. Nur als er seine Kapuze zurückzog und seine gold-blonden Locken offenbarte, erblickte Gundaruk Neires Gesicht. „Ihr solltet nicht so leichtfertig und unachtsam sein, Gundaruk. Die Schatten bergen oft nicht nur Geheimnisse, sondern auch unangenehme Überraschungen!“ „Ah, Neire“, erwiderte Gundaruk. Er hatte sich erschrocken und sogar kampffertig gemacht, doch irgendwie erfreute ihn der kindliche Humor von Neire. Er blickte auf den Lockenschopf hinab und brummte: „Ja, wir werden sehen was euch überraschen wird, Kleiner.“

Sie waren am nächsten Morgen aufgebrochen. Die Nacht war ohne weitere Ereignisse verstrichen. Auch an diesem Tag hatten sie Sonne und Wolken begleitet. Der Weg am Fluß war schließlich steiniger geworden und hatte sie dann zu einem Steilufer geführt. Sie hatten sich für den kleinen Kieselstrand entschieden, der dann immer breiter geworden war. Nach einer Zeit, es war immer noch in den Morgenstunden gewesen, hatten sie in der Ferne einen Leichnam entdeckt. Eine nähere Untersuchung offenbare einen grausam ermordeten Mönch des Gelehrten Gottes Oghma. Die linke Gesichtshälfte war von Krallenspuren zerfetzt und einer seiner Arme endete in einem rot verkrusteten Stumpf. Sie hatten sich dazu entschieden den blutigen Fußspuren zu folgen und waren schließlich an eine Öffnung in der Steilwand gelangt. Zwei Statuen von steinernen Greifen waren zu sehen gewesen. Eine hoch oben in der Wand und eine andere vor einem hölzernen Vorbau. Als sie sich weiter näherten, hatten sich die Statuen in lebende Wesen mit rotglühenden Augen verwandelt. Der Kampf war kurz und intensiv gewesen. Ein Wesen hatte sie im Nahkampf angegriffen, während das andere sie im Sturzflug attackiert hatte. Doch mit vereinten Kräften hatten sie beide Wesen niedergestreckt. Ihr Weg hatte sie dann in die große Öffnung unter dem hölzernen Vorbau geführt. Dahinter offenbarte sich ihnen eine Höhle. Die einstige Wohnhöhle des Mönchs war gänzlich verwüstet. Zudem war der grauenvolle Anblick einer umgekehrt aufgehängten Gestalt zu sehen, deren Haut abgezogen war und deren Gliedmaßen abgetrennt wurden. Noch war kein Fäulnisgeruch vernehmbar. Die Blutspuren sahen frisch aus. Eine Untersuchung des Gemachs offenbarte einen weiteren Ausgang, ein umgestürztes Pult und Schriftzeichen: „Auf der Heide Schwerter machen ihren garstigen Tanz und Sensen auf dem üppigen Feld - Feuer webt einen tödlichen Kranz, doch die Feder allein ist, was im Bann mich hält.“ Sie blickten sich immer wieder hastig um, während sie die Schriftzeichen entzifferten.

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Sitzung 29 - Ruine des Herrenhauses
« Antwort #29 am: 25.08.2022 | 21:38 »
Gundaruk hatte sich am kleinen Feuer niedergekniet, das der junge Priester entzündet hatte. Er hatte eine Zeitlang meditiert. Nun löste sich sein Blick aus der Erstarrung. Er betrachtete den Raum der kleinen Höhle. Sie befanden sich in der Kammer im Stein der Felswand. Das Licht der morgendlichen Sonne drang durch die Öffnung unter dem Vorbau und brach sich im Rauch des Feuers. Der Rauch hatte den penetranten Geruch von Blut verdrängt, der das Gemach zuvor erfüllt hatte. Wie eine Warnung hing dort der Körper der gehäuteten Leiche. Der verstümmelte Mann konnte noch nicht lange tot sein, denn sein Blut tropfte auf den verwüsteten Boden. Doch Gundaruk ließ sich von diesem Anblick nicht ablenken. Er begann einen Singsang alter Worte anzustimmen. Während er die Tropfen von Wasser und den getrockneten Dung den Flammen übergab, leuchteten die Runen des Waffenbandes golden auf. Schließlich stützte er sich auf den Speer und erhob sich. Die Flammen des Feuers kamen ihm plötzlich fern und fremd vor. Der Rauch offenbarte das Gras der Pflanze, die jenseits der Höhle im fortführenden Tunnel wuchs. Neire hatte das Grasgewächs als Dörrkraut identifiziert: Eine Pflanze, die eine niedere Intelligenz besaß und ein instinktives Verhalten aufweisen konnte. Die Grashalme des Dörrkrauts besaßen kleine Nadeln, deren Gift Muskelkrämpfe verursachen konnte. Zudem hatte er von einer Kultivierung des Dörrkrauts in alten Zivilisationen berichtet. Aus den Halmen wurde gar wertvoller Papyrus für Bücher und Schriftrollen hergestellt. Gundaruk wendete sich dem Kraut zu und sprach langsam und bedächtig. „Hört mich an, Dörrkraut. Berichtet mir. Von dem, was sich hier zugetragen hat.“ Für einen kurzen Moment herrschte Stille. Doch dann spürte er die Visionen von Bildern auf ihn einwirken. Wie das Echo eines Chores vieler einzelner Stimmen vermischten sich die Bilder und erzeugten so Unschärfe. Gundaruk erblickte die Höhle in aufgeräumtem Zustand. Dort war ein Mann mittleren Alters zu erkennen, gebeugt über das Pult; Schreibfeder in der Hand. Dann sah er die steinernen Greifen in die Höhle hineinstürmen. Rote Augen leuchteten im Fackellicht und das Gemetzel begann. Die Visionen endeten mit dem Bild der gehäuteten Gestalt, deren Gedärme auf den Boden hinabhingen – der jetzige Zustand. Gundaruk drehte sich um zu Neire. „Die Greifen kamen in die Höhle und haben ihn so zugerichtet.“ Neire nickte und antwortete. „Fragt es nach dem Rätsel, nach Schwertern und Sensen, nach Feuer und der Feder.“ Gundaruk manövrierte seinen Geist ein weiteres Mal in Richtung der Pflanze. „Dörrkraut, was hat die Feder für eine Bedeutung?“ Tatsächlich antwortete die Kreatur mit weiteren Visionen. Er sah die Bilder des Mannes, der die Schreibfeder vor sich hielt und so durch den Tunnel schritt. Das Dörrkraut zog sich zurück, als würde es eine Art Ehrfurcht vor der Feder verspüren. Nachdem Gundaruk Neire und Bargh von der Antwort berichtet hatte, dachten sie über das Rätsel nach. Das Feuer webt einen tödlichen Kranz musste eine Warnung vor dem Entzünden des Dörrkrauts sein. Die Feder schien das Wesen zu bannen und einen Gang durch den Tunnel zu ermöglichen.

„Das Buch ist eine Art Ahnengeschichte. Es berichtet vom Geschlecht der Arthogs, einer Sippe von schwachen Bastarden und Sklaven.“ Neire sprach den Namen mit herablassender Abscheu und hatte den Zusatz selbst hinzugefügt. Sie hatten sich um das Feuer versammelt, nachdem sie mit einer erhobenen Schreibfeder den Tunnel erforscht hatten. Tatsächlich war das Dörrkraut zurückgewichen. Hinter dem Tunnel hatten sie eine kleine Bibliothek entdeckt und eines der Bücher mitgenommen. Jetzt saßen sie um das Feuer und Neire begann die Geschichte des Herrschergeschlechts vorzulesen. Es wurde berichtet von einem Herrschaftssitz. Das Herrenhaus der Arthogs sollte sich am See von Splendow befinden, unweit von Kusnir. Tatsächlich stimmte dieser Hinweis mit der Markierung der Karte zusammen, die sie im Bau gefunden hatten. Das Buch beschrieb auch das Wappen der Familie von Arthog. Es stellte einen Handschuh dar, an dessen Ringfinger sich ein Ring befand. Neire hatte schon einmal von diesem Wappen gehört. Der Handschuh stellte ein magisches Artefakt dar, dass die Familie selbst erschaffen und dann zu ihrem Wappen gemacht hatte. Der Handschuh diente wohl dem Schutze des Fürstentums und war als Wächter benannt. Neire dachte zurück. Er erinnerte sich an die Runen im Blut. Es war von einem Träger die Rede gewesen. Vielleicht hatte dies etwas mit diesem Handschuh zu tun. Das Buch endete schließlich mit der Erwähnung des letzten Herrschers. Er hatte beim Volk kein großes Ansehen genossen und den Familienbesitz in den Küstenlanden verprasst. Mit ihm war das Geschlecht der von Arthogs schließlich untergegangen. Nachdem Neire die letzten Worte gelesen hatte, verließen sie den Ort. Sie brachen in Richtung des Herrenhauses auf, bewegten sich zurück über den Strand und dann schließlich in den Wald hinein. Hier fand Bargh die Spuren der vier Kreaturen, die sie auf dem Weg vom Bau ermordet hatten. Sie entschieden sich den Spuren zu folgen und erreichten schließlich eine Lichtung. Inmitten dieser Lichtung und auf einer Landzunge zum See, sahen sie die Ruinen des Herrenhauses. Es stellte eine Mischung zwischen einer gotischen Kathedrale und einer Wehrburg dar und verfügte über Vorgebäude, die einen kleinen Hof umschlossen. Die Spuren der vier Kreaturen endeten am Ufer und in einiger Entfernung des Herrenhauses. Anscheinend hatten sie sich nicht getraut den inneren Hof aufzusuchen. Vielleicht hatten sie aber auch von hier das Gebäude eine Zeitlang observiert. Langsam und vorsichtig näherten sie sich dem Eingang. Eine steinerne Treppe führte hinauf in den Hof. Neire, in seinem Tarnumhang fast nicht zu erkennen, schlich vor und warf einen Blick in das Innere. Er sah zur rechten Seite zwei monströse Gestalten, die über dem blutigen Leichnam eines menschlichen Opfers verweilten. Beide gingen aufrecht auf Hinterbeinen, doch sie besaßen ein bläuliches Federkleid. Ihre Köpfe jedoch erinnerten an Hirsche und waren von schwarzen Federn bedeckt. Spitze Reißzähne kamen aus ihren blutverschmierten Mäulern und an ihren Köpfen waren verdrehte Hörner zu erkennen. Sie hatten bereits die gesamte Brust ihres Opfers aufgerissen und pickten gerade das Herz heraus. Aus den Schatten heraus hörte Neire die schweren Schritte von Gundaruk und Bargh nahen. Als die Wesen sich umdrehten hatten sie ihn anscheinend nicht erkannt. Der Kampf brach los und die Wesen gingen in einen Sturmangriff über. Neire nutze seine Chance und bewegte sich in den Rücken einer der Kreaturen. Hinterlistig stieß er den Schlangendegen in die Stelle, wo er glaubte das Wesen sei am verwundbarsten. Die gewundene Klinge blitzte auf in der Sonne und drang tief in den Körper ein. Auch Gundaruk stach in diesem Moment mit dem Speer zu und die erste der Kreaturen ging zu Boden. Die zweite Kreatur rangen sie mit vereinten Kräften nieder. So blickten sie sich hastig um, ob der Kampfeslärm weitere Angreifer geweckt hatte. Neire nutze abermals seinen Tarnmantel und verschwand in den Schatten.

Es war nicht besonders warm, doch die Strahlen der Mittagssonne brannten auf ihren Gesichtern. Sie hatten sich der Türe genähert, die den Eingang in den Herrschaftssitz versperrte. Drei große Riegel waren dort zu sehen. Zwei davon trugen noch ein Schloss. Das Schloss des dritten Riegels war entfernt worden – mit einem unguten Ausgang für die diebische Kreatur, die dort noch immer lag. Allerdings musste dies schon vor einer Weile passiert sein, denn von der Gestalt war nur noch ein Skelett übrig. Sie hatten die Räume der Gebäude durchsucht. In einem Haus hatten sie drei Nestlinge der zuvor bekämpften Kreaturen gefunden, die an drei Leichen fraßen. Sie hatten die Nestlinge getötet und kleinere Wertgegenstände bei den Leichen gefunden. Die anderen Häuser waren leer gewesen oder die Einrichtung war vor langer Zeit zerstört worden. Doch Gundaruks elfisches Blut hatte erneut ein geheimes Fach erspäht, was sich in einem Holzbalken im Gebälk befand. Hier hatten sie eine kleine Truhe entdeckt. Nach kurzer Untersuchung hatte Neire auf die Falle hingewiesen, die die Truhe sicherte. Neire hatte die Falle schließlich entschärft und sie hatten einige wertvolle Edelsteine gefunden. Doch jetzt mussten sie in das Innere der Ruine vordringen. Neire blickte ein letztes Mal in die Sonne und zog seinen Tarnmantel enger. Er brachte seine Dietriche hervor und begab sich in den Schatten der Türe. Seine Hände zitterten als er sich den Schlössern näherte.

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Sitzung 30 - Ruine des Herrenhauses II
« Antwort #30 am: 1.09.2022 | 22:22 »
Er fühlte wieder. Da waren Sonnenstrahlen auf seinem Schädel. Schweißperlen hatten sich auf dem vernarbten Gewebe gebildet und rannen hinab. Da war ein quälendes Jucken. Taubes Gewebe begann sich erneut mit Leben zu füllen. Es fühlte sich heiß und pulsierend an. Er wollte sich kratzen, wollte seine Haut zerreißen. Doch dafür war keine Zeit. Er beherrschte sich, wie er sich auch in seinem alten Leben beherrscht hatte. Disziplin war über allem gewesen, Disziplin war das eiserne Gesetz – wie das Sonnenlicht auf den Stahl fiel, wie der Tod im Leben die einzige Konstante war. Bargh betrachtete Neire. Sein neuer Begleiter und einziger Freund war an die Türe herangetreten. Der Tarnumhang ließ den jungen Priester mit den Schatten verschmelzen. Es war, als ob das Sonnenlicht ihn meiden würde. Bargh betrachtete Neire genau. Der Jüngling hatte bereits eines der zwei verbliebenen Schlösser geknackt und widmete sich dem letzteren. Doch Bargh hörte den zischelnden Fluch, in der Sprache von Nebelheim. Er sah, dass Neire sich umdrehte und in seine Richtung blickte. Das von gold-blonden Locken umrahmte Gesicht des Kindes der Flamme war verzerrt von Hass und Enttäuschung. Bargh wusste, dass er jetzt reagieren musste. Er trat hervor und rammte den Knauf seines Schwertes auf das schwere Schloss. Es gab ein Knacken als die schwere metallene Konstruktion brach. Die doppelflügelige Türe vor ihnen war jetzt frei. Bargh schob einen Türflügel zurück und erhob sein Schwert. Sie erblickten im näheren Bereich der Türe keine direkte Gefahr. Hinter dem Portal eröffnete sich ein Gang, der nach wenigen Schritten in eine Art Herrschaftssaal mündete. Im Zwielicht sahen sie eine Doppelreihe von Statuen und einen Thron, der von goldenen Adlern umringt war. Doch da war auch Bewegung. Bargh sah zwei Kreaturen, gebeugt über einen Leichnam. Mit ihren Zähnen rissen sie große Stücke Fleisch aus dem leblosen Opfer. Fast instinktiv ließ Bargh sein Langschwert in der Scheide verschwinden und zog die Armbrust hervor. Er legte einen Bolzen ein und begann zu zielen. Nur kurz nach dem schnappenden Geräusch schlug der Bolzen in das faulige Fleisch der dort fressenden Gestalt. Doch kein Schmerzensschrei war zu hören. Langsam richteten die Gestalten sich auf und kamen wankend auf sie zu. Aus den Schatten der Halle kamen zwei weitere, so dass es insgesamt vier Angreifer waren. Noch einen Bolzen schoss Bargh auf die Kreatur, bevor diese den Eingang erreichte. Dann ließ er die Armbrust fallen und zog sein Schwert. Der Gestank von Leichenfäulnis war plötzlich allgegenwärtig. Die Kreaturen mussten einst Menschen gewesen sein. Jetzt war ihre Haut verfault. Hier und dort konnten sie freigelegte Sehnen und Knochen sehen. Doch die Gestalten drangen nicht in den Nahkampf vor. Sie blieben am Eingang des Türflügels stehen und begannen zu würgen. Hervor brachen sie einen Schwall von grünlich ätzenden Leichensäften und versuchten Bargh damit zu treffen. Dort wo die grünliche Flüssigkeit ihn berührte, spürte er ein Brennen und Jucken auf seiner Haut. Ein wilder Kampf brach los, als sich Bargh und Neire den Kreaturen entgegenstellten. So intensiv war der Gemenge, dass sie nicht erkannten welch Ungeheuer dort aus der Ferne herangeschwebt kam. Aus der Ruine näherte sich lautlos ein Laken, das von Staub und Spinnenweben bedeckt war. Unter dem Laken glühte ein Paar von grünen Augen. Als sie das Wesen sahen, war kaum Zeit zu reagieren. Bargh versuchte noch einen Ausfallschritt zu machen, ohne die untoten Geschöpfe vor ihm aus den Augen zu verlieren. Doch das Wesen begann sich über ihn zu stülpen. Seine Arme wurden unweigerlich an den Körper gedrückt. Die Rüstung knackte hier und dort und er schnappte ein letztes Mal nach Luft. Dann war plötzlich alles wie in Trance für ihn. Seine Umgebung nahm er nebelhaft verschleiert wahr. Er hörte die Schreie von Neire und erinnerte sich an seinen Abstieg in die Unterwelt. Er sah das Bild von Feuer und Schatten, vernahm das Strömen und das Zischen. Er blickte hinein in die Glut im Inneren Auge. „Bargh, folgt mir. Wir müssen zurückweichen.“ Nur verschwommen drang die Stimme an ihn heran. Es war Neire, der an ihm zog und zerrte. Seine Vision löste sich langsam und er schnappte nach Luft. Doch wie er sich auch anstrengte, versperrte das Wesen ihm den Atem. Ein weiteres Mal versuchte er sich gegen die Kreatur zu stemmen. Er sah neben sich Neire auftauchen. Der Junge zog an dem Laken. Mit all seiner verbleibenden Kraft stemmte er sich Bargh gegen die Kreatur. Tatsächlich gab es ein Knacken und einen Ruck. Die Kreatur glitt von ihm hinab. Als er tief Luft holte, sah Bargh, dass sie bereits über den ganzen Hof zurückgewichen waren. Die Ghule kamen ihnen langsam nach. Das Wesen schwebte noch immer über ihm. Bargh zog sein Schwert und hieb auf das Wesen ein. Die Wut und der Hass gaben ihm Kraft. Einer seiner Hiebe schlitzte das Laken der Länge nach auf. Er sah, dass die Kreatur leblos zu Boden glitt. Der Hass trieb Bargh weiter an, als er sich den Ghulen stellte. Neire kämpfte an seiner Seite doch drang jetzt in den Rücken der Kreaturen vor. Gemeinsam töteten sie ein Wesen nach dem anderen. Doch seine Gedanken waren noch immer bei Feuer und Schatten. Das Bild der Vision hatte sich wieder in seinen Geist gebrannt. Und da war die Stimme Neires. Schon einmal hatte ihn der junge Priester zurückgeholt. Zurückgeholt hatte er ihn von den Toten.

Neire blickte ein letztes Mal aus der verborgenen Türe, bevor er sie hinter sich zuzog. Sie hatten ihre Spuren verwischt und wollten sich in dem kleinen Gemach ausruhen. Die Türe schloss sich mit einem leisen Klicken. Neire atmete auf und dachte zurück. Sie hatten das obere Geschoss des Herrenhauses durchsucht und dabei einige Bücher und diesen geheimen Raum gefunden. In dem getarnten Gemach hatte sie eine metallene Schlange angegriffen. Nachdem sie das Wesen getötet hatten, waren ihnen die Bücher aufgefallen, die auf Schreibpulten aufbewahrt wurden. Sie hatten ein Buch als ein Zauberbuch und ein anderes Buch als eine Anleitung identifiziert. Die Anleitung schien an Magier gerichtet, einen Gefährten zu finden. Danach waren sie in den Keller des Hauses vorgedrungen. Neire war vorangeschlichen. Weiter unten hatten sie eine geisterhafte Erscheinung von mehreren grünen Glühwürmchen entdeckt, die sie angegriffen hatten. Bargh hatte gegen die Kreaturen gekämpft. Doch jedes Mal, wenn er eines der Wesen getötet hatte, war ein weiteres nachgekommen. Schließlich hatten sie die Flucht nach oben ergriffen. Neire war danach wieder hinabgeschlichen. Hinter den Wesen hatte er ein Kellergewölbe entdeckt, aus dem zwei weitere Gänge hinfort führten. Dort hatte er eine Sphäre totaler Dunkelheit gesehen, die einen Durchmesser von zwei Schritten hatte. Neire begab sich zur Ruhe, doch dachte er an die Dunkelheit dort unten.

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Sitzung 31 - Hinein in ein selbst geschaufeltes Grab
« Antwort #31 am: 8.09.2022 | 21:46 »
Um sie herum war das steinerne Gewölbe. Neire und Bargh wussten nicht genau, wie lange sie sich bereits hier niedergelassen hatten. Es drang kein Licht in die geheime Kammer, deren Eingang sie behutsam geschlossen hatten. Neire hatte sich immer wieder um die Wunden von Bargh gekümmert. Unter den Verbänden, die jetzt seinen Oberkörper bedeckten, war die Haut des Kriegers von den grünlichen Glühwürmern aufgerissen worden. Doch der Blutstrom war bereits verronnen und eine Kruste hatte sich gebildet. Neire ließ ab von Bargh und wendete sich seinen Fackeln zu. Der große Krieger hinter ihm war in einen leichten Schlaf gefallen und so widmete Neire seine gesamte Aufmerksamkeit dem Ritual. Es hatte etwas Magisches, wenn er die Fackeln aufstelle. Der Geruch von Teer, die Freude auf den kommenden Schein des Feuers, die Erwartung des Tanzes der Schatten. Als die ersten Funken seines Feuersteines den Schaft berührten war die entstehende Flamme zerbrechlich und klein. Doch schon bald loderte das Feuer auf. Neire entzündete die beiden anderen Fackeln und positionierte sich in der Mitte des Dreiecks. Seine Gedanken waren im Inneren Auge von Nebelheim. Er konnte förmlich die Glut spüren, die Hitze, die von unten aufstieg. Doch das Feuer, in das er blickte war weit weg. Die Schatten waren vorgedrungen und tanzten in wabernden Formen. Für einen kurzen Moment dachte er Geräusche zu hören – wie ein fernes polyphones Schreien von vielen Kinderstimmen. Die dunkle Kugel tauchte vor seinem geistigen Auge auf. War es ein Wesen, das er dort unten gesehen hatte? Er betete nun schneller die Verse zu Ehren der alten Göttin. Sollte die Kugel ein Wesen sein, so musste sie sich unterwerfen. Ihr, der Schwertherrscherin, Königin von Feuer und Dunkelheit.

Bargh hob sein Schwert und blickte in den dunklen Tunnel. Sie hatten eine längere Zeit in dem Gemach verbracht. Er hatte die meiste Zeit geschlafen und Neire hatte sich um seine Wunden gekümmert. Als er wach gewesen war, hatte ihm Neire aus dem Buch vorgelesen, das sie in einem verlassenen Gemach des Herrenhauses gefunden hatten. Es stellte eine Abhandlung über den Fischfang dar. Von den verschiedensten Angeltechniken über den Fang mit Netzen bis zur Reusenherstellung, deckte das Buch das Gebiet umfassend ab. Er erinnerte sich auch an die feinen Zeichnungen, die Neire ihm immer wieder gezeigt hatte. Dann waren sie wieder aufgebrochen. Sie hatten den Leichengeruch im Herrschersaal nicht weiter beachtet und waren hinabgestiegen. Bargh war auf sich allein gestellt. Neire hatte die andere Treppe genommen und war in den Schatten verschwunden. Jetzt sah er die grünen Würmer aus Licht auf ihn zurasen. Sie waren hinter einer Öffnung im Tunnel erschienen. Von dort, wo Neire ihm von der Kugel der Dunkelheit berichtet hatte. Bargh stieß seine glänzende Klinge nach vorne. Es war als ob er kurz einen Widerstand spürte. Das erste von zwei Wesen brach in sich zusammen. Doch hinter der anderen Kreatur sah er bereits zwei neue Lichterscheinungen um die Ecke eilen. Kaum spürte er den Schmerz, als die grünlichen Flammen an seinem Fleisch rissen. Immer wieder stieß er zu, ließ den magischen Stahl tanzen. Irgendwann hörte er die Stimme von Neire. „Bargh, die Dunkelheit. Ein Wesen… Die grünen Lichter gehen von ihm aus.“ Er sah wie nach seinem Hieb die letzte Kreatur vor ihm sich aufzulösen begann und bewegte sich in Richtung der Öffnung. Tatsächlich erkannte er dort hinter das Kellergewölbe. In einer Nische konnte er die Kugel aus Dunkelheit sehen, wie von Neire beschrieben. Drei grüne Flammenwürmer zuckten um die Sphäre, als wollten sie diese schützen. Bargh hob sein Schwert und drang in die Kammer hinein. Er hörte die Worte von Neire durch das Gewölbe hallen. „Düsternis, werft euch hernieder vor Jiarlirae, denn sie ist Feuer und Schatten - wie sie über Flammen und Dunkelheit steht. Sie ist mehr als die Menge der Teile.“ Bargh bemerkte, wie die Kugel zu verschwimmen begann; die Lichter fingen an zu zucken. Als ob die Kreatur Angst vor ihm verspüren würde. Wut und Hass brach sich Bahn und seine Klinge schnellte nach vorne.

Hier unten war der modrige Geruch stärker gewesen. Der morbide Charme der unterirdischen Halle hatte sie einen Moment in regungsloser Betrachtung gefesselt. Dann hatten sie sich durch das vorgetastet, was wie ein alter unterirdischer Hafen aussah. Der Ausgang schien durch einen Geröllsturz versperrt und das Wasser stand niedrig am Höhlenkai. Die Wände glitzerten nass in der Dunkelheit. Moose und Pilze bedeckten den alten gehauenen Fels. In der Mitte des steinernen Saales und oberhalb des modrigen Wassers hing ein Boot. Es wurde gehalten von rostigen Ketten, die über einen Riegel zu einer gewaltigen Winde geleitet wurden. Neire legte seinen Rucksack ab und zog ein Seidenseil hervor. Er begann sich an den Ketten hinauf in das Boot zu ziehen. Oben angekommen fädelte er ein Ende durch das Scharnier, warf es hinab und begann das andere Ende um seine Brust zu knoten. Als er den sichernden Zug von Bargh spürte, ließ er sich in das Boot hinab. Die alten morschen Bohlen knarzten, als er sich durch den Rumpf bewegte. Auf den ersten Blick konnte er nichts finden. Bei genauerer Betrachtung bemerkte er die verborgene Schatulle, die unter einer Planke eingelassen war. Sie war lang und schmal. Als er sie öffnete sah er das Blitzen von kostbarem Stahl. Er zog einen Degen hervor, der die Runen und Insignien der Familie von Arthog trug. Eine unversehrte Klinge, so scharf wie ein frisch geschliffenes Jagdmesser. Freudestrahlend griff Neire unter die gewölbte Parierstange und führte Waffe. Kaum merkte er das Gewicht des kostbaren Fundes. Nachdem sich Neire wieder hinabgelassen hatte, verließen sie den unterirdischen Hafen und folgten dem letzten Gang, den sie noch nicht erkundet hatten. Er stellte sich als Rundgang heraus, doch in der Biegung des Tunnels war eine aufgebrochene Stelle zu erkennen. Steine lagen dort und ein Geruch von modriger, abgestandener Luft drang in den Tunnel. Sie untersuchten die Stelle und entschieden sich den Tunnel zu erkunden. Der erste Abschnitt war eng. Dann verbeiterte sich der Tunnel im Felsen. Neire hörte aus der Entfernung ein Klopfen, wie von Meißeln und gedämpfte Stimmen. Sie passierten einen abzweigenden Gang, dann konnte Neire, der leise vorschlich, die beiden Kreaturen sehen, die am Ende der Sackgasse hockten. Sie arbeiteten mit ihren Meißeln an einem Loch, das in die Tiefe führte. Die Kreaturen waren klein wie Kinder, hatten eine bläuliche Haut, verkrüppelte Beine und einen fassähnlichen Oberkörper. Ihre deformierten Köpfe offenbarten abgestumpfte, grausame Gesichtszüge. Neires Herz klopfte rasend, als er sich in den Schatten näherte. Er hielt seinen neuen Degen unter dem Tarnmantel versteckt und versuchte keine Geräusche zu machen. Die Kreaturen schienen sich zu streiten und brüllten sich gegenseitig an. Die fremde Sprache konnte er nicht verstehen. Als er in den Rücken der ihm näherstehenden Kreatur kam, zielte er auf das Herz und ließ die Waffe hervorschnellen. Der Degen drang tief in das Fleisch ein und die Kreatur hustete Blut. Eine Welle von Adrenalin und Mordlust elektrisierte Neire. Für einen kurzen Moment dachte er an Lyriell, an ihre Jagdgeschichten aus den Eishöhlen. Doch zu seinem Erstaunen lebte die verletzte Kreatur vor ihm noch. Beide Gegner griffen ihre Steinpicken und machten sich kampfbereit. Alles kam Neire wie in einem Traum vor. Hinter ihm hörte er die schweren Schritte von Bargh. Der erste Streich des Drachentöters zerteilte die bereits verletzte Gestalt fast. Gemeinsam streckten sie den zweiten Angreifer nieder. Jedoch bemerkte Neire, dass das Wesen noch atmete. Er schritt um das Loch, zog seine Kapuze zurück und stellte abfällig seinen Stiefel auf den wulstigen Kopf. „Seht sie an Bargh. Unwertes Leben. Abschaum im ewigen Antlitz unserer Göttin. Sie haben Feuer und Schatten nicht verdient. Selbst der Abglanz ihrer Herrlichkeit ist für sie eine Vergeudung. Sterben sollen sie.“ Neire strich sich die gold-blonden Locken zurück und fixierte die Halsschlagader der Kreatur. Langsam stieß er den Degen nach vorne. Blut quoll hervor und Bargh begann zu grinsen. Dann ließ er den kleinen Leichnam in die Grube rutschen. Es gab ein dumpfes Geräusch und ein Knacken von Knochen, als der Körper den Boden traf. Hinein in ein Grab, dass sie sich selbst geschaufelt hatten.

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Sitzung 32 - Die verlorenen Kinder von Raxivort
« Antwort #32 am: 15.09.2022 | 21:57 »
Leise drang ein zischelndes Flüstern durch den grob gehauenen Tunnel. Neire hatte hinter dem Ledervorhang auf Bargh gewartet. Jetzt tauschten sich beide kurz aus, um ihr weiteres Eindringen in die sich verzweigenden Gänge zu planen. „Bargh, ich habe Stimmen gehört. Wie von einer Ansammlung dieser Kreaturen.“ Kurz war das von gold-blonden Locken umrahmte Antlitz von Neire zu sehen, als er zu Bargh flüsterte. Der große Krieger mit dem roten Rubin im rechten Augensockel nickte schweigsam. Sein Blick galt dem weiteren Tunnel. Neire deutete in den Gang, aus dem er keine Geräusche gehört hatte. „Lasst mich vorschleichen und folgt mir. Sobald Kampfesgeräusche aus meiner Richtung zu hören sind, greift an!“ Ohne weitere Worte hüllte sich Neire wieder in seinen Umhang und verschwand in die Dunkelheit. Auf seinem Weg bückte er sich hier und dort, um nach möglichen Fallen zu schauen. Doch die Gänge waren noch nicht sehr alt. Anscheinend hatten die Kreaturen noch keine Zeit gehabt, hier Fallen anzulegen. Nach ein paar Biegungen endete der Tunnel an einem weiteren Vorhang aus Leder. Dort hinter war eine große Felsenkammer zu sehen – mehr als ein Dutzend Schritte im Durchmesser. Die Kammer war gefüllt mit Fässern und Bottichen. Bündel und Säcke waren hier und dort zu sehen. Ein leichter Verwesungsgeruch ging von der Höhle aus, auf deren gegenüberliegender Seite Neire einen zweiten Ledervorhang bemerkte. Leise schlich er durch die Kammer und lugte hinter den Vorgang hervor. Es tat sich ein weiteres, kleineres steinernes Gemach auf. In chaotischer Unordnung war hier wertloser Plunder aufgeschichtet. Auch in dieser kleineren Höhle versperrte ein Ledervorhang den Ausgang. Als Neire keine Bewegung feststellen konnte, schlich er sich auf die andere Seite. Hinter dem Vorhang sah er einen Gang um eine Ecke hinfort führen. Er entschied sich auf Bargh zu warten. Als der Krieger Jiarliraes schließlich den Raum betrat flüsterte Neire ein weiteres Mal. „Bargh, wartet. Ich werde beide Räume nach verborgenen Ausgängen absuchen.“ Die Schatten, die Neire umhüllten und mit ihm spielten, begannen sich erneut zu bewegen. Er suchte hinter dem Krimskrams, der teils hoch aufgestapelt war. Nichts konnte er finden. Nur einen Moment war er unachtsam. Es gab ein Knacken von Porzellan, als die verstaubte Vase am Boden zerbrach. Augenblicklich spürte er sein Herz höherschlagen. Er erstarrte für einen Moment zu Eis und begann zu horchen. Die gedämpften Stimmen hörte er noch immer aus der Ferne. Doch es war, als ob einige der Stimmen lauter wurde. Dann hörte er Schritte, die sich vorsichtig näherten. Aus dem Tunnel, den sie noch nicht erkundet hatten. „Rasch Bargh! Bewegt euch hinter den Vorhang zurück und wartet auf mein Signal. Ich höre Stimmen.“ Neire schlich auf die Öffnung mit dem Ledervorhang zu. Er kauerte sich dort hin und versuchte lautlos zu verweilen. Lauter und lauter wurden die Schritte. Zuletzt hielt er seinen Atem an und sah zwei weitere dieser hässlichen Kreaturen in den Raum vordringen. Die erste der beiden streifte den Vorhang vorsichtig zur Seite. Die zweite folgte. Beide trugen Knüppel. Gelbliche Augen schimmerten in einer Mischung aus Angst und Niedertracht in der Dunkelheit. Neire wartete noch einen Moment. Als die letzte der nun drei Kreaturen an ihm vorbeischritt, zuckte er hervor und rammte ihr den Degen in den Rücken. Für einen Moment war ein Ächzen zu hören - die Kreatur schnappte nach Luft. Dann sank der fassähnliche Oberkörper leblos zu Boden. Nur einen Augenblick später war Bargh zur Stelle. Er schnellte nach vorn und ließ sein Schwert tanzen. Bevor die Kreaturen Alarm schlagen konnten, hatten Bargh und Neire ihr tödliches Werk vollbracht. Sie blickten abfällig und angeekelt auf die kleinen Leiber, die dort lagen.

Im Rausch des Kampfes wirkte alles so unwirklich. Das Zittern seiner Muskeln war jedoch real und der Tremor wurde immer stärker. Wo verdammt nochmal ist nur Neire, was hat er vor? Bargh versuchte auf die Kreatur zuzugehen, die hier hinter einem weiteren Vorhang erschienen war. Die Gestalt war wie die anderen klein, hatte jedoch ihr Gesicht mit einer rötlichen Farbe kriegerisch verziert. Sie war in einen Waffenrock gekleidet und hatte einen Stab getragen, den sie jetzt fallengelassen hatte. Die Worte, die auf Bargh eindrangen, waren machtvoll und überwältigend. Der Zauberwirkende zeigte auf ihn; starrte hasserfüllt in seine Richtung. Muskeln verkrampften und spannten sich an. Die Kraft wich aus seinen Beinen. Seine Rüstung drohte ihn niederzuwerfen. Je mehr er sich versuchte dagegen zu wehren, desto schlimmer wurde es. Er flüsterte mit schwacher Stimme ein Gebet zu Jiarlirae, als seine Bewegung zum Erliegen kam. Er blickte sich um. Neire… Sie waren in den unterirdischen Tempel der Kreaturen vorgedrungen. Dort hatten sie einen Priester, mehrere weibliche Geschöpfe, Kinder und drei Wachen angetroffen. Er war vorangestürmt und hatte sich den Kriegern gestellt, während er Neire aus den Augen verloren hatte. Dann hatte er bemerkt, dass der Priester, der eine Krone aus Schilf und ein Amulett trug, auf dem eine bläulich-brennende Hand abgebildet war, plötzlich Blut hustete. Die Frauen, die den ansonsten nackten Priester bewundert und hier und dort betastet hatten, wichen in panikerfülltem Entsetzen zurück. Zum Vorschein kam der Degen von Neire, der die Brust des höchsten Tempeldieners von hinten durchdrungen hatte. Für einen Moment waren die Schatten um die große Statue aus Schilf länger geworden. Als ob die schwache Gottheit dieses Schicksal nicht akzeptieren würde. Dann war der Leib leblos zu Boden gesunken. Neire war wieder in den Schatten verschwunden. Zuletzt hatte Bargh gesehen, dass eines der flüchtenden Kinder aus der wabernden Dunkelheit von einem Degen aufgeschlitzt wurde. Die Worte vor ihm wurden jetzt lauter. Er drohte auf die Knie zu sinken, konnte die Last nicht mehr halten. Doch dann stockten die rhythmischen Verse. Die Geräusche wurden zu einem Gurgeln und verstummten in dem Maße, wie er an Kraft zurückgewann. Wieder sah er Neire, der die Kreatur von hinten mit seinem Degen niedergestreckt hatte. Für einen kurzen Moment konnte er den von blonden Locken eingerahmten Kopf sehen, der zwischen den Schatten auftauchte. War es für ihn jetzt ein Spiel? Wo war die Angst, die Verzweiflung des Kindes der Flamme hin?

„Bargh, steh auf. Wir müssen weiter. Ich habe das Symbol des Priesters entschlüsselt. Es ist eine alte, aber schwache Gottheit, die sie anbeten. Raxivort. Der Diener eines Dämonenfürsten. Er wachte einst über die Schätze der Hölle. Dann raubte er, was er mitnehmen konnte und floh. Um der Wut des Herrschers der Hölle zu entgehen, schuf er diese Rasse nach seinem Abbild als seine Kinder. Die Xvart. Er tarnte sich fortan als einer der ihren, in einer schier endlosen Menge.“ Neire zischelte die Worte eindringlich. Er blickte auf seinen Begleiter. Bargh kniete zwischen einem knappen Dutzend toter, kleiner Leiber. Es waren die Krieger dieses unterirdischen Volkes, die sich Welle um Welle gegen sie gestellt hatten. „Ich… ich kann nicht. Es sind die verhexenden Worte dieser bemalten Kreatur gewesen, die mir meine Kraft geraubt haben.“ Neire legte jetzt seine verbrannte Hand auf die Schulter des Kriegers. „Wir müssen weiter, ihr solltet mir vertrauen wie einem Freund, gehorchen wie einem Bruder, der für euer besseres Werden strebt. Denkt an die Geheimnisse von Feuer und Schatten.“ Der Ton in Neires Stimme war gefährlich. Immer wieder wich er auf Worte der fremden Sprache von Nebelheim aus. Er sah wie Bargh langsam seinen verbrannten Kopf in seine Richtung drehte. Er spürte die Freundschaft, die unerbittliche Kameradschaft, doch auch irgendeine Art Furcht vor ihm. „Neire, ihr sprecht von einem Bruder. Wo ist die Maske, die mir dieser Bruder versprochen hat?“ Bargh erhob sich bei diesen Worten ächzend. „Die Maske ist nicht vergessen. Wir werden sie gemeinsam erschaffen. Doch es muss von euch kommen Bargh. Was sollen die weiteren Bestandteile sein?“ In diesem Moment sah Neire für einen Moment den Wahnsinn in Barghs gesundem Auge; er gierte nach der Weisheit der Göttin. „Das schwarze Juwel aus der Sphäre der Dunkelheit. Es soll das rechte Auge der Maske werden.“ Für einen kurzen Moment vergaßen sie beide die Umgebung um sich. Neire nickte in einer fast feierlichen Art. Die Idee von Bargh war so einfach, wie sie grandios war. Das schwarze Juwel sollte das Auge der Maske werden. Die lebendige Dunkelheit sollte den fleischverwachsenen Feuerkristall berühren.

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Sitzung 33 - Die verlorenen Kinder von Raxivort II
« Antwort #33 am: 22.09.2022 | 21:34 »
Bargh blickte durch die mit Unrat beschmutzte Wohnhöhle der Kreaturen. Sie hatten die mit Blut bedeckte Kammer hinter sich gelassen und dem Haufen von Leichen keine weitere Beachtung geschenkt. Neire hatte ihm gesagt, er habe Geräusche gehört. So war er dem Jüngling gefolgt, in der Annahme, dass zu jeder Zeit ein weiterer Angriff über sie kommen könnte. Doch nichts dergleichen war passiert und sie hatten schließlich die Frauen und Kinder gefunden, die sich in eine Ecke des Gewölbes kauerten. Die Frauen schienen wie gelähmt von einer Panik und drückten ihre Kinder an die Steinwand hinter sich. Bargh war sich auch hier nicht sicher, ob mit einem Hinterhalt zu rechnen war. Er blickte sich abermals um. Die Höhle hatte mehrere Ausgänge. Von der Mitte war ein Glühen eines Kohlefeuers zu sehen, über dem ein großer gusseiserner Kessel stand. Seitlich davon konnte er zwei Gruppen von verrotteten Sitzgelegenheiten ausmachen – aber keine Bewegung. Plötzlich bemerkte er eine Regung vor sich. Er griff bereits nach seinem Schwert als er sah, dass die gold-blonden Locken von Neire zum Vorschein kamen. Wie aus dem Nichts war der junge Priester aus den Schatten aufgetaucht. Gelbliche Augenpaare blickten nun nicht mehr in seine Richtung, sondern zu Neire, der seinen Tarnmantel ablegte. Ein Weinen und Zischeln war zu hören, wie auch ein Krächzen goblinoider Wortfetzen, die Bargh nicht verstehen konnte. Die Frauen und Kinder waren jetzt dicht aneinandergedrängt – ein Haufen winselnder, in Lumpen gekleideter Gestalten, deren nackte Haut in blau-rötlichen Tönen in der Dunkelheit schimmerte. Ihre deformierten Schädel, ihre fassähnlichen Oberkörper, waren bereits den Kindern anzusehen, die ihren Müttern in der Hässlichkeit um nichts nachstanden. „Ergebt euch! Kniet euch nieder und euch wird nichts geschehen.“ Die Stimme von Neire frohlockte in einem seltsamen zischelnden Singsang der gemeinen Sprache der Oberwelt. Wimmern und Weinen schienen lauter zu werden, die Panik nahm zu. Doch Bargh spürte nur aufkommenden Zorn und eine tiefe Wut. Was gibt er sich mit diesen Kreaturen ab? Wir sollten sie alle töten und keine Zeit verschwenden. Sie sind es nicht wert. Er sollte an meine Maske denken. Ein Pulsieren kam von seinem rechten Auge; dort wo der Rubin mit dem Fleisch des leeren Sockels verwachsen war. „Bitte… bitte… Gnade, am Leben lassen, Herr… Gnade… leben lassen.“ Bargh konnte in dem Winseln tatsächlich Sprachfetzen hören. Einige der Frauen hatten sich auf die Knie begeben und reckten ihre Hände flehend empor. Jetzt sah er wie sich Neire zu ihm umdrehte und ihn angrinste. „Bargh, nehmt das Seil und fesselt sie. Hände auf den Rücken.“ Seine Wut nahm etwas ab. Er ahnte, dass das Neire irgendetwas mit den Gestalten vorhatte. So schritt er zu dem Knäul und begann die kleinen Leiber zu fesseln. Der Gestank, der von diesen ausging, war kaum auszuhalten. Nur aus den Augenwinkeln sah er, dass Neire sich am Kessel zu schaffen machte und kleine Holzschalen mit dampfendem Brei füllte. Doch da war etwas, das der junge Priester in die Schalen streute. Er konnte es nicht genauer sehen. Als er die Kreaturen an einer Wand aufgestellt hatte, brachte Neire den Brei. „Esst… leben lassen. Gnade. Esst! Raxivort will es so.“ Neires Stimme war freundlich doch bestimmend. Bargh sah, dass er auf die Schalen zeigte. Zögerlich fingen die Frauen an zu essen. Doch ohne ihre Hände war es vielmehr ein tierisches Fressen, wie aus Näpfen. Gierig stürzten sie sich über den Brei. Ihren hungrigen Kindern schenkten sie keine Aufmerksamkeit mehr, drängten sie gar zur Seite. Erst als die letzte Schale ausgeleckt war, hoben sie ihre Köpfe und ließen sich auf einen Kniesitz sinken. In diesem Moment sah Bargh seinen jungen Kameraden zufrieden nicken.

„Nun warten wir Bargh. Wir warten und wir werden sehen, welch Schicksal die Schatten der Göttin weben.“ Neire keuchte. Das Schleppen von verschiedensten Holzstücken war anstrengend. Der Haufen in der Tempelhöhle hatte mittlerweile eine beachtliche Größe erreicht. Sie hatten das Holz aus allen Teilen des Komplexes herangeschafft, nachdem sie den Rest der unterirdischen Tunnel und Hallen durchsucht hatten. Tatsächlich hatten sie keine weitere Kreatur mehr angetroffen. Dann hatten sie die Frauen und Kinder in die große Höhle mit den rötlichen Steinwänden gebracht und mit ihrer Arbeit begonnen. Neire wischte sich den Schweiß von der Stirn und drehte sich zu den Frauen und Kindern um. Die Frauen lagen und saßen vor der Felswand. Teilnahmslos starrten ihre Blicke in die Ferne. Aus ihren breiten, mit scharfen Zähnen besetzten Mäulern drang weißlicher Geifer hervor – zog lange Sabberfäden. Selbst auf die immer wieder klagenden und flehenden Versuche der Kinder, mit ihren Müttern zu kommunizieren, zeigten sie keine Reaktionen. Es war, als ob ihr Geist in eine Traumwelt abtaucht war. Neire konnte nur erraten was sie dort sahen. Der bunte Vierling hatte jedenfalls seine volle Wirkung entfaltet. Neire hatte heimlich einen halben Pilz der grünen Sorte kleingeschnitten und ihn für jede der Frauen in den Brei gemischt. Schon nach kurzer Zeit hatte sich der Drogenrausch angekündigt. Dann waren die Frauen nicht mehr ansprechbar gewesen. Er drehte sich um zu Bargh, dem der Schweiß in Strömen vom vernarbten Haupt rann. „Bargh, lasst uns die drei Leichen hierhinziehen. Dann ist die Statue dran.“ Neire zeigte auf das gesteckte Konstrukt aus Schilf, das rudimentär ein übergroßes Abbild der Kreaturen darstellte. Sie zogen die leblosen Körper des Anführers, des Zauberkundigen und des Priesters heran und setzten sie aufrecht an die drei von der Statue abweisenden Seiten des Holzhaufens. Dann widmeten sie sich der Statue. Es gab ein Knistern und Knacken von Schilf, als die Statue nach vorne fiel. Sie kam auf dem großen Haufen zu liegen. Jetzt mussten sie mit dem Ritual beginnen. Neire trat an Bargh heran und reichte ihm einen Weinschlauch. „Trinkt, Bargh. Wir müssen eins werden mit Flammen und Schatten. Unser Geist soll scharf sein. Hell und aufopferungsvoll erweitert.“ Er sah wie Bargh gierig trank und öffnete das geheime Fach am Ende seines alten Degens. Dort glänzte der Grausud, den er aus Nebelheim mitgebracht hatte. Er reichte Bargh eine kleine Fingerkuppe davon. „Nehmt etwas von dieser alten Substanz. Es wird euch helfen. Und ihr werdet Dinge sehen - der Göttin näherkommen.“ Auch er trank von dem Wein und nahm eine Fingerspitze Grausud zu sich. Augenblicklich war der Kampf und die Umgebung um ihn herum vergessen. Für einen Moment schossen farbige Blitze durch sein Blickfeld und vermischten sich mit einem warmen, durchströmenden Gefühl, das bis in seine Extremitäten drang. Er sah die Farben lange glühende Fäden ziehen, als ob die Welt um ihn herum wunderbar verlangsamt wäre. Fast in Trance entblößte Neire seinen Oberkörper. Er wies Bargh an dasselbe zu tun. Dann stülpten sie sich die Masken über. Seine war die aus Nebelheim. Eine Feuerschlange, mit Gold und Juwelen verziert. Die Maske von Bargh war die Haut des skalpierten Pumas, die sie noch nicht weiter bearbeitet hatten. Als Neire nach der Farbe griff, die sie in den Höhlen gefunden hatten, glaubte er eine Präsenz zu spüren. Es war wie ein Sprechen von Schatten oder vielleicht die ätherische Stimme von Bargh. Er sah die Muster im Stein, die Farben. Doch sie bewegten sich nicht. Etwas fehlte. Sie verwendeten die weiße Farbe, um die Runen von Jiarlirae auf ihre eigenen Oberkörper zu zeichnen. Dabei sangen sie die alten Gebete Nebelheims. Dann führten sie die gefesselten Gestalten vor den Holzhaufen. Die Frauen gingen teilnahmslos mit, doch die Kinder schienen in eine wilde Panik zu verfallen. Bargh hatte zuvor jedes Kind an jeweils eine Frau gefesselt. Insgesamt waren es sieben Frauen mit einem Kind und eine Frau mit zwei Kindern. Vor dem Haufen rissen sie den Gestalten die Lumpen vom Leib. Neire nahm die rote Farbe und begann alte Runen auf die Oberkörper der Kreaturen zu zeichnen. Dabei sang er die Verse des Chorals an die Schwertherrscherin:

„Preiset die schwarze Natter, als ein Abbild unserer Göttin, deren Name Jiarlirae ist. Weinet nicht um die verglimmenden Feuer, weinet nicht um die erlischende Glut, die Glut von Nebelheim. Denn die Dunkelheit birgt ihre Ankunft, Schatten ist das Licht unserer Göttin und Flammen der Morgen ihrer Heiligkeit.“

Als das Werk vollbracht war führte Bargh die einzelnen Paare der Kreaturen auf das Schilf hinauf. Teils sträubten sich die Kinder, doch sie waren tollpatschig und fast beraubt ihrer Kraft. Sie schrien noch immer aus vollen Kehlen. Doch die Schreie hörte Neire kaum. Seine Sinne waren betäubt von tanzenden Farben und einem dunklen, chaotischen Rauschen. Er wähnte sich wieder in Nebelheim, im Inneren Auge. Er spürte die Hitze, die aufsteigende Glut, das brodelnde Chaos. Die sich ewig verändernden Formen und Muster in der Tiefe. Er hörte die Stimmen aus weiter Ferne, das Flüstern in Schatten und flüssigem Stein. Als er die Fackel anzündete begann er singen:

„Die weiß-rot-schwarze Flamme steht über dem schwachen Gott, deren Kinder sich gierig dem Opfer hingeben. Sie huldigen Euch Danuar'Agoth, sie huldigen Euch… Ihr tut was Ihr möchtet, sie reihen sich ein, sie sollen Euch grün-rot-goldenes Opfer sein. Oh Hemia-Galdur, oh Hemia-Galdur… Bewegen sich Schatten in Feuers Bann, auf dass sich die Heldin erheben kann, Oh Asmar’fana, oh Asmar‘fana. Der Henker der Ödnis, so kommet hervor, sein Frohlocken sich nicht mehr im Winde verlor, im heulenden Winde, oh Vocorax'ut'Lavia.“

Nach jedem Vers zündete Neire eine der Ecken des Scheiterhaufens an. Schon rasch züngelten die Flammen empor und ein wohliger Schein begann mit den Schatten zu spielen. Doch da waren wieder die Schreie. Auch einige der Frauen setzten in den Chorus der Todesangst ein, als die ersten Flammen an ihnen leckten. Neire wurde wie aus einem Traum gerissen. Er spürte Wut. Können sie nicht ihr Schicksal genießen? Sie werden eins mit Feuer und Schatten. Was kann es denn Schöneres für sie geben? Für einen Moment vergaß Neire sein Ritual und äffte die Stimmen in kindlicher Manier nach. Dann bemerkte er, dass Bargh wie gebannt in die Flammen schaute. Licht und Schatten neckten sich teuflisch auf seiner weiß getünchten Tiermaske. Das Bild eines Ritters einer alten Hochkultur, der nun Teil eines archaischen Opferkultes geworden war. Jetzt fing Neire an zu tanzen. Er spürte die Flammen und die Dunkelheit. Das was zuvor gefehlt hatte, waren die Flammen gewesen. Sie waren jetzt bei ihm. Er spürte die Geheimnisse, die auf ihn warteten. Und er spürte Sie, seine Schwertherrscherin, Jiarlirae. Sie war hier.

Das Pochen war dumpf. Neire schlug dreimal mit dem Knauf seines Degens an die Türe. Der Regen prasselte auf ihn hinab. Um ihn herum und durch die Schlieren des Schauers konnte er die hölzernen Häuser von Kusnir sehen. Hinter ihm wartete Bargh im Sattel seines Pferdes. Neire wollte sich bereits umdrehen, da hörte er die dumpfen Schritte jenseits der Türe. Es gab das Knirschen eines Schlüssels und die Pforte wurde aufgezogen. Im Licht einer getragenen Lampe sah Neire den Dorfvorsteher, der so griesgrämig wie eh und je dreinschaute. „Kurst. Wir sind zurückgekehrt. Und wir haben euren Skulk erschlagen. Jetzt wollen wir unsere versprochene Beute.“ Kurst hatte ihn anscheinend wiedererkannt und in Erinnerung an die vergangene Nacht sein Gesicht verzogen. Doch nun hellte sich seine Miene auf. „Ihr habt das Wesen getötet? Das Wesen, das unser Dorf heimgesucht hat? Sagt wie sah es aus? Was habt ihr gesehen?“ Neire erinnerte sich zurück. Er war um den Scheiterhaufen getanzt, bis dieser heruntergebrannt war. Dann hatten sie ihre Sachen zusammengesucht und waren aufgebrochen. Sie hatten einen versteckten Ausgang gefunden, doch Neire hatte ein Wimmern gehört. In einer weiteren, bis dahin unentdeckten Höhle, hatten sie ein Wesen gesehen. Die Kreatur war sichtlich im Zustand der geistigen Verrücktheit gefangen und schien harmlos. Ihr haarloser Körper war ausgemergelt, doch drahtig gewesen. Ihre Haut hatte hier und dort die Töne von Stein angenommen, ähnlich dem Tarnumhang, den Neire trug. An ihrer Hand hatte die Gestalt einen weißen Handschuh getragen, über dessen Ringfinger ein goldener Ring steckte. Neire hatte die Kreatur aus den Schatten heraus getötet. Er hatte für einen kurzen Moment das Gefühl gehabt, dass etwas in seinen Kopf eindringen würde. Er hatte den Handschuh auf alte Flüche hin untersucht und festgestellt, dass diesem eine Art Intelligenz innewohnte. Eine Intelligenz die ihnen nicht wohlgesonnen war. So hatte er den Arm der Gestalt mit einigen Hieben vom Körper getrennt und ihn Bargh gegeben, der ihn in seinem Rucksack verstaut hatte. Als Neire Kurst vom Aussehen der Kreatur erzählte, änderte sich die misstrauische Miene des Alten nicht. „Vertraut ihr mir nicht, Kurst? Wir haben sogar seine Hand abgeschlagen. Die Hand des Skulks mitsamt…“ In dem Moment hörte er das Räuspern von Bargh. „Wir haben sie hier Kurst. Ich kann sie euch zeigen.“ Bargh sprach mit lauter Stimme durch den Regen und lenkte sein Pferd einige Schritte näher. Doch Neire sah bereits wie Kurst ängstlich lächelte und einen Schritt hinter die Schwelle zurückwich. „Nein… ähm… ich glaube euch. Die Hand abgehackt… wie fürchterlich. Wartet hier. Ich hole euch eure versprochenen Schätze.“ Es dauerte einige Zeit bis Kurst mit einer kleinen Schatulle von Juwelen zurückkam. Als er sie Neire übergab, begann er erneut zu sprechen. „Ihr müsst wissen, dass wir fähige Krieger wie euch hier gebrauchen können. Ihr seid in Kusnir immer willkommen. Gerade jetzt in diesen Zeiten. Seit einigen Tagen gab es keine Händler mehr, die den Pass überquerten. Und gerade das war doch eine sichere Route. Die Adlerburg schützt dort den Weg.“ Neire hörte interessiert zu, bei den Nachrichten des Alten. Doch innerlich blickte er auf Kurst hinab. „Kurst, eures Glückes Schmied müsset ihr selber sein. Die Schwachen verblassen in den Geschichten. Auf andere solltet ihr euch nicht verlassen.“ Er sah, dass Kurst für einen Moment nachdachte, bevor er antwortete. „So wie wir uns auf euch verlassen haben, Neire? Ihr habt uns vor dem Skulk gerettet.“ Neire knirschte mit den Zähnen. In diesem Moment hätte er Kurst am liebsten hier und jetzt ermordet. Doch wer war er schon? Ein Kind der Flamme. Fremd in der Oberwelt und fremd in ihren menschlichen Bräuchen. Er drehte sich wortlos um. Dieses Mal hatte der alte Mann gewonnen. Doch er würde wiederkommen. Er würde wiederkommen und die Welt würde brennen.

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Sitzung 34 - Aufbruch zur Adlerburg
« Antwort #34 am: 29.09.2022 | 21:59 »
„Mensch, bringt mir Fleisch vom Spieß und Bier!“ Bargh hörte die zischelnde Stimme der Intonation eines fremden Dialektes. Die Worte von Neire trugen eine tiefe Forderung, die ihr Ziel in Form eines aggressiven Gebärdenspiels heimsuchte. Für Bargh wirkte die Szenerie belustigend. Er spürte noch immer ein bedrückendes Gefühl durch den Exzess des letzten Abends. Sie waren nach ihrer Rückkehr in das Gasthaus von Kursnir eingekehrt. Sie hatten größtenteils schweigend Bier um Bier getrunken. Mehr von dem faden Getränk, als es dem Anlass entsprochen hatte. Doch auch jetzt spürte Bargh die Auswirkungen des Grausuds – der seltsamen Substanz von der ihm Neire am gestrigen Tag eine Kostprobe geben hatte. Mit jedem Schluck Wein den er trank wurde die Wirkung wieder stärker. Als ob die Substanz eine Art Gedächtnis hätte, das nur aktiviert werden musste. Die Farben waren nun schon blendend und betäubend. Die Bewegungen zogen strahlende Fäden. Bargh nahm den Schankraum vernebelt war. Morgendliches Licht drang durch die Fensterläden und brachte Profanes zum Glitzern. Selbst Staubkörner blitzen wie kleine Sterne. Er schmunzelte. Da war die fettleibige Gestalt von Walfor, mit der Neire sprach. Die Szene hatte für ihn eine ihn eine Art Distanz, die der Rauschzustand erschuf – ähnlich einer Theatervorführung. „Junger Herr, wir haben kein Fleisch, keinen Spieß. Alles leer, alles aufgegessen. Nur Brot und Schmalz, junger Herr.“ Bargh beobachtete, wie sich Walfor vor Neire verbeugte, als ob er das fehlende Fleisch des Spießes entschuldigen wollte. In dem von Öllampen erhellten Raum, der von vier Holzpfeilern getragen wurde, war die fettleibige, glatzköpfige Gestalt mit der ledernen Schürze eine beindruckende Erscheinung. Der Wirt des Gasthauses strahlte eine Art natürliche Unsicherheit aus, die nur durch seine Gewohnheit und durch die Wiederholung seiner Aufgaben überspielt wurde. Bargh sah, wie sein jugendlicher Begleiter sein Haupt schüttelte. Neire hatte sich am Morgen gewaschen und seine gold-blonden Locken schimmerten noch nass im Zwielicht. „Nein Mensch, ich will Fleisch. Schlachtet mir ein Tier und bringt mir den Spieß. Verliert keine Zeit.“ Bargh sah, dass Walfor anfing zu zittern, als Neire gesprochen hatte. Das Doppelkinn des überwichtigen Wirtes bildete lange, schwabbelnde Falten, als er sich in Gedanken zurückzog. „Nur Brot und Schmalz, junger Herr. Nur Brot und Schmalz. Wir haben nichts anderes. Esst, es ist gut, esst.“ Bargh sah, dass Neire nickte. Sein jüngerer Begleiter gab dem Wirt weitere Anweisungen, die dieser stupide wiederholte. Zudem war da der Hass in den Augen des jugendlichen Priesters, als Walfor den Wunsch seines Begleiters verneinte. Nachdem er mit Neire wieder allein am Tisch war, erhob er das Wort. „Neire, glaubt ihr, dass Walfor uns die Speisen vorenthält?“ Bargh gluckste. Er sah, wie Neire sich bei seiner Frage umdrehte und Walfor beobachtete. Er winkte ihn tatsächlich heran. Sie aßen mittlerweile vom Schmalz und tranken das fade Bier. „Walfor, das ist gut. Habt ihr das selber gemacht? Was ist Schmalz?“ Bargh bemerkte, wie das Gesicht von Walfor bei der Frage zu zucken anfing. Seine Gesichtsmuskeln drückten anscheinend seine fehlende geistige Kapazität aus. Wellen dieser Zuckungen breiteten sich über sein gewaltiges Doppelkinn aus. „Was meint ihr Junger Herr? Das ist Schmalz. Gemacht von Walfor. Walfor machen Schmalz. Wie immer.“ Bargh lachte laut auf. Er mochte den Wirt. Er hatte eine lange Zeit nicht einen solch nützlichen Idioten gesehen. Damals in Fürstenbad ja, aber das war eine andere Geschichte. Wieder erhob Neire das Wort. „Ja, Walfor, ich habe verstanden. Ihr spielt ein Spiel mit uns. Wir wollen aber ein Spiel mit euch spielen. Ihr sollet tanzen für uns. Ihr sollet euch im Kreise drehen und uns von eurem Schmalz erzählen.“ Bargh spürte den Hass, den Neire mit seinen Worten flüsterte. Doch Walfor, gesegnet mit einer überraschenden Einfältigkeit, blickte Neire mit großen Augen an. „Ist das ein Spiel junger Herr? Tanzen kann ich, ja sehr gut. Walfor kann tanzen. Ja…“ Bargh sah, das Walfor seinen massiven Körper an ihren Tisch drückte. „Ja, ein Spiel. Mensch. Ein Spiel in dem ihr reich werden könnt.“ Bargh lehnte sich zurück. Er beobachtete die Szene und bemerkte, dass Neire einige Silbermünzen hervorzog. Neire ließ diese auf den Tisch fallen. Für einen kurzen Moment füllte ein klingendes Geräusch die karge Halle. „Wie viele Münzen sind diese, Walfor. Nennt mir die Zahl, doch wagt nicht zu zählen.“ Bargh blickte auf die schimmernden Geldstücke, die auf den Tisch fielen. Sie hatte eine seltsame Prägung. Runen und ein Schlangenmuster. Bargh begann automatisch die Münzen zu zählen. Es herrschte für einen kurzen Moment eine Stille, bevor Neire erneut sprach. „Mensch, ihr schummelt. Ihr sollt nicht zählen. Ihr sollt mir nur eine Zahl nennen.“ Tatsächlich hatte Bargh bereits die Zahl der Münzen auf Acht bestimmt. Walfor hatte derweil seinen gewaltigen Bauch an den Tisch gedrückt und versuchte anscheinend die Münzen zu zählen. „Nennt uns eine Zahl. Und schummelt nicht. Ihr sollt nicht zählen.“ Der dicke Mann sah seine Chance, doch er zählte noch weiter. Mit seinem Mund machte er lautlose Bewegungen. Erst dann nannte er eine Zahl. „Drei Münzen. Drei sind es“. Bargh sah Neire lachen und stimmte ein. Mittlerweile hatte er sein Bier getrunken und genoss die Vorstellung in seinem Zustand der Trunkenheit. „Das ist falsch und ich habe gesehen, dass ihr geschummelt habt.“ Für einen Moment war das Lachen hinfort. Bargh blickte wieder zu Neire, der Walfor musterte. „Wir spielen ein anderes Spiel. Dreht euch für jede Münze einmal im Kreis. Acht Mal!“ Diesmal reagierte Walfor mit einem zurückgebliebenen Grinsen. „Ich mag eure Spiele junger Herr und ich kann sehr gut tanzen. Sehr gut tanzen kann ich.“ Walfor begann sich tatsächlich im Kreis zu drehen. Seine Bewegungen waren flapsig und träge. Sein Fett schwabbelte asynchron im Schritt seiner Bewegungen. Bargh war von dem Schauspiel wenig angetan und fragte sich, wie lange der fettleibige Schwachsinnige ihnen noch etwas vorgaukeln solle. Als Walfor eine weitere Drehung machte, war es ihm zu viel. Er gab Walfor einen kräftigen Tritt in den Hintern. Der ungeschickte, übergewichtige Wirt stolperte und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. In diesem Moment sah Bargh Neire hervorspringen, der seinen Degen zog und sich über Walfor beugte. „Ihr habt doch geschummelt, Mensch. Ihr seid Abschaum. Ein Spielverderber. Ich könnte es jetzt beenden, euer armseliges Leben.“ Bargh spürte die Gewalt die Neire ausübte. Er hätte den Wirt gerne selber getötet, doch er sah, dass Walfor anfing zu weinen. Die fettleibige Gestalt rollte sich auf dem Boden zusammen, unfähig andere Dinge wahrzunehmen. Als Bargh sich langsam erhob und das Gasthaus verlassen wollte sah er, dass Neire die Münzen vom Tisch hob. Er ließ sie langsam auf Walfors zitternden Körper hinabfallen.

„Schaut dort. Verbrannte Gebäude. Ist das Gannwegen?“ Neire zeigte auf Ruinen in der Ferne. Von einigen Häusern stieg noch dunkler Rauch auf. Ihre beiden Begleiter konnten die Gebäude anscheinend noch nicht sehen. Sie waren ohne Pferde und nur die erhöhte Sitzposition machte Neire den Blick möglich. Die beiden Söldner hatten sie ein Stück hinter Kusnir getroffen. Beide hatten gerade mit Kurst gesprochen. Die beiden hatten vom Dorfvorsteher ein Säckchen mit Münzen erhalten und waren mit den Worten verabschiedet worden, in Gannwegen und der Passstraße Adlerweg nach dem Rechten zu schauen. Da Barghs und Neires Weg auch in diese Richtung führte hatten sie sich den Söldnern angeschlossen. Auf Neires Frage hin, wem sie dienen würden, hatte der ältere der beiden mit, wir dienen dem Herrn der Münze geantwortet. Neire hatte sie seitdem Sklaven der Münze genannt. Jetzt schienen beide beunruhigt und zogen ihre Kurzschwerter. Der Ältere von beiden hatte kurzes braunes Haar und nannte sich Rognar. Er trug wie sein jüngerer Begleiter Wulfgar ein Lederrüstung. Wulfgar machte den aufgeweckteren Eindruck. Der Söldner hatte lange blonde Haare, die bis zu den Schultern hinabfielen. Er drehte sich zu Neire um. „Das kann nur Gannwegen sein. Ein kleines Dorf von Holzfällern.“ Neire blickte nochmals in die Richtung. Der bewölkte Himmel hatte sich über den Vormittag etwas gelichtet. Jetzt sah er das Tal vor sich aufragen, das sich in eine Landschaft von schroffen Bergen hin verjüngte. „Dann lasst uns nach Gannwegen reiten und dort nach dem Rechten schauen.“ Sprach Bargh und setzte sein Pferd in Bewegung. Neire folgte ihm. Auch die beiden Söldner bewegten sich vorwärts. Eine unruhige Anspannung lag auf ihren Gesichtern. Als sie nach einiger Zeit an den ersten Gebäuden vorbeikamen, sahen sie die verkohlten Leichen. Einigen waren Gliedmaßen abgehackt worden. Andere trugen Spuren eines Kampfes. Es war keine Bewegung zwischen den Häusern zu sehen, die noch nicht lange abgebrannt waren. In der Mitte des Dorfes fanden sie einen Leichnam der anders beschaffen war. Die Kreatur war nicht menschlich, doch von humanoider Gestalt. Sie hatte ein Fell und den Kopf eines Hyänenwesens. Bargh erinnerte sich an den Kampf in der verlassenen Feste, der Gundaruk fast das Leben gekostet hätte. Die Kreaturen, denen sie dort begegnet waren sahen dieser hier sehr ähnlich. Während Neire noch nachdachte, lenkte Bargh sein Pferd an das seinige heran. „Neire, ich habe am Rande des Dorfes Spuren entdeckt. Spuren von diesen Kreaturen. Sie führen in diese Richtung.“ Bargh zeigte auf die Berge in der Ferne. „Das kann nicht sein. Dort befindet sich die Adlerburg, die das Tal und den Pass bewacht. Eine ganze Schar berüsteter Wachen befindet sich in der Burg.“ Neire blickte sich um. Die zweifelnde Stimme kam von Wulfgar, der ihrem Gespräch anscheinend gelauscht hatte. „Zweifelt ihr meine Worte an?“ Bargh hob seine Armbrust ein Stück höher, als er zu Wulfgar sprach. „Äh… nein, Herr Drachentöter. Ich meine nur… die Adlerburg und diese Kreaturen. Das passt nicht zusammen. Wir müssen Kurst Bericht erstatten.“ Neire gefiel das nicht. Sie wollten sich anscheinend davonstehlen und Hilfe holen. Er flüsterte Bargh zu. „Sie sollen mit uns kommen oder sie sollen sterben.“ Bargh nickte und baute sich auf seinem Pferd auf. Seine Stimme war jetzt laut und bestimmend. „Nein, ihr werdet mit uns kommen. Wir werden der Sache nachgehen. Ihr untersteht jetzt meinem Kommando. Schließt euch uns an. Befehlsverweigerung wird mit dem Tode bestraft.“ Für einen kurzen Moment herrschte eine beklemmende Stille. Alle hatten ihre Waffen gezogen. Dann nickte Rognar. „Gut dann werden wir mit euch kommen. Wir werden uns eurem Befehl nicht verweigern, Herr Drachentöter.“ Neire konnte das Missfallen in den Augen der Söldner sehen, als Rognar sprach. Bargh nickte und zeigte in Richtung der dunklen Berge. „Wir brechen sofort auf. Unser Weg führt uns zur Adlerburg.“ So ließen sie die verbrannten Ruinen von Gannwegen zurück und folgten weiter dem Adlerweg, in Richtung der Höhen.
« Letzte Änderung: 6.10.2022 | 13:54 von FaustianRites »

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Sitzung 35 - Ein Fest ohne böses Erwachen
« Antwort #35 am: 6.10.2022 | 13:59 »
„Dort seht. Die Burg… Das muss die Adlerburg sein.“ Neire ließ für einen Moment die Zügel fallen und zeigte mit seinem rechten Arm auf das imposante Bauwerk, welches das kurvige Tal überragte. Die Wolken waren schon seit den Vormittagsstunden aufgebrochen und jetzt schimmerte die Mittagssonne über einem klaren blauen Himmel. Die faszinierende Bergwelt offenbarte die alte Trutzburg, die sich an den Stein der Felswand klammerte, gar mit ihm verwachsen zu sein schien. Über einem gewaltigen Fundament waren mehrere Ebenen zu sehen. Eine Wehrmauer und Türme. Neire ließ seinen Blick für einen Moment auf dem Bauwerk ruhen, dann musterte er die Söldner Rognar und Wulfgar, die vor ihnen gingen. Die beiden schienen den Fußmarsch am gestrigen Tage gut verkraftet zu haben. Die Unterkühlung, die ihnen in den Morgenstunden anzusehen war, hatten sie durch ihre Bergwanderung hierher überwunden. Nachdem sie Gannwegen am letzten Tag verlassen hatten, waren sie dem Adlerweg gefolgt, der sie entlang des Tales immer höher in die Berge geführt hatte. Schließlich war der Abend hereingebrochen und sie hatten an einer Felswand ihr Lager aufgeschlagen. Am Abend hatte Bargh dann einen Weinschlauch herumgehen lassen. Sie hatten zuerst schweigend getrunken. Doch dann hatten Wulfgar und Rognar einige alte Geschichten erzählt. Besonders Rognar war dem Wein zugeneigt gewesen und war am nächsten Morgen nur schwer wach geworden. Neire hatte in den frühen Stunden mit Bargh zu seiner Göttin gebetet, die er nach außen hin als Heria Maki anpries. Natürlich hatten sie die Verse an die Schwertherrscherin gerichtet. Doch Wulfgar und Rognar schienen sich nicht mit den alten Göttern auszukennen, noch hatten sie daran gedacht mit ihnen zu beten. Nach einigen weiteren Stunden des Fußmarsches hatte sich ihnen dann der Blick auf die Adlerburg eröffnet. „Ja, das ist die Adlerburg. Was sagt ihr dazu, Herr Drachentöter? Ein Bollwerk gegen die Küstenlande.“ Rognar streckte beim Sprechen seine Brust hervor. Sein Stolz um das alte Herzogtum Berghof war so offensichtlich, wie die Falten seines Gesichtes sein fortschreitendes Alter verrieten. Neire blickte zu Bargh, doch der grummelte nur etwas vor sich hin. „Wir sollten vorsichtig sein. Vielleicht befinden sich die Kreaturen, die Gannwegen verwüstet haben in der Burg.“ Sprach Neire und blickte von seinem Pferd zu Rognar hinab. Dieser fing augenblicklich an zu lachen. „Mein Junger Herr… ihr müsst wissen… Die Adlerburg, sie ist uneinnehmbar!“ Wieder war da der Stolz in seinem Gesicht und eine tiefe Zuversicht. Neire nickte und sprach. „Dennoch sollten wir vorsichtig sein. Lasst mich die Burg auskundschaften und wartet hier, was sagt ihr Bargh?“ Als Bargh nickte, sattelte Neire ab und begann den ausgetretenen und abgewetzten Adlerweg entlangzuhuschen. Hinter einer Felsnadel warf er sich den Tarnumhang über und verschmolz mit den Schatten. Obwohl die Sonne hoch stand, waren die Felsen steil. So konnte er immer wieder den notwendigen Schatten finden, in dem er sich sicherer fortbewegte. An einer Gabelung des Weges nahm er die linke Abzweigung, die über Stufen im Felsen zur Burg hinaufführte. Der Weg wandelte sich schnell in einen Stieg und dann in einen Hohlweg, der durch hohe Felsen führte. Schließlich endete der Weg an einem großen Portal aus eisenverstärktem Holz – einem verschlossenen Fallgatter. Vorsichtig schlich Neire näher und konnte in der Wand Schießscharten erkennen. Schon bald vernahm er den hundeartigen Geruch von fauligem, nassen Fell. Hinter den Schießscharten war ein düsterer Burgraum zu sehen, in dem mehrere der Hyänenkreaturen saßen und Wache hielten. Neire ahnte, dass sie hier nicht weiter vordringen konnten. So schlich er den Weg zurück und nahm diesmal die rechte Gabelung. Dieser Weg stellte sich als Fortführung des Adlerwegs heraus, der um den unteren Teil der Burg herumführte. Als er die Steinwände des Fundamentes erreichte, die neben ihm meterhoch aufragen, wurde er wieder vorsichtig. Nicht viel weiter, kam er an eine gewaltige Türe aus massivem Stein. Meterhoch ragten die beiden Türhälften auf. Über der Türe war das Wappen der Arthogs zu sehen: Der Handschuh samt Ring über dem Ringfinger. Neire verweilte nicht lange und schlich weiter. Hinter einer Ecke sah er eine Öffnung. Hier musste sich eine ähnliche Steintüre wie die zuvor gesehene befunden haben, doch die Flügel waren jetzt geöffnet. Langsam näherte er sich. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass die Türe eingebrochen war. Spuren von Gewalt waren zu erkennen. Dahinter sah er im Zwielicht eine unterirdische Halle, in deren Ecken Rüstungen schimmerten. Für einen kurzen Moment dachte er an eine Sinnestäuschung, doch er erkannte tatsächlich von den Rüstungen gehaltene Waffen, die wie von Geisterhand in der Luft schweben. Für einen kurzen Moment wurden die Windgeräusche um ihn herum geringer. Er lauschte und konnte aus weiter Ferne Rufe und Schreie durch das Gebäude hallen hören. Wie von einem großen Gelage. Neire hüllte sich tiefer in seinen Tarnmantel. Er hatte genug gesehen und gehört. Er drehte sich um und begab sich auf den Rückweg zu seinen Kameraden.

Wieso hatten sie sich nur auf diesen Auftrag eingelassen. Ja, Kurst hatte sie reichlich in Münzen bezahlt, doch darauf hätte er jetzt gut verzichten können. Er wollte kein Held sein, dafür war er bereits viel zu alt. Sollten doch andere die Drecksarbeit machen. In Gannwegen war es eine Situation auf Leben oder Tod gewesen. Der Drachentöter, wie er von dem seltsamen Jungen genannt wurde, hatte ihnen mit dem Tode gedroht, sollten sie sich ihm nicht anschließen. Und so hatten er und Wulfgar zähneknirschend eingewilligt. Obwohl sie der Jüngling fortlaufend als Sklaven der Münze beleidigte hatte. Nun hatte sich jedoch alles geändert. Nachdem sie eine Zeit auf Neire gewartet hatten, hatte sie der junge Priester zur Burg geführt. Sie waren alle so gut es ging geschlichen und hatten sich hier und dort im Schutze der Felsen getarnt. Als er den zerstörten Eingang gesehen hatte, war eine uralte Sicherheit gebrochen, ein tiefer Stolz gewichen. Die Adlerburg kannte er noch aus Kindermärchen. Ihre Uneinnehmbarkeit war für ihn ein Zeichen der Überlegenheit des Herzogtums von Berghof gewesen. Rognar spürte, dass er am ganzen Körper zitterte. Doch an eine Flucht war nicht zu denken. Er blickte zurück in den Saal mit den animierten Rüstungen. Sie hatten sich bis jetzt nicht bewegt. Vor ihm hörte die verhasste, zischelnde Stimme aus der Dunkelheit. Diesen fremden Akzent hatte er noch nie gehört. „Folgt mir durch den Gang. Entzündet eine Fackel. Ich habe eine geheime Treppe nach oben entdeckt.“

Neire ließ seine Mitstreiter in der Dunkelheit der Wendeltreppe zurück. Er hatte ihnen zugeflüstert ihre Fackel auszulöschen, da er Geräusche gehört hatte. Er näherte sich vorsichtig dem kehligen Schnarchen, das er von oben vernahm. Auch die Schreie und Rufe des Gelages wurden jetzt lauter. Irgendwann erreichte er eine Türe. Die Wendeltreppe ging weiter nach oben. Hinter der Türe hörte er die Geräusche. Leise öffnete er das kleinere hölzerne Portal. Dahinter war ein unregelmäßig geformter Burgraum zu erkennen. Licht drang durch Schießscharten und erhellte das Gewölbe kaum. Der Gestank, der ihm entgegenkam, war kaum auszuhalten. Neben Schweiß und verrottetem Fell, roch er Alkohol. Zudem konnte er erkennen woher das Schnarchen kam. Auf hölzernen Pritschen lag ein halbes Dutzend der Hyänenkreaturen. Fellige Humanoide mit einem furchterregenden tierischen Kopf. Sie alle schienen hier ihren Rausch auszuschlafen. Hinter einer weiteren Türe hörte er das Gelage. Neires Herz begann augenblicklich zu pochen, als er mit gezogenem Degen Schritt für Schritt durch den Raum machte. Zuerst verriegelte er leise die zweite Türe. Dann postierte er sich vor dem ersten der Wesen. Einen kurzen Moment dachte er an Lyriell und ihre Geschichten aus den Eishöhlen. Dann verwarf er die Gedanken. Er beruhigte seine zitternde Hand. Er musste handeln, jetzt war die Gelegenheit. Für euch sollte es ein Fest gewesen sein, ein Fest ohne böses Erwachen. Er visierte das Herz des ersten Wesens an. In dem Moment als er zustach legte er die Hand auf das Maul der Kreatur. Wie in einem Traum, wie in einer Zeitlupe nahm er seine Umgebung wahr. Tief hatte sich der Degen hineingebohrt. Warmes Blut sprudelte in Strömen hervor. Er musste das Herz getroffen haben. Die Gestalt zuckte noch und versuchte nach Luft zu schnappen. Doch schon wurden ihre Bewegungen geringer. Neire dachte an seine Göttin. Die Angst und das Adrenalin hatten sich zu einem Kampfesrausch gewandelt. Seine Bewegungen wurden mechanisch. Er schlich sich zum nächsten Wesen. Erneut setzte er den Degen an. Rigoros und unmissverständlich war der Imperativ des Mordens. Blut sprudelte auf, als er den Hals des Wesens durchschnitt. Wieder und wieder setzte er zum tödlichen Stich an. Bis die letzte der Kreaturen ihr Leben aushauchte. Er jetzt bemerkte er das Blut durch das er watete. Es bedeckte bereits einen großen Teil des Bodens. Neire betrachtete sein Werk und das Zwielicht durch das er wandelte. Seine Göttin musste ihn jetzt sehen, denn er war eins mit den Schatten.

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Sitzung 36 - Der Kampf um die Adlerburg
« Antwort #36 am: 16.10.2022 | 21:42 »
Er stand im zwielichtigen Raum und lächelte sie an. Bargh spürte, dass ihre Mitstreiter Rognar und Wulfgar mit ihren Ängsten und Ekeln zu kämpfen hatten. Er befürchtete, dass sie von dem sich offenbarenden Bild überwältigt wurden. Vor ihnen stand der lächelnde Neire in einer Lache von Blut, die den gesamten Boden des irregulär geformten Burggemachs bedeckte. Er hatte anscheinend die betrunkenen Hyänenkreaturen im Schlaf ermordet. Als Rognar und Wulfgar die Stirn runzelten, zuckte Neire mit den Schultern und schüttelte sein blutbespritztes, gold-blondes Haar. Es hatte den Anschein, als ob er niemals einer anderen Kreatur ein Haar krümmen konnte. Doch Bargh wusste um Neires Fähigkeiten der Schatten und er war stolz auf das, was sie erreicht hatten. Bargh sah, dass Neire den Finger auf den Mund legte und flüsterte. „Folgt mir und haltet eure Schwerter bereit. Hinter der Türe halten sie sich auf.“ Erst jetzt bemerkt Bargh den Geruch von Schweiß und nassem, verrottetem Fell, der in diesem Gemach lag. Dieser Geruch wurde nur von dem schweren Hauch von Alkohol und Blut überdeckt, der sich kürzlich über dem Raum ausgebreitet hatte. Als Neire zur ungeöffneten Ausgangstüre trat, hob Bargh sein Schwert. Auch er hörte jetzt die gedämpften Geräusche des Gelages durch die Pforte dringen. Neire trat zu Türe und begann diese vorsichtig zu öffnen. Bargh betrachtete Rognar und Wulfgar in diesem Moment genau. Er würde jeden Moment von Feigheit mit dem Tode bestrafen. Zwar hatte er in der Vergangenheit keine Hinrichtungen vollführt, doch nach den jüngsten Ereignissen fühlte er eine Art inneren, schwelenden Hass, der ihn dazu befähigen würde. Neire öffnete die Türe vollständig lautlos. Dahinter offenbarte sich ihm der Blick auf ein Gelage. Der Gestank von Schweiß, nassem Tierfell und Alkohol strömte ihm entgegen. Mehr als ein Dutzend der großen muskulösen Humanoiden mit dem Hyänenkopf saßen in einem weiten Saal der Burg. Die Bänke und Tische waren um einen großen Kessel angeordnet, dessen röhrenförmiger Auslass über einem Eisengitter im Boden endete. Der Lärm, den die Kreaturen machten, war ohrenbetäubend. Neben einem Brüllen war hier und dort tiefes oder höheres Bellen zu hören. Nachdem Bargh die Worte zum Angriff erhoben hatte, stürmten Rognar und Wulfgar voran. Er folgte und spürte das Adrenalin, das in ihm das Feuer des Kampfrausches entfachte. Neire hatte er für den Moment aus den Augen verloren. Bargh ließ sein Schwert auf die Gestalt hinuntersausen, die sich ihm entgegenstelle. Er sah Blut aufspritzen, doch das Hyänenwesen drang weiter auf ihn ein. Einige der Kreaturen schienen überrascht zu sein von ihrem plötzlichen Angriff. Andere griffen bereits nach ihren Äxten und sprangen heran. Er wurde jetzt von mehreren der Bestien bedrängt. Aus den Augenwinkeln sah er die Klinge, die sich plötzlich durch die Brust des Anführers bohrte, der am anderen Ende der Tische saß. Das musste Neires Werk sein, dachte er sich. Doch er hatte keine Zeit weitere Gedanken zu fassen. Kaum spürte er den Schmerz der Axt, die ihn durch seine Rüstung in die Seite schnitt. Der Kampf wurde jetzt zu einem Getümmel, in dem er in alle Richtungen um sich schlug. Hier brachte er eine weitere der Kreaturen zu Fall. Immer wieder krachten die Äxte der Hyänenwesen gegen seine Rüstung. Er war in einem wilden Kampfrausch verfallen, der ihn den Gestank und die kleinen Verletzungen vergessen ließ. Um ihn herum lagen bereits die Leichname mehrerer Kreaturen, als plötzlich die Türe aufging und weitere Wesen in den Raum stürmten. Sie umringten ihn, schlugen mit ihren Äxten zu. Dann sah er den blutigen Stahl von Neires Degen den Rücken einer der Kreaturen durchdringen. Gemeinsam kämpften sie gegen die Übermacht und um ihr Leben.

Neire schlich sich weiter durch die Gänge der Adlerburg. Bargh und er hatten nach dem Kampf gegen die Hyänenwesen ihre Wunden verbunden und danach die Burghalle abgesucht. Neire selbst war unverletzt geblieben. In den Schatten seines elfischen Mantels hatten ihn die Wesen zumeist nicht sehen können. Doch Bargh, Rognar und auch Wulfgar hatten einige tiefe Schnitte der Äxte zu beklagen gehabt. Sie hatten bei den Kreaturen einige Goldstücke gefunden, die Bargh mit lobenden Worten des Heldenmutes an Rognar und Wulfgar übergeben hatte. Besonders Wulfgar schien an den Worten Gefallen gefunden zu haben. Danach hatte sie Neire zurückgelassen und hatte zunächst die Treppe nach unten erkundschaftet, die aus einem weiteren Erker dieser Halle hinabführte. Weiter unten hatte er einen Verteidigungsraum gefunden, in dem wohl die Flüssigkeit aus dem Kessel abgeleitet werden konnte sowie einen Ausgang auf die Verteidigungsanlagen. Danach war er zurückgekehrt und hatte sich der Türe gewidmet, aus der sie von den weiteren Kreaturen angegriffen wurden. Dort hatte er einen Wachraum, das geschlossene Eingangsgatter und einen unterirdischen Pferdestall gefunden, in dem sich noch drei abgemagerte Tiere befanden. Jetzt schlich er gerade die enge Wendeltreppe hinauf; der einzige noch verbleibende unerforschte Teil des Schlosses. Er hatte Bargh, Rognar und Wulfgar angewiesen ihm nach kurzer Zeit zu folgen. Von weiter oben hatte er zwar leise, aber klar die Geräusche von gutturalen Stimmen gehört. Schließlich kam er an eine Türe, die in die Wand der rechten Seite eingelassen war. Die Wendeltreppe führte weiter hinauf. Neire hielt kurz die Luft an und lauschte an der Türe. Klar konnte er die Atemgeräusche und ein Geifern von hinter der Türe hören. Einen kurzen Moment dachte er nach. Sein Herz pochte und er verspürte eine Furcht. Doch er wusste auch um seine neuen Fähigkeiten und die Schatten, die seine Göttin von ihm forderte. So stieß er langsam und möglichst leise die Türe auf. Für einen Moment hörte er Schritte und Rufe eines Angriffs. Doch dann war die höhere bellende, fast kreischende Stimme, die die Kreaturen anwies. Er drückte sich in die Schatten und wartete auf seine Mitstreiter.

Wulfgar hatte die Worte des Drachentöters nicht vergessen, als er die Treppe hochging. Er, ein Held von Berghof? Der Gedanke füllte ihn mit Stolz. Er spürte die Unsicherheit bei seinem alten Mentor Rognar, doch er ließ sich davon nicht abringen. Er musste sich jetzt als Held seines Volkes beweisen. Es ging nur Vorwärts, niemals mehr Rückwärts. Als er in den Raum blickte, dessen Türe geöffnet war, sah er die Hyänenkreaturen. Es war als ob sie auf sie warteten. Hinter den Kreaturen konnte er eine weibliche Gestalt sehen, die in einer Hand einen Stecken und in der anderen Hand eine brennende Pfeife trug. Er wusste, dass es jetzt um Leben und Tod ging und so stürzte er sich in den Kampf. Die Kreaturen kamen auf ihn zu und er fühlte die Wunden der Äxte. Neben ihm kämpften Rognar und Bargh. Das letzte was er sah war der Degen, der sich von hinten durch das Herz der Hexe bohrte.

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Sitzung 37 - Der Kampf um die Adlerburg II - Teil I
« Antwort #37 am: 21.10.2022 | 22:10 »
Bargh keuchte schwer. Er fühlte sich so an, als würde sein Brustkorb jeden Moment zerbersten. Zudem konnte er kaum atmen, da die Luft von dem beißenden Gestank des Pfeifenrauches der Hexe erfüllt war. Nur langsam hob er den Kopf und blickte sich um. Teils strömte noch pulsierend das Blut aus den Wunden der getöteten Hyänenwesen. Die Unordnung, die in dem ansonsten einladenden Speisegemach der Burg geherrscht hatte, wurde nach ihrem Kampf durch die Leichen verstärkt. Neire und er hatten die Wunden von Wulfgar bereits hastig verbunden, um ein Ausbluten des jungen Kriegers zu verhindern. Wulfgars Kopf lag in einer Lache von Blut, die auch seine langen blonden Haare durchnässt hatte. „Er wird nicht aufwachen, nicht in der nächsten Zeit.“ Die zischenden Worte Neires hörte Bargh hinter sich. Als er sich langsam umdrehte, sah er, dass der jugendliche Priester zu Rognar getreten war und auf ihn einredete. Neire hatte seinen Tarnmantel zurückgelegt und zeigte ein sorgsames Gesicht. Rognar schien jedoch kaum zu reagieren. Er hielt immer noch sein Schwert hoch und suchte nach weiteren Angreifern. In Anbetracht der Lage, stand er anscheinend unter einer Art Schock. Er sah, dass Neire mit den Schultern zuckte und sich ihm näherte. „Ich werde mich weiter umschauen Bargh, ich befürchte, dass uns noch weitere dieser Kreaturen angreifen werden. Bleibt ihr hier und werft einen Blick auf Rognar.“ Bargh nickte langsam und raffte sich mühevoll auf. Die kurze Anstrengung und die Wärme des Raumes, die von dem Kochfeuer im Kamin ausging, hatten ihm den Schweiß in die Augen getrieben. Auch spürte er die Panzerplatten seiner Rüstung gegen die Wunden drücken, wobei in letztere der Schweiß hineinlief. Schließlich näherte er sich Rognar, der jetzt in Richtung Kamin gegangen war. Der Gestank des Pfeifenrauches verzog sich langsam und der Geruch der köchelnden Suppe war zu vernehmen. „Rognar, reißt euch zusammen. Es werden nicht die letzten Kreaturen gewesen sein und das ist ein Befehl! So ist das im Krieg. Entweder sie oder wir. Menschen sterben…“ Bargh sah, dass der Söldner kurz aufzuckte. Dann glitt sein wirrer Blick wieder in die Schatten des Gemaches. Bargh packte Rognar und rammte ihn unsanft gegen die Wand. Er spürte den älteren Mann am ganzen Körper zittern. „Verdammt nochmal reißt euch zusammen und kümmert euch um euren Kameraden. Kümmert euch um Wulfgar.“ Erst als Bargh ihn bedrohlich schüttelte reagierte der verletzte Krieger. „Wulfgar, was… wo?“ Bargh ließ von ihm ab. Als Rognar seinen Kameraden sah, schritt er zu ihm und kniete sich auf den Hyänenleichen nieder. „Ach Wulfgar, ihr… ihr wolltet ja nicht hören. Das passiert nämlich, wenn man den Helden spielen will.“ Bargh lachte auf und er erinnerte sich an alte Gedanken und Lehren, die in seinem Gedächtnis auftauchten. „Hah, solches Geweine nenne ich Feigheit. Ihr könnt hier glorreich sterben und eure Namen werden auf ewig in Berghof einen gewissen Klang haben. Am Ende zählt nur der Tatenruhm.“ Bargh trat mit gezogenem Schwert hinter den Söldner. Rognar beachtete ihn allerdings nicht und schluchzte weiter. „Was bringt es mir hier tot zu liegen, was ist schon mein Name wert. Ich will leben…“ Angewidert von den Worten hob Bargh sein Schwert. Er hat der Göttin gefrevelt. Auch wenn es die falsche war. Er hat keine Ehre, keinen Drang nach Großem. Ein Opfer für Jiarlirae sollte er sein. Bargh hatte bereits sein Schwert zum köpfenden Schlag erhoben, da hörte er abermals die Stimme von Neire. „Bargh hierher; ich habe etwas entdeckt. Eine Kammer mit Leichen.“ Er ließ sein Schwert sinken und schritt um die Leichen der getöteten Kreaturen herum. Als er Neire erreichte, flüsterte der Jüngling in sein Ohr. „Bargh, einer von ihnen ist noch am Leben. Es ist ein heiliger Krieger, Diener von Torm. Sein Name ist Akran.“ Augenblicklich waren da die Erinnerungen an sein altes Leben. An einen seiner früheren Lehrmeister: Akran. Oh wie er ihn schon damals gehasst hatte. Ja, da war die Sache mit dem Übungskampf gewesen. Einem Mitschüler hatte er damals den Kiefer gebrochen und mehrere Zähne ausgeschlagen. Daraufhin hatten ihn die anderen Schüler versucht zurechtzuweisen. Doch er hatte auch sie angegriffen. Er gegen drei. Es hatte keine Toten gegeben, doch er hatte sie schwer verletzt. Akran hatte ihn danach gezüchtigt und mehrere Tage in das Hungerverlies gesteckt. Konnte es sein, Akran hier? Bargh stürzte an Neire vorbei auf die kleine Zelle zu, die sich in dem Gang auftat, der aus diesem Saal hinfort führte. Es kam ihm der Gestank von Fäkalien, Erbrochenem und Eiter entgegen. In der Zelle saßen, wie zusammengepfercht, mehrere nackte und schwer verletzte – wenn nicht gar bereits tote – Gestalten. Sie waren mit Ketten an die Wände gefesselt. Die Gestalt die noch atmete erkannte er sofort als Akran. Doch jetzt war sein alter Lehrmeister von kleinen eiternden Wunden übersäht, sein Gesicht zur Unkenntlichkeit angeschwollen. An der rechten Hand waren nur noch drei Finger und an der linken Hand nur noch ein Finger zu sehen. Die fehlenden Finger waren abgehackt oder ausgerissen worden. Zudem hatte er eine Nadel durch die Backe getrieben, von der ein langer Faden hinabhing. Bargh kochte innerlich. Auf diesen Moment hatte er eine lange Zeit gewartet. Doch er spürte auch eine Art weit entferntes Mitleid für seinen alten Lehrermeister. Er suchte eine einigermaßen trockene Stelle auf dem von Fäkalien bedeckten Boden und kniete sich nieder.

Neire hatte bereits das von Blut besudelte Stück Pergament gelesen, das mit dem Garn an das Fleisch von Akrans Gesicht genäht gewesen war. Er hatte dies vorsichtig und leise entfernt, so dass der heilige Krieger nichts davon mitbekommen hatte. Dann hatte er das Siegel aus Wachs studiert und die Runen entziffert. Es hatte sich wie ein Befehl gelesen:

„Hiermit entsende ich den ehrenwerten Krieger Akran, der angewiesen worden ist Rechtschaffenheit, Kampfeswillen und Ehre in die Adlerfeste zu tragen und diese vor Unholden zu schützen. Ihm wird auferlegt sich der Gerichtbarkeit der Besatzung der Burg zu unterwerfen, solange es der Auftrag erfordert. Ferner wird ihm zugetragen, mit dem Schwert der Reinheit über Fäulnis und Verderbtheit zu richten. Er möge die Macht und den Mut unseres hohen Herrn Torm in die alten Hallen zurückbringen. Es spricht, Luzius der Ungebrochene, Oberster Herr des Tempels der Ehre.

Neire war bereits angewidert gewesen, als er den Text gelesen hatte. Er hatte keinerlei Mitleid gespürt mit der geschundenen Gestalt, die, einem schwachen Gott dienend, sich selbst in dieses Schicksal manövriert hatte. Doch dann hatte er sich entschieden Bargh von dem heiligen Krieger zu berichten. Gemeinsam wollte er eine Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen treffen. Doch dazu war es nicht gekommen. Bargh war an ihm vorbeigestürzt und Neire war ihm gefolgt. Jetzt blickte Neire in die kleine Kammer voller nackter, verstümmelter Leichen. Bargh hatte sich mittlerweile über Akran gebeugt und begann zu sprechen. Neire bemerkte, dass sein Begleiter die Spitze seines Schwertes am unteren Rippenbogen von Akran platziert hatte. Neire verfiel in Gedanken als er dem Gespräch lauschte.

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Sitzung 37 - Der Kampf um die Adlerburg II - Teil II
« Antwort #38 am: 23.10.2022 | 11:02 »
Es war das erste Jahr nach meiner Flucht aus Nebelheim, als ich durch die seltsamen Lande der Oberwelt ritt. Die einst schwache Seele ward wiedergeboren. Er war mir wie ein Bruder geworden. Stark im Glanz Jiarliraes, glorreich im Ruhm seiner Taten. Doch er blickte zurück in die Schatten seiner Vergangenheit, die bis jetzt ein für ihn undurchdringbares Geheimnis bedeuteten. In ihm loderte ein Feuer, das er als Fackel des Hasses vor sich hertrug. Ich lauschte den Worten, die sie sprachen, als er den verlorenen Ritter traf:

Bargh: „Akran, wacht auf. Was zum Teufel hat euch in diese Lage gebracht?“
Akran: „Ahhhh… mein einstiger Schüler, kann es sein? Oder ist das eine weitere Illusion von euch Bastarden?“
Bargh: „Wagt es nicht meinen alten Namen zu sprechen. Ihr habt euren Pfad gewählt und er führt euch in Leid und Verderben. Ich bin jetzt Bargh, der Drachentöter und ich diene der größten unter allen Göttern. Jiarlirae ist mehr als Feuer und Schatten, mehr als die Summe aller Teile!“
Akran: „Haha, der kleine Säufer mit dem schwachen Geist. Ich wusste, dass ihr euch abwenden werdet. Dass ihr dem wahren Torm nicht würdig seid, war abzusehen. Ich hätte euch weiter züchtigen sollen.“
Bargh: „Einen Teufel hättet ihr sollen. Ich bin in die Hölle hinabgestiegen und ich bin wiedergeboren worden. Ich habe die wahre Macht gesehen, für die ich bestimmt bin, zu dienen… Doch eine Gelegenheit will ich euch geben Akran. Wendet euch ihr zu, Jiarlirae. Wendet euch ihr zu und erkennet ihre wahre Macht. Verpfändet eure Seele an Feuer und Schatten.“
Akran (lacht… versucht dann zu spucken): „Ein kleiner feiger Säufer wart ihr und der werdet ihr auch bleiben.“
Bargh (dreht Gesicht von Akran mit Panzerhandschuh zur Seite): „Dann sollt ihr ihn nicht mehr erleben, unseren glorreichen Ritt. Wir werden reiten und der Krieg wird toben – wir werden reiten und du wirst sterben. Wir werden reiten durch die verglimmende Asche dieser Welt.“ (Bargh stößt die Klinge unter dem Rippenbogen Richtung Herz. Ein Aufseufzen ist von Akran zu hören).


Wulfgar zitterte am ganzen Körper als er nach vorne stürmte. Seine tiefe Wunde an der Seite drohte wieder aufzubrechen. Sie hatten mehrere Tage in einem verlassenen Wachturm der Burg verbracht. Eine Zeit in der sie sich von den Vorräten ernährt hatten, die sie hier gefunden hatten. Bargh und Neire hatten sich immer wieder um seine Wunden gekümmert, hatten seine Verbände erneuert. An die ersten zwei Tage konnte sich Wulfgar kaum erinnern. Am ersten Tag hatte er wohl in einem Koma gelegen. Am zweiten Tag hatte er hauptsächlich geschlafen. Doch die Wunden hatten sich nicht entzündet und so waren sie wieder aufgebrochen, die oberen Gemächer der Burg zu erforschen. Zuerst schienen die Gemächer wie verlassen gewesen zu sein. Doch dann waren sie auf den Saal des einstigen Anführers der Burg gestoßen. Dort hatten sie eine menschengroße Gestalt an einem Schreibtisch gesehen, die schwärzliche Augen, Reißzähne und einen wulstigen Schädel hatte. Dunkles schütteres Haar fiel ihr bis über die Schultern. Die muskulöse Kreatur hatte einen Handschuh an einer ihrer Hände getragen, der von Metallplatten besetzt war. Doch anstatt sich dem Kampf zu stellen hatte die Kreatur einen schwarzen Edelstein zertrümmert und „Fahre zur Eins!“ gemurmelt. Dann hatte sie sich mit dem Juwelenstaub in Nichts aufgelöst. In diesem Moment hatten sie das gutturale Schreien und mächtige Schritte aus dem Raum gehört. Eine fast drei Schritt große Kreatur kam ihnen entgegen. Fettleibig und muskelbepackt. Unter einem übergeworfenen gelblichen Fell war dunkle Körperbehaarung zu sehen. Aus einem runden Schädel funkelten zwei schwarze Augen voller Hass – aus dem Hauer-besetzten Maul geiferte die Kreatur lange Fäden von Sabber. Als der Kampfschrei des Drachentöters den Raum durchdrang reagierte er mechanisch. Doch Bargh stürmte bereits auf die Gestalt zu, bevor er reagieren konnte. In diesem Moment sah er einen Degen von hinten durch den Wanst des Monsters dringen. Blut sprudelte auf. Fast im gleichen Moment trafen zwei Hiebe von Bargh die Kreatur. Der erste durchschnitt die Haut der Seite, doch der zweite traf eine Halsschlagader. Unter einem Aufsprudeln von Blut brach das, was Wulfgar aus alten Legenden als Oger kannte, zuckend zusammen.

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Sitzung 38 - Der Kampf um die Adlerburg III
« Antwort #39 am: 27.10.2022 | 21:54 »
Es war Ruhe eingekehrt in den oberen Gemächern der Burg. Neire, dem das Blut noch immer in den Ohren pulsierte, hielt zitternd seinen rot verschmierten Degen und blickte sich um. So gut es ging lauschte er nach weiteren Zeichen von Angreifern. Doch aus dem nobel eingerichteten Saal des einstigen Obersten der Adlerburg hörte er nur das Rauschen des stärker gewordenen Windes, der sich an den Schießscharten brach. Er stieg hinweg über den riesenhaften Leichnam des Unholdes und begann das Gemach zu betrachten. Wunderschöne gestickte Wandteppiche, die stilisierte Jagdszenen darstellten, bedeckten die Wände. Im schwachen Licht war ein verzierter Schreibtisch zu sehen, der sich in einer Ecke des Raumes befand. Neire bewegte sich auf das edle Möbelstück zu und begann dieses zu untersuchen. Als er keine Fallen finden konnte, öffnete er die unverschlossenen Schubladen. Neben einigen Schätzen fand er zwei leichte Schreibfedern und ein altes Buch, dem er augenblicklich seine Aufmerksamkeit widmete. Wie aus der Ferne vernahm er jetzt die Stimmen von Bargh, Wulfgar und Rognar, die sich über die Rüstungen berieten, die sie hier entdeckt hatten. Er vertiefte sich in das Pergament. So konnte er schon bald feststellen, dass es sich um eine Anleitung für ein magisches Gefängnissystem der Burg handelte. Die Zellen waren in imaginären Orten untergebracht, die wohl weder von dieser Welt waren, noch eine stetige Abbildung von Raum und Zeit besaßen. Eine lebende Seele konnte mithilfe eines speziellen schwarzen Kristalls in eine Zelle gebannt werden, indem zum Beispiel die Worte fahre zu Eins gerufen wurden. Neire wurde sofort klar, dass sich die Kreatur anscheinend in eine dieser Zellen gebannt hatte, um ihnen zu entgehen. Doch auch die Hervorrufung von einst gefangen gesetzten Seelen war vorgesehen. So sollte es weiße Kristalle geben, die in der Mitte einer doppelten Spirale platziert, einen Gefangenen befreien konnten. Diese Spirale sollte sich in einem bemalten Raum befinden. Zur Befreiung musste zum Beispiel komme hervor aus der Eins gerufen werden, um den Mechanismus in Gang zu setzen. Neire stöberte im Buch und las noch einige weitere Seiten, die lange Listen von Inhaftierten und Freigelassenen beinhalteten. Dann entschied er sich dazu seine Kameraden von dem Fund zu unterrichten und auf die Suche nach dem bemalten Raum zu gehen.

Fackellicht durchdrang den achteckigen Raum. Der Geruch von brennendem Teer hatte sich bereits ausgebreitet. Neire näherte sich vorsichtig der Säule, auf die sein Kamerad gezeigt hatte. Bargh hatte diese mit seinem schweren Panzerhandschuh abgeklopft und dabei war der alte Putz nach innen weggebrochen. Dann hatte er Neire den Vortritt gelassen. Eine vorsichtige Suche nach Fallen offenbarte keine Gefahr. Er begann das bröckelige Gestein weiter zu entfernen. Dahinter war ein kleiner Hohlraum zu sehen, in dem eine von goldenen Verzierungen bedeckte Holzschatulle ruhte. Vorsichtig griff Neire hinein und zog das seltsam leichte Objekt hervor. Er öffnete das Kästchen, doch er sah keinen Boden. Es war, als ob das Licht der Fackel dort verschluckt werden würde. Langsam griff er durch die Öffnung hindurch und tatsächlich verschwand sein Arm fast bis zur Schulter im Inneren. Er hatte von solchen Zaubern schon einmal gehört. Dimensionsmagie, die den Ort verzerrte – kleine Türen ins Jenseits an Gegenstände band. Tief im Inneren des Objektes ertastete er einen kleinen Beutel, dessen genauere Untersuchung vier milchig schimmernde Kristalle hervorbrachte. Das musste also der Ort mit dem geheimen Vorrat der Wiederhervorrufungssteine sein. Also könnte auch vielleicht der Raum mit der Spirale nicht weit sein. Er betrachte die Wände, die mit einer Art Rundumblick des Herrenhauses der Familie Arthog bedeckt waren. Sie zeigten den Familiensitz der einstigen Herrscher von Berghof in der Vergangenheit. Der Zahn der Zeit hatte noch nicht an den Gemäuern genagt. „Ich habe die Kristalle. Es muss hier irgendwo sein. Lasst uns weitersuchen.“ Sprach Neire und deutete auf die Wände des Raumes. Jetzt bewegten sie sich alle an die verbliebenen Bilder und begannen sie abzutasten. Es herrschte eine bedrückende Stille. Diesmal war es Neire, der fündig wurde. Einer der Rahmen ließ sich bewegen, als würde er von Scharnieren gehalten. Vorsichtig zog Neire das geheime Portal auf. Dort hinter konnte er einen kreisrunden Raum erspähen. Im Fackellicht glitzert ein Muster auf dem Boden. Zwei in sich verschachtelte Spiralen mit jeweils vier Armen sowie schwarzer und weißer Färbung. In der Mitte war eine kleine Mulde zu sehen. Er betrat mit Bargh den Raum und blickte sich nach Rognar und Wulfgar um. „Wir werden diese Kreatur aus der Zelle befreien. Bewacht ihr den Eingang. Keiner soll entkommen.“ Er sah, wie die beiden ihre Schwerter zogen. Auch Bargh machte sich angriffsbereit. Neire zog zitternd vor Aufregung einen der weißlichen Kristalle hervor und legte ihn in die Mitte. Dann begann er zischelnd die Worte zu murmeln: „Komme hervor aus der Eins.“ Nachdem er das letzte Wort gemurmelt hatte, ließ er sich unter seinem Tarnmantel in die Schatten sinken. Zuerst passierte nichts, doch dann begann der Stein zu schmelzen wie ein Stück Butter in einer Pfanne. Weißer Nebel stieg auf. Dann wurden Konturen sichtbar. Vor ihnen erschien, ohne Zweifel, die Gestalt aus dem Gemach des Obersten der Burg. Sie hatte beide Hände zu Fäusten geballt. Vom schwarzen Handschuh fehlte jede Spur. Ihre schwärzlichen Augen waren zusammengekniffen und glänzten, wie von einer Tollwut erfasst, hasserfüllt. Ihr grobschlächtiges Gesicht schaute sich ruckartig um. Bargh reagierte und stach mit seinem Schwert zu. Blut strömte auf und die Gestalt begann zu schreien. Dann rammte ihr Neire den Degen von hinten in den Rücken. Er hatte Glück und durchbohrte das Herz des Wesens. Blutspuckend brach der einstige Handschuhträger vor ihnen zusammen. Nach einer kurzen Beratung entschieden sie sich weitere Kreaturen aus den Zellen hervorzurufen. Neire legte einen der verbliebenen Kristalle in die Mulde und begann erneut zu murmeln: „Komme hervor aus der Vier.“ Wieder begann der Edelstein zu schmelzen. Aus dem Nebel stieg jedoch diesmal eine größere Kreatur hervor. Sie besaß zwei Köpfe, Krallen und eine bräunliche Hautfarbe. Das Monster war in einen Pelz gekleidet, den es wie eine Schürze trug. Tatsächlich konnte Neire sehen, dass sich die Gestalt den Handschuh übergestreift hatte. Das Wesen fing an zu brüllen als Bargh sein Schwert nach vorne schnellen ließ. Zwei mächtige, doch gezielte Hiebe schnitten tiefe Wunden; brachten dunkles Blut hervor. Dann stach Neire in den Rücken des Wesens. Auch diesmal hatte er Glück und sein Degen drang tief hinein. Unter einem weiteren Stich ging die Kreatur zu Boden, doch sie konnten sehen, dass das Monster noch atmete. Neire beugte sich hinab und durchbohrte abermals den Brustkorb mit einem Stich. Erst jetzt sah er, dass sich einige Wunden bereits wie von Geisterhand geschlossen hatten. „Rognar, reicht mir die Fackel zischelte er.“ Nur langsam und von Furcht fast gänzlich übermannt, näherte sich der ältere Söldner. Neire nahm die Fackel und begann den Pelz des Wesens zu entzünden. Es setzte ein Zucken ein, als die Flammen die Haut berührten. Bereits geschlossene Wunden brachen wieder auf und weiteres Blut strömte hinaus. Der geheime unterirdische Raum wurde von einem penetranten Gestank von verbranntem Fleisch erfüllt. Jetzt hörte Neire plötzlich eine Stimme in seinem Kopf, wie ein wehleidiges Klagen. Doch er konnte kein Geschlecht, kein Alter ausmachen. Hört mich an. Helft mir und nehmt mich auf. Ihr könnt mein Träger sein und ich kann euch Macht geben, große Macht. Alles wonach euch gelüstet kann euer sein. Neire blickte sich überrascht um, doch die Stimme schien aus Richtung des schwarzen Handschuhs zu kommen. Er brauchte einige Zeit um sich an die alten Geschichten und Legenden zu erinnern. Der schwarze Handschuh war ursprünglich als Waffe in den Küstenlanden erschaffen worden – erschaffen, um die Adlerburg zu vernichten. Doch für diese Aufgabe benötigte er einen mächtigen Träger. Auch würde er versuchen seinen Träger zu einer willenlosen Marionette zu machen. Diese Marionette sollte den Erschaffern des Handschuhs dann dienen. Neire dachte einen weiteren Moment nach, dann fing er an zu sprechen. „Wem dient ihr, Stimme? Wer ist euer Herr?“ Ich diene meinem Träger und nur meinem Träger. Meine Erschaffer, die mächtigen Magier der Küstenlande, sind längst tot. Neire war nicht zufrieden mit dieser Antwort. Für einen kurzen Moment hatte er darüber nachgedacht den Handschuh aufzunehmen. Doch jetzt waren seine Gedanken bei seiner Göttin und seinem alten, geliebten Nebelheim. „Ich diene meiner Göttin, der Schwertherrscherin. Sie gibt mir die Macht, die ich brauche. Sie hält die Schlüssel zum Jenseits.“ Neire ging zu Bargh und flüsterte ihm zu, ihm den weißen Handschuh aus dem Rucksack zu geben. Als Bargh diesen hervorholte, kam Neire Fäulnisgeruch entgegen. Noch immer steckte der abgehackte Arm des Skulks im weißen unbefleckten Leder. Auch von diesem Handschuh spürte Neire Regungen ausgehen. Doch es waren keine Worte die er vernahm. Vielmehr das Gefühl von Eile, vergleichbar mit einer Art Atemnot. Als ob eine große Katastrophe lauerte und weiteres Warten in den Zustand der Lähmung und damit in den sicheren Tod führen würde. So nahm er den weißen Handschuh am verfaulten Arm und schritt auf die noch schwelende Kreatur zu. „Ihr dient nicht Ihr. Ihr werdet Ihr nicht dienen. Jiarlirae ist Feuer und Schatten und sie ist mehr als das.“ Neire hörte jetzt eine flehende Stimme vom schwarzen Handschuh ausgehen. Doch… ich kann. Ich kann ihr dienen. Jiarlirae. Ich kann ihr dienen. Doch die Worte kamen zu spät. Neire hatte bereits den weißen Handschuh in den schwarzen geführt. Als ob sich beide die Hände gäben. Augenblicklich fuhr ein Lichtblitz durch den Raum. Die Zeit schien stillzustehen. Der Raum wurde in Nebel gehüllt. Und dann war da die Adlerburg, wie aus der Ferne betrachtet – ein Trugbild, eine Illusion? Zwei riesenhafte Nebelgestalten entwuchsen den milchigen Schwaden um die Burg. Eine weiß, die andere schwarz. Sie hoben ihre Fäuste und begannen zu kämpfen. Doch es konnte keinen Sieger geben und beide gingen in einem gleißenden Licht auf. Als Neire wieder die Augen öffnete, sah er, dass beide Handschuhe langsam zu Asche zerfielen. Nur die vier Juwelen aus dem Handballen des schwarzen Handschuhs blieben übrig. Er drehte schweigend zu Bargh um, der die Illusion anscheinend nicht gesehen hatte und nickte ihm zu. War das Geheimnis um die magischen Erschaffer aus den Küstenlanden gelüftet?

Es war etwas wärmer geworden und die Sonne brach hier und dort durch die Wolken. Bargh war mit Neire in Richtung der Küstenlande geritten. Sie hatten Rognar und Wulfgar in der Burg verabschiedet und er hatte sie aus seinem Kommando entlassen. Beide wollten in das Herzogtum Berghof zurückkehren. Sie würden dort wohl als große Helden gefeiert werden und die Legende von Bargh, dem Drachentöter verbreiten. Er hatte sich im Spiralraum über die Großzügigkeit von Neire gewundert, hatte doch sein junger Begleiter den beiden Söldnern einen der verbliebenen Edelsteine überlassen. Erst nachher hatte Neire ihm die Wahrheit erzählt. Er hatte bei diesem Edelstein einen unsichtbaren Fluch entdeckt. Sein Träger sollte den Stein nicht mehr loswerden können und im Kampf würden sich alle Gegner dem Träger zuwenden. Neire hatte Rognar und Wulfgar die Wahl gelassen und Rognar hatte gierig zugegriffen. Abschließend hatte der Söldner von dem Wert gesprochen und was er sich davon alles kaufen würde. Jetzt musste auch Bargh über diese Wendung lachen. Sie hatten sich danach mit weiterer Verpflegung der Burg ausgerüstet und waren dem Adlerweg in für sie unerforschte Gebiete gefolgt. Neire waren auf dem Weg weitere Details über den Tempel der Ehre eingefallen. Der Tempel solle sich nicht auf dem Festland, sondern auf einer Insel im Meer befinden. Zudem waren die im Tempel ausgebildeten Priester und Soldaten wohl eine Ordnungsmacht, die in den Küstenlanden ihre Verbreitung gefunden hatte. Bargh hatte darüber eine Zeit gegrübelt. Allerdings hatte es Jiarlirae gut gemeint mit ihm. Nach ihrem Sieg auf der Adlerburg hatte ihm Neire einen der grünlichen Juwelen gegeben, den er jetzt bei sich trug. Schon nach kurzer Weil hatten sich seine Wunden geschlossen und er fühlte sich stärker als je zuvor. Nach einer weiteren Nacht am Fluss hatten sie das Gebirge langsam verlassen. Irgendwann hatten sie in der Ferne ein Dorf gesehen, dem sie sich jetzt näherten. Ein rudimentärer Erdwall und eine Palisadenmauer aus angespitzten Holzstämmen stellten die Wehranlage des Dorfes dar. Vor dem geschlossenen Eingangstor waren drei Krieger zu sehen, die eine starre Haltung angenommen hatten. Alle drei trugen einen leuchtend gelben Waffenschurz. Als sie sich bis auf etwa zwanzig Schritte genähert hatten, hob der mittlere Mann seine Hand. „Halt im Namen des Magistraten von Dreistadt, halt! Es gibt keinen Zutritt zu diesem Dorf, keinen Zutritt nach Mühlbach!“ Einen kurzen Moment frage sich Bargh, was hier wohl passiert war, dann bemerkte er den feinen dunklen Rauch, der hinter dem Wall aufstieg. Sie beteuerten, kein Interesse am Zutritt zu haben und weiterreisen zu wollen. Damit senkte sich die Anspannung der Soldaten deutlich. Bargh und Neire konnten in Erfahrung bringen, dass die Männer Diener des Tempels der Ehre waren – Diener des Gottes Torm. In dem Dorf hatte die Pest gewütet und alle verbliebenen Bürger dahingerafft. Aus diesem Grund war jeder lebenden Seele der Zutritt zum Dorf verwehrt. Bargh hob zum Abschied die Hand, doch innerlich dachte er an seinen alten schwachen Lehrmeister, an den Tod von Akran. Er malte sich aus, wie diese Männer durch seine Hand sterben würden.

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Sitzung 39 - Auf zu neuen Ufern
« Antwort #40 am: 3.11.2022 | 14:17 »
Neire und Bargh hatten ihre Pferde um den Palisadenwall gelenkt, um das Dorf Mühlbach zu umgehen. Die Wachen hatten ihnen noch einen Moment nachgeblickt, sich aber dann wieder ihrer Aufgabe gewidmet. Noch immer war der leichte Verwesungsgeruch zu vernehmen, der zusammen mit dem dünnen Rauch von dem Dorf ausging Die Sonne stand schon hoch und es musste später Vormittag sein. Die Strahlen hatten jedoch langsam an Kraft verloren, als ob sich der Herbst langsam anbahnen würde. Umgeben war Mühlbach von einer kargen Landschaft, die zu einem Teil aus kleinen verkrüppelten Kiefern und zum anderen Teil aus kargem Sand sowie einem Bruchland bestand. Mittlerweile waren im Palisadenwall einige handgroße Spalte zu sehen, die einen Blick in das Innere von Mühlbach erlaubten. Als sie die Wachen aus den Augen verloren hatten, drehte sich Neire zu Bargh um. „Wartet einen Moment, Bargh. Ich werde einen Blick durch die Stämme wagen.“ Sprach Neire und sattelte elegant von seinem Pferd ab. Er sah seinen Begleiter wortlos nicken und näherte sich dem Wall. Sein Blick offenbarte ihm ein kleines Dorf, das aus schilfbedeckten Holzhütten bestand. Nur ein prominentes Gebäude stand in der Nähe des Flusses und war als Mühle mit einem Anbau zu erkennen. Neire konnte auch feststellen woher der Verwesungsgeruch kam. Hier und dort sah er Leichen zwischen den Häusern liegen. Die Leiber hatten aufgedunsene Oberkörper und waren teils grausam von Beulen und Eiter gezeichnet. Zwischen den Häusern konnte er zudem leichten Rauch von niedergebrannten Feuern aufsteigen sehen. Sonst bemerkte er keine Bewegung. Augenblicklich fing sein Herz an zu pochen als sich in seinem Kopf der Gedanke formte. Was sollte er sich auch diesen oberweltlichen Regeln unterwerfen... „Bargh, ich werde mich einmal umschauen. Falls ich nach einer kleinen Weile nicht zurück bin, lasst die Pferde zurück und folgt mir“, raunte er jetzt in den leichten Wind und zog sich den Tarnmantel über. Geschickt kletterte Neire über den Zaun und ließ sich auf der anderen Seite hinabsinken. Er versuchte sich, soweit es ging, in den Schatten der Gebäude zu bewegen. Schon bald kam er an dem ersten Leichnam an, konnte jedoch neben den Zeichen der Krankheit keine Besonderheiten feststellen. Vielmehr betrachtete er immer wieder die Einfachheit der Hütten und fragte sich, ob alle Orte der Oberwelt in dieser primitiven Weise errichtet worden waren. Als Neire so für einen Moment verweilte, hörte er ein Geräusch in dem Rauschen des Baches, das sehr leise, aber markant war. Wie ein Reißen von Fleisch und ein schmatzendes Schlingen. Er entschied sich diesem weiter nachzugehen und schlich auf die Mühle zu, von wo er glaubte das Geräusch zu hören. Am Anbau angekommen, bemerkte er eine geschlossene Türe, aber geöffnete Fenster. Das Schmatzen war jetzt deutlich aus dem Inneren zu hören und der Gestank von Verwesung war hier penetranter. Neire zog sich lautlos durch das Fenster in den verlassenen Wohnraum. Er hörte das Geräusch von einer Treppe, die in den Keller hinabführte. Vorwärts schlich er und je weiter er vorankam, desto penetranter wurde der Leichengestank. Die Kellertreppe, die dort hinabführte, war aus einfachem Lehm. Das Schmatzen kam von unten. Er tastete sich vorsichtig voran und versuchte den Würgereiz zu unterdrücken. Schließlich konnte er die Dunkelheit durchblicken. Als er um den Treppenabsatz herumschaute, sah er einen einfachen, in den Lehm geschlagenen, Kellerraum. Das Kopfende des Raumes war mit einem Berg von Leichen bedeckt. Eiter und Wundsekret rann von den menschlichen Körpern hinab und hatte bereits eine kleine Pfütze gebildet. Der Gestank war nicht zu ertragen. Doch in dem Raum sah er Bewegungen. Drei entstellte Leichname krochen auf dem Haufen herum und schlugen lange Hauer in das tote Fleisch. Die Kreaturen erinnerten nur noch im Entferntesten an Menschen. Sie trugen Reste von Kleidung, waren von Beulen und aufgedunsenen Körpern gezeichnet und hier und dort kam der blanke Knochen hervor. Es schien sich um eine Familie des Grauens zu handeln. Neben einem Mann, waren eine wohl noch schwangere Frau und ein Säugling zu sehen, wobei letzterer noch seine Nabelschnur hinter sich herzog. Die Untoten glitten hinweg über die Toten in einer vergänglichen Anmut, während sie das schwache Fleisch zerrissen. Der Gestank und die Szenerie erzeugten in Neire eine Art Lähmung, die zum einen in dem Terror des Anblicks und zum anderen in der morbiden Faszination des Todes beruhte. Er beneidete die Kreaturen nicht, die die Hingabe zu Jiarlirae nicht kannten. Kreaturen, die den Dualismus von Feuer und Schatten nicht zu ergründen versuchten. Als er einen Schritt in den Raum machte, spürte er, dass er sich übergeben musste. Er nahm alle Kraft zusammen und versuchte das Erbrochene hinunterzuwürgen – keinen Laut zu erzeugen. Er zitterte am ganzen Körper. Tatsächlich gelang es ihm langsam Kontrolle zu gewinnen und Abstand von dem Schauspiel zu nehmen. Der Geist der Sehnenden Jiarliraes stand über allem. Der Wille triumphierte, auch über dem Tanz der Toten.

Bargh hatte einige Zeit lang auf Neire gewartet. Er hatte gegrübelt über seinen alten Lehrmeister. Er hatte sich gefragt, ober er ihn nicht auch eher hätte töten können. Doch damals war er ein geistiger Sklave gewesen. Ein Sklave des Gottes, dem die Diener des Tempels der Ehre sich hier ergaben. Niemals… nein, niemals hätte er eine andere Entscheidung getroffen, als seinen ehemaligen Meister in der Adlerfeste zu ermorden. Er hatte es genossen, jeden einzelnen Moment. Einzig die Beleidigungen nagten noch immer an seinem Selbstbewusstsein. Als er das Zischen hörte, drehte er sich ruckhaft um, doch instinktiv wusste er, dass es sich um die Stimme Neires handelte. „Bargh, es gibt dort Kreaturen – nicht lebendig und auch nicht tot. Im Gebäude der alten Mühle. Sie hätten mich fast erkannt und dann…“ Bargh sah, dass Neire am ganzen Körper zitterte und sich geschickt auf sein Pferd zog. Neire lenkte sein Pferd hinfort, weiter an dem Wall entlang und blickte sich nach ihm um. „Neire, was dann…? Was wäre gewesen?“ „Vielleicht… vielleicht wäre ich jetzt einer der ihren, ein alter Fluch… doch ich glaube nicht, dass der Geist der Anhänger Jiarliraes derart unterlegen ist… Bargh… lasst uns beten zu unserer Göttin… und lasst uns dabei Wein trinken!“ Bargh sah, dass Neire bereits einen Schlauch aus der Satteltasche seines Pferdes hervorgezogen hatte und einen tiefen Schluck nahm. Sein junger Begleiter, dem die Angst noch immer anzusehen war, reichte ihm lächelnd den Schlauch und er nahm ihn gerne an. Mehre tiefe Züge des kostbaren Getränks aus der verlassenen Feste schlang er in sich hinein. Währenddessen ritten sie weiter an dem Wall von Mühlbach entlang. Als sie auf der gegenüberliegenden Seite des zuvor passierten Eingangs in das Dorf ankamen, sahen sie zwei Krieger, die hier Wache standen. Es war ein ungleiches Paar: Der Anführer älter und in einen gelben Schurz mit Kettenhemd gekleidet. Der zweite Wächter war jünger, vielleicht gerade volljährig und trug eine Lederrüstung. Als sie sich näherten, hob der ältere Krieger die Hand und rief ihnen bestimmende Worte zu: „Haltet ein! Das Dorf ist für einen…“ „Ja, wir wissen es schon. Mühlbach ist gesperrt für Reisende. Wir haben bereits mit Weismar am anderen Eingang gesprochen. Ihr könnt euch eure Worte sparen.“ Bargh spürte den aggressiven Unterton in Neires zischelnder Stimme, als sein Begleiter den älteren Wächter unterbrach. „Wem dient ihr hier, der euch das befiehlt? Wem dient ihr Menschen?“ Bargh bemerkte, dass beide Wachen irritiert waren vom Singsang und von der zischelnden Stimme Neires. Doch nach einem kurzen Moment der Stille erhob der Ältere das Wort. „Wir dienen Clavius, dem Herrscher von Dreistadt. Lang möge er leben.“ Sie waren mittlerweile bis auf einige Schritte an die beiden herangeritten und Bargh bemerkte die Spannung. „Ihr Menschen seid Sklaven, ihr dient, doch ihr dient einem falschen Herrn. Nennt mir seinen Namen!“ Bargh fühlte, dass Neire jetzt, angetrieben durch den Alkohol und die fanatische Zuneigung zu Jiarlirae, den Angriff suchte. Er sah, dass der jüngere der beiden Anstalten machte sein Schwert zu ziehen um anzugreifen, doch von dem älteren Krieger zurechtgewiesen wurde. Diesmal sprach der ältere Krieger wieder. „Wir sind Krieger des Tempels der Ehre. Wir dienen dem Magistraten von Dreistadt, doch unser oberster Herr ist Torm. Er ist unser Herr der Ehre, des Gesetzes und der Rechtschaffenheit. Nichts für Vagabunden wie ihr es seid…!“ Bargh spürte wie Neire begann wie von einer Mordlust zu kochen. Aber auch er wollte die armseligen Kreaturen vor ihnen zerquetschen, sein Schwert durch ihre schlaffen Leiber stoßen. Bevor er antworten konnte, erhob Neire wieder das Wort. „Nicht Torm sondern Clavius ist euer wahrer Herr, menschliche Sklaven. Torm ist nicht mehr als ein Bastard… Wein ist nichts für euch! Wein ist ein Getränk der Götter, nichts für schwache Geister wie Torm und erst recht nichts für seine Sklaven!“ Bargh sah wie Neire vor den beiden vorbeiritt und den edlen Wein aus dem Weinschlauch in den Dreck ergoss. Bargh war zum Kampf bereit. Er scheute weder das Gemetzel, noch den Tod. Doch er spürte tief in ihm, dass Neire nur aufstachelte. Sein junger Begleiter wollte die Krieger von Torm zu einem Angriff provozieren. Fast gelang ihm diese Provokation, doch der jüngere Krieger wurde erneut zurecht gewiesen von seinem Meister, alsbald er seine Waffe erhob. Bargh spürte den abgrundtiefen Hass stärker werden. Er zog sein Schwert und hob es bedrohlich über seinen Kopf. Doch die beiden Krieger bewegten sich kein Stück weit auf sie zu. Sie bewahrten beide ihre Haltung - Schwerter in den Händen und zum Kampf bereit. So zogen er und Bargh weiter. Weiter Richtung Dreistadt. Sie durchritten die karge Landschaft der Küstenlande und blickten sich nicht mehr um.

„Könnt ihr ein Geheimnis bewahren? Könnt ihr?“ Neires bereits angetrunkene Stimme lispelte stärker und sein angeschwollener Singsang machte die Worte, die er in der gemeinen Sprache murmelte, fast unverständlich. Finnger, ein Bürger von Dreistadt mit dem Neire jetzt sprach, nickte eifrig und rückte mit seinem Ohr näher an Neires Gesicht. Sie füllten gerade die Humpen für die kleine Gesellschaft von Bürgern auf, die sich zu ihnen an den Tisch gesellt hatte. Ariold, der Wirt des Gasthauses hatte sie zuerst unfreundlich und dann immer langsamer bedient. Zuletzt hatte er sich taub gestellt, bis ihn sein Begleiter Bargh dann mit den Worten „Was ist mit euch passiert? Seid ihr als Kind auf den Kopf gefallen oder nur gegen eine Steinwand gerannt?“ zurechtgestutzt hatte. Danach hatte ihnen Ariold zwar Essen gebracht, hatte sich dann jedoch zurückgezogen. Jetzt füllten sie gerade die Humpen und das plätschernde Geräusch des Bieres ließ Neire zurückdenken an den weiteren Teil ihrer heutigen Reise am Fluss Richtung Dreistadt. Sie waren eine Zeitlang durch die karge Landschaft geritten, die von Sträuchern, Sand und Marschland gekennzeichnet war. Von einer Moräne aus hatten sie schließlich die Küste gesehen, an der die Stadt lag. Dreistadt war von imposanten Wehranlagen geschützt und nur die drei Türme ragten aus dem Inneren der Stadt über die Mauern hinweg. Die Portale waren geöffnet gewesen und so waren Neire und Bargh in die Stadt geritten. Im Inneren hatten sie größtenteils arme und verwahrloste Bürger gesehen. Viele Häuser waren verrammelt gewesen oder hatten einen verlassenen Eindruck gemacht. Dreck und Unrat lag auf den Straßen herum. Zuerst hatten sie eine Frau nach den Örtlichkeiten gefragt. Dann waren sie zum kleinen Markt gelangt, auf dem eine größere Ansammlung von Menschen zu sehen gewesen war. Hier waren sie von einem Obdachlosen auf ein paar Groschen angesprochen worden. Er hatte ihnen nur in einer Seitengasse und in paranoidem Gehabe von dem Joch des Tempels der Ehre erzählt. Dass die Priester und Krieger sich ihren Schutz teuer bezahlen ließen. Dass sie in der Stadt nicht besonders beliebt waren. Der stark nach Alkohol und schweiß riechende Mann mit dem nackten Oberkörper, der sich ihnen als Dagwin vorgestellt hatte, hatte ihnen schließlich den Weg in das Gasthaus gewiesen und ihnen von dem Wirt Ariold erzählt. Er hatte ihnen auch berichtet, dass Ariold wohl eine große Menge an Schutzgeld an den Tempel der Ehre bezahle und nicht besonders gut auf dessen Gefolgsleute zu sprechen war. So waren sie schließlich im Gasthaus eingekehrt. Sie hatten gegessen und Bier getrunken, bis sie schließlich mit der lokalen Gesellschaft ins Gespräch gekommen waren. Das Gespräch hatte sich um dies und das gedreht, bis Neire einen möglichen Krieg gegen das Herzogtum Berghof angesprochen hatte. Damit war eine rege, trunkene Diskussion angefacht worden. Neire hatte bereits eine Runde an Bier ausgegeben und holte jetzt mit Finnger die nächste. Er begann nun wieder zu flüstern und musste für einen Moment sein Schwanken kontrollieren. „Vergesst Heria Maki. Sie ist nur eine schwache Göttin des Feuers. Ich diene Jiarlirae, der Göttin von Feuer und Schatten. Sie ist der Schlüssel zu Geheimnissen und Macht. Sie hält die Schlüssel zum Jenseits.“ Neire blickte in das trunkene Gesicht seines Gegenübers, der, soweit es ihm möglich war neugierig schaute. „Wir suchen nach den Geheimnissen der Magier der Küstenlande“. Finnger lachte. „Die alten Sagen, die Magier… Sie sind längst zu Staub zerfallen.“ Neire grinste. „Dann lasst uns auf diesen Staub trinken!“


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Das einfache Gemach war völlig abgedunkelt. Es musste später Nachmittag sein, denn Neire hatte bereits die ersten Geräusche aus dem weiter unten liegenden Schankraum gehört. Kaum nahm er Notiz von Bargh, der auf einem der einfachen Holzbetten saß, seine Augenbinde abgenommen hatte und ihn betrachtete. Es war jetzt schon einige Zeit her, dass sie aufgestanden waren. Doch er spürte noch immer den Alkohol des gestrigen Abends in seinem Atem. Sie hatten noch länger in der Schenke verbracht. Die beiden Freunde von Finnger hatten schließlich den mit Tischen zugestellten Schankraum mit schwerer Schlagseite verlassen. Finnger war noch länger geblieben, aber schon bald in einen Zustand geraten, in dem er mit halb geöffneten Augen seltsame Dinge gebrabbelt hatte und sich kaum noch am Tisch halten konnte. Auch Neire erinnerte sich an den Rest des Abends nur noch verschwommen. Sie hatten versucht den Wirt Ariold auf die Schutzgelderpressung des Tempels der Ehre anzusprechen. Doch der Wirt hatte stoisch seine neutrale Position eingehalten. Auch auf Finngers betrunkene Rufe - Ariold, diese Bastarde beklauen euch. Ist es nicht so? Ist es nicht so, Ariold? - hatte die in entferntester Weise an einen Aasvogel erinnernde Gestalt des Wirtes nicht geantwortet. Sie waren dann irgendwann in Richtung ihres Gemaches getorkelt, das sie über eine Außentreppe erreichen konnten. Neire hatte die erste Nachtwache übernommen. Am nächsten Morgen hatten sie einige Besorgungen in Dreistadt gemacht und waren schließlich in ihr Gemach zurückgekehrt. Jetzt blickte Neire auf seine zitternden Hände, mit denen er den violett schimmernden Pilz in der kleinen Pfanne umrührte. Ein bitterer, leicht beißender Gestank hatte bereits den gesamten Raum erfüllt. Die Flamme des Lampenöls brannte heiß unter dem Topf. Immer wieder musste er ein plötzliches Aufkochen verhindern. Er durfte sich hier keine Fehler erlauben. In alten Schriften hatte er schon über die violette Version des bunten Vierlings gelesen. Als älteste Variante des Vierlings war dieser für sein starkes Gift berüchtigt. Schon die bloße Berührung der unzubereiteten Pilze konnte tödlich sein. Einigen Sammlern war dieses Schicksal bereits zuteilgeworden. Neire ließ den Sud immer wieder aufkochen, der schon dickflüssiger geworden war. Nur noch wenige Augenblickte, dann war die richtige Konsistenz erreicht. Er dachte zurück an seine Zeit in Nebelheim. Wie er in den alten Wälzern der Bibliothek des inneren Auges gestöbert hatte. Farne, Kräuter und Pilze hatten ihn schon immer interessiert. Doch er hatte nur in Büchern über sie gelesen; hatte sie nie zu Gesicht bekommen. Jetzt kochte der Sud wieder auf. Er hob rasch den Topf von der Flamme und rührte um. Das musste die richtige Zähflüssigkeit sein. Behutsam hob er eine seine vorbereiteten Violen auf und begann den schwarzen Extrakt abzufüllen. Wie flüssiger Teer zog die Substanz lange Fäden. Die Arbeit musste behutsam erfolgen. Kein Tropfen durfte daneben gehen. Diese und noch eine weitere Viole konnte er füllen. Er nickte lächelnd über sein vollbrachtes Werk und dachte bereits an seinen Degen, den er damit bestreichen würde. Vielleicht bis zu zwanzig Menschen würde er mit dem gewonnenen Extrakt töten können.

Bargh nickte Neire zu, der jetzt wieder den Raum betrat. Die Hände Neires zitterten nicht mehr so stark und ein Teil der Anspannung war abgefallen. Bargh sah, dass er die gesäuberten Töpfe des Sturmkochers trug, den sie zuvor beim Schmied von Dreistadt gekauft hatten. Er hatte dann Neire ruhig und interessiert bei seiner Arbeit zugeschaut. Doch innerlich war er aufgewühlt gewesen. Fast als ob Neire Gedanken lesen konnte, kam er auf ihn zu und legte ihm seine Hand auf die Schulter. Immer wieder hatte er sich gefragt, wieso Neire nicht an seine Maske dachte. Hatte er es ihm nicht versprochen? Er blickte in das schlanke, von gold-blonden Locken umrahmte Gesicht seines Mitstreiters und konnte blaue Augen auffunkeln sehen. Neire stelle die Töpfe ineinander und begann feierlich zu sprechen. „Bargh, es ist die Zeit gekommen uns eurer Maske zuzuwenden. Lasst uns damit anfangen.“ Bargh jubelte innerlich auf. Es wich seine verkaterte Depression im Antlitz des neuen Erstrebens. Er sah, dass Neire bereits die skalpierte Haut des riesigen Bergpumas hervorgeholt hatte. Hastig wühlte er in seinem Rucksack nach den grünlichen Schuppen des von ihm getöteten Drachen. Er sah auch das Neire einige der Drachenschuppen auf den kleinen Nachttisch gelegt hatte. Zudem zog sein junger Begleiter den wertvollen schwarzen Opal hervor, den sie im Herrenhaus der Arthogs dem Herz des Wesens aus Dunkelheit entrissen hatten. Während Bargh sich noch um die Anordnung von Schuppen und Opal kümmerte, bearbeitete Neire die Pilze und das Harz zu einem Sud. Er nutze dazu die gesäuberte Pfanne, die er im metallenen Rahmen des Sturmkochers über die Ölflamme gebracht hatte. Nur durch die Hitze verschmolz das Harz mit dem zerkleinerten Pilz. „Schaut, Bargh. Wenn die alten Schriften Recht haben, wird dieser Sud, einst abgekühlt und ausgetrocknet, die Flächen aneinanderhalten, als wären sie verschmolzen.“ Bargh blickte Neire bewundernd an. Er mochte den Geruch von Harz und Pilz. Schon bald begann Neire die ersten Schuppen zu verkleben. Bargh stimmte dabei einen Gesang an die Schwertherrscherin an, in den Neire einfiel. So verbrachten sie Schuppe um Schuppe auf der Maske und zuletzt den großen schwarzen Opal, über der Position des rechten Auges.

„Bleibt ihr hier Bargh. Ich werde mir den Turm einmal genauer ansehen. Falls ich beim ersten Sonnenlicht nicht zurück bin, brecht die Türe auf.“ Neire flüsterte zischelnd in das Ohr Barghs und deutete auf den runden Turm, der unweit von ihnen knappe zehn Schritt hoch aufragte. Aus dem Turm sahen sie das Licht des Leuchfeuers ausgehen, das ab und an seine Richtung und Farbe änderte. Neire hatte kein Muster in diesen Änderungen gesehen, die sie bereits am ersten Abend ihrer Ankunft bemerkt hatten. Jetzt ließ er Bargh zurück und schlich im Schatten seines Tarnmantels über die kleine Gasse, die zu Wehrmauer und Turm führte. Von jenseits des Turmes konnte er die Wellen der Brandung rauschen hören. Eine Brise von Salz erfüllte die Luft und vermengte sich mit dem Geruch des unweiten Fischmarktes. Die Nacht war noch nicht weit vorrangeschritten, aber der bewölkte Himmel war bereits stockduster. Als er an der alten, aus dicken Steinquadern errichteten Mauer ankam, leitete er seinen Blick nach oben. Zum Meer hin hatte der Turm in seiner Spitze große Öffnungen. Wie Säulen, die das silberne Licht über die nächtlichen Fluten wiesen. Da war es wieder. Als er nach oben schaute pulsierte das Licht, sprang von Silber zu giftigem Grün und anschließend zu Violett. Er wollte dem nachgehen. Vorsichtig suchte er Halt in den engen Ritzen der Quader. Die Wand ragte senkrecht über ihm auf. Langsam zog sich Neire nach oben und begann sicherer zu werden, je höher er kam. Der Boden der Gasse war schon weit unter ihm, als seine Hand das Gesims der Leuchtkammer berührte. Über ihm war gleißendes Licht. Er kniff die Augen zusammen und zog sich über den Rand. Als er vorsichtig zu blinzeln begann, konnte er das Innere des oberen Gemachs erblicken. Vor ihm eröffnete sich ein Turmraum, dessen Rückseite von einem Halbkreis glänzender, menschengroßer Spiegel gesäumt war. Vor den Spiegeln war die Lichtquelle auszumachen. Von zwei goldenen Ketten getragen hing ein glühender Oktaeder-förmiger Kristall über einem Becken. Das Becken war mit rötlich-porösem Bimsgestein gefüllt, brannte jedoch nicht. Das Licht kam aus dem Edelstein selbst. Dort… da war es wieder. Während Neire langsam auf die Spiegel zu schlich, wechselte der Kristall abermals seine Farbe und Strahlrichtung. Neire suchte das Gemach ab. Neben einer Falltür nach unten, konnte er hinter den Spiegeln Ölkannen finden. Eine nähere Untersuchung des Kristalls offenbarte eine schwarze Schrift, die sich in geschwungenen Lettern über den Ring zog. Unsere silberne Herrin, sie leitet euch, sie weißt, den Weg. Irgendetwas kam ihm merkwürdig vor in der Zusammensetzung der Worte, in der Kommasetzung. Für einen kurzen Moment blickte er in die Flammen und da war etwas. Als ob eine Präsenz ihn betrachten würde. Als ob das Licht, von einer niederträchtigen Intelligenz beseelt, blicken würde. Er hatte genug gesehen und machte sich wieder an den Abstieg. Er ließ sich die Brüstung hinab, doch diesmal konnte er keinen geeigneten Halt finden. Wieder und wieder probierte er andere Stellen, doch zwecklos. So schlich er sich hinter die Spiegel und wartete dort. Vielleicht würde eine Wache nach dem Feuer schauen. Lange wartete er und als schließlich der Morgen graute, musste er handeln. Nochmals versuchte er sein Glück. Diesmal hatte er eine Stelle weiter außen gefunden. Er fand ausreichend Halt im Stein und kletterte hinab. Zu Bargh angekommen berichtete er ihm von seinen Erlebnissen. Gemeinsam schlichen sie, so unauffällig wie möglich, zurück zu ihrem Gasthaus. Während der Rückkehr spürte Neire bereits ein Dröhnen in seinem Kopf. Ein rhythmisches Pochen, das immer stärker wurde. Zudem brannte sich der magische Schutzring an seiner linken Hand in sein Fleisch. Es quälte und bohrte ihn bereits jetzt der Gedanke und er wusste, dass er sich vergangen hatte an Nebelheim. Das Ritual der Fackeln hatte er vergessen. Er, Neire, Kind der Flamme.

Das Licht war gleißend und blendete ihn. Doch er musste kämpfen und stürzte nach vorne. Hinter ihm hörte er noch die Falltür mit einem Krachen zustürzen. Bargh schwang sein Langschwert gegen die Kreatur aus grünlich-hellem Licht, die sich vor ihm aus dem Kristall gelöst hatte und sich ihm summend näherte. Er spürte eine elektrisierende Aura auf seiner Haut. Die Feuerkugel war etwa einen Schritt im Durchmesser und bestand aus waberndem, kaltem Licht. Sie schwebte in rasanter Geschwindigkeit auf ihn zu. Er reagierte schneller und ließ sein Schwert in einem tödlichen Schnitt durch die Kreatur fahren. Hatte das Licht ihn geblendet, gar getäuscht? Keinen Widerstand spürte er und musste den Schwung des Schlages abfangen. Jetzt sah er Neire von hinten auf die Kreatur einstechen, doch auch der Degen seines Begleiters fuhr ins Leere. Was war das für ein Zauber, der sie im obersten Raum des Leuchtturmes erwartete? Eigentlich hatten sie ihren Einbruch sorgfältig geplant. Neire hatte den gesamten Tag wie in einem Fieber im Bett verbracht. Er hatte schweißgebadet Gebete zu seiner Göttin gemurmelt und wie in einem Wahn von Nebelheim gesprochen. Von dem alten Fluch, der über der Stadt lag und den es zu ergründen galt. Dass er die immerbrennenden Fackeln des Inneren Auges entzünden musste – Nacht für Nacht. Neire hatte von sich als Auserwähltem gesprochen, diese Aufgabe zu übernehmen, um Nebelheim von seinem Schicksal zu retten. Nach Einbruch der Nacht hatte sein junger Begleiter dann das Ritual der Fackeln durchgeführt. Danach hatte sich sein Zustand verbessert. Sie hatten gegessen und dabei eine Zeitlang geplant. Dann waren sie zum Leuchtturm aufgebrochen. Kurz hatten sie Wachen auf der Stadtmauer gesehen, die wie sie das Lichtschauspiel des Leuchtfeuers verwundert betrachtet hatten. Als diese über den Wehrgang in die Dunkelheit verschwunden waren, hatte Neire die Türe aufgebrochen. Er hatte Bargh den Weg ins Innere gewiesen, wo eine lange runde Treppe aus Stein weit nach oben führte. Bargh hatte die Treppe genommen und Neire war wieder über die Außenmauer nach oben geklettert. Als Bargh die Falltür nach oben gestoßen hatte, hatte sich das Licht aus dem Kristall gelöst und war in eine Lebensform übergegangen, die ihm nun gegenüberstand. Immer wieder hackte und stach er mit seinem Schwert in Richtung des Lichts. Er verfehlte stets. Dann ging die glühende Kugel in den Gegenangriff über. Er spürte einen Schlag, das Verkrampfen seiner Muskeln und für eine kurze Zeit die Luft aus seinen Lungen weichen. Bargh torkelte benommen zurück. Doch Neire nutzte den Moment und stach in das Herz des Wesens. Für einen Augenblick war ein höheres Surren zu hören. Jetzt dränge auch er wieder heran und attackierte. Eine Zeitlang kämpften sie so. Als das Wesen sich vor einem der Spiegel platzierte, zerstörte Neire diesen mit einem Hieb des Degens. Danach wendete sich die lichtene Kugel Neire zu. Jetzt war sein Moment. Bargh drang nach vorn und ließ das Schwert niederfahren. Er zielte so, als ob er die Kreatur verfehlen würde – mit genügend Vorhalt. Und tatsächlich spürte er den Widerstand, als das Schwert sich in das faulige Herz der Erscheinung bohrte. Das Herz, das unsichtbar hinter gleißendem Licht verborgen war. Elmsflammen zuckten in einem letzten Todesschrei auf. Augenblicklich verdimmte der Schein und ein schwarzer Klumpen fiel mit einem Flatschen auf dem Boden. Dort wo die nach elektrisch verbrannter und verfaulter Haut stinkende Masse sich verteilte, sah Bargh jetzt Gegenstände liegen. Er ächzte und blickte sich um. Hinter ihnen lag die große, entvölkerte Stadt, die auf einst ruhmreiche Zeiten zurückblickte. Es war dunkel geworden um sie herum. Er hörte das Rauschen der nächtlichen Brandung unterhalb der Klippen des Turmes. Bargh trat zwischen die Säulen und blickte in Richtung Süden. Dort musste der Tempel der Ehre liegen. Der rote Kristall in der rechten Augenhöhle seines verbrannten, haarlosen Schädels schimmerte matt in der Düsternis.


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Sitzung 41 - Der Turm des Magistraten
« Antwort #42 am: 18.11.2022 | 22:07 »
Durch die gotischen Säulen des jetzt dunklen Leuchtturmes pfiff der Wind des Meeres. Der Geruch von Algen und Salz war in der Luft. Bargh hatte sich mittlerweile niedergekniet und versorgte seine Wunden. Immer wieder blickte er in Richtung des Tempels der Ehre. Die Wut und der Hass auf seinen alten Orden wollten nicht weichen. Unter dem wolkenverhangenen Nachthimmel sah er nur Dunkelheit. Neire war zu ihm getreten und half ihm beim Anlegen der Verbände. Doch Bargh konnte nur das von den gold-blonden Locken eingerahmte Gesicht des Jünglings erkennen. Der Rest von Neires Körper war durch den elfischen Umhang in Schatten gehüllt. „Was tun wir jetzt Neire? Wir sollten diesen Ort verlassen.“ Neire nickte, während er antwortete. „Ja, ich habe bereits eine Idee.“ Bargh atmete noch immer tief von der Anstrengung des Kampfes und richtete sich jetzt auf. Er folgte Neire zu dem stinkenden Haufen von Haut und Fleisch, der von der Kreatur übriggeblieben war. Er beugte sich hinab und begann die Gegenstände in seinem Rucksack zu verstauen. „Bargh! Ich habe ein Geräusch von unten gehört. Stimmen. Vielleicht Wachen, die sich nähern.“ Bargh spürte die Aufregung in der jetzt zischelnden Stimme von Neire. Er verstaute hastig den letzten Beutel mit Münzen, dann richtete er sich auf. Neire hatte die noch geöffnete Falltür bereits geschlossen und sich in die Schatten gekauert. Bargh hörte nur noch die Stimme in der Dunkelheit. „Versteckt ihr euch hinter einem der Spiegel. Ich werde an Falltür lauern.“ Bargh packte sein Schwert, erhob sich und begab sich hinter einen Spiegel.

„Ich habe es dir doch gesagt. Es war keine gute Idee. Die Sache war von vornherein zum Scheitern verurteilt.“ Der junge Wächter des Tempels der Ehre bewegte sich vorsichtig die Stufen des Turms hinauf. Er hatte sein Kurzschwert gezogen und zitterte am ganzen Körper. „Ja… aber das hilft uns jetzt auch nicht weiter. Seid still und geht. Vorwärts.“ Der ältere Soldat des Tempels stieß seinen jüngeren Gefolgsmann unsanft nach vorne. Die Dunkelheit war dicht und fast undurchdringbar. Sie trugen trotzdem keine Fackel bei sich. Es gab ein Knarzen als der Jüngere das schwere Holz der Luke nach oben drücke. Hervor kam ein pausbackiges Gesicht eines Mannes, der vielleicht etwas mehr als 20 Winter gesehen hatte. Furcht stand in seinen Augen, als er das Zwielicht abtastete. Dann zog er sich über die Stufen nach oben. Ihm folgte der Ältere, der von muskulöser Gestalt war und dessen haarloser Schädel einige Narben trug. Der Jüngere war bereits zum Becken mit dem Kristall vorgedrungen, als sich die Masse von Schatten hinter dem Älteren zu bewegen begann. Keiner von beiden sah das Funkeln des Stahles, als der Degen sich von hinten durch den oberen Torso bohrte. Der Stich war präzise und tödlich. Der Ältere spucke gurgelnd Blut, als er, nach Luft schnappend, wie ein nasser Sack zu Boden sank. Der Jüngere blickte sich panisch um, doch er sah keinen Gegner. Auch die blutige Klinge verschwand geisterhaft in den Schatten. Was ist das nur für eine schwarze Magie, dachte er sich und drehte hastig den Kopf. Da war sie plötzlich, die Erscheinung. Ein Ritter stand vor einem Spiegel, seine Silhouette von den anderen Spiegeln wiedergegeben. Ein roter Kristall schimmerte glühend in seinem rechten Auge. Er hatte ein Schwert erhoben und kam auf ihn zu. Der verbrannte Schädel des Ritters brannte vor Hass, seine narbige Haut schrie nackte Gewalt. Was war das nur für ein Alptraum? Dafür war er nicht ausgebildet worden. Er wollte um Gnade betteln, doch er konnte nicht. Er wollte laufen, doch er konnte nicht. Der Ritter hatte ihn längst erreicht und die Klinge seines Hasses senkte sich unaufhaltsam hinab. Er spürte noch den warmen Strom an seinem Bein hinab gehen, als er sich einnässte. Dann kam der Stahl. Kalt und unbarmherzig griff er nach seinem Leben.

Sie hatten die beiden Wachen auf die Brennsteine und unter dem großen Kristall platziert. Bargh hatte die Schwerter so in ihre Körper gesteckt, als ob es aussah als ob sie sich gegenseitig getötet hatten. Dann hatte Neire gesagt er sollte sich auf den Weg zum Gasthaus machen. Neire wollte sich um alles andere kümmern. Jetzt stand Neire alleine in dem dunklen Gewölbe des alten Turms. Er hatte eine Karaffe von dem zähflüssigen Öl in Hand. Für einen kurzen Moment dachte er nach. Dann begann er das Öl langsam über Boden und Spiegel zu verteilen. Karaffe um Karaffe verteilte er so. Bis der gesamte Boden und alle Spiegel bedeckt waren. Er stellte sich vor einen Spiegel und begann das Öl zu entzünden. Zuerst wollte die träge Substanz nicht richtig Feuer fangen. Doch dann flackerten bläuliche Flammen auf. Neire folgte dem Schauspiel fasziniert. Die kindliche Freude, die er in diesem Moment verspürte, erfüllte ihn mit Glück. Er blickte in den Spiegel und zog seine Kapuze zurück. Er dachte zurück an Nebelheim. An seine Zeit als Anwärter. Als er noch den obsidianernen Boden putzen musste. Er dachte wehmütig zurück und erinnerte sich an ihre Stimme. Er wusste auch jetzt noch genau was Lyriell, die Kupferne Kriegerin, damals zu ihm gesagt hatte, als er sein Spiegelbild im Obsidian betrachtet hatte. Er flüsterte die Worte in die Flammen, so als ob er mit seinem Spiegelbild sprechen würde. „So klein und schon so selbstverliebt. Dabei hast du noch nicht die große Prüfung hinter dir, Anwärter.“ Er wusste auch noch, was er geantwortet hatte. „Ich habe keine Angst vor der Prüfung. Ich habe bereits mein Schicksal im inneren Auge gelesen.“ Auch jetzt betrachtete er sich in dem langsam größer werdenden Feuer. Das blau der Flammen war schon in ein gelb übergegangen. Sein Gesicht war nicht mehr so eingefallen wie zuvor, wie in den langen Regennächten am Wolfsfelsen. Wie lange das wohl schon her war? Er hatte die Tage nicht gezählt, die nach seiner Flucht aus Nebelheim vergangen waren. Jetzt hatten sie eine Aufgabe. Für Bargh. Doch dann? Was würde danach passieren. Er durfte Nebelheim nicht vergessen. Er sah eine einzige Träne über seine Wange rollen. Doch war es der Gedanke an Lyriell und Nebelheim, der seine Emotionen entfachte oder weinte er um seine Schönheit – das Kind der Flamme, das sich in Feuer und Schatten ewiglich jugendhaft geborgen wähnt. Er wusste es nicht. Er drehte sich rasch um. Der Spiegel begann sich bereits zu verbiegen. Er entzündete noch die Steine im Becken und schlich sich in Richtung Falltür. Als er den Geruch von verbranntem Fleisch vernahm, zog er sich die Kapuze über und ließ sich über die Stufen in die Dunkelheit hinab. Hinter ihm prasselten die Flammen des Ölfeuers und er hörte das Brechen des ersten Spiegels. Doch seine Gedanken waren in Nebelheim und bei seiner Lyriell. Sie war jetzt im Reich der schwarzen Natter. Dort wo der Stein flüssig brannte. Dort wo die Dunkelheit Runen in das brodelnde Magma zeichnete.

Bargh stand auf dem Pier und blickte auf die drei Männer im Ruderboot hinab. Er hielt sich im Hintergrund während Neire mit den beiden sprach. Sie waren am letzten Abend unerkannt in das Gasthaus zurückgekehrt. Aus der Ferne hatten sie das Feuer brennen sehen können, das auch am heutigen Tag noch im Turm wütete. Doch Wachen des Tempels der Ehre schienen keine Versuche zu machen das Feuer zu löschen. Er wollte gerade wieder seinen Blick dem Turm zuwenden, als einer der Jungen im Boot Neire abermals ansprach. „Seid ihr eigentlich auch auf dem Weg zum Tempel der Ehre? Wollt ihr euch dem Orden anschließen, wie wir es tun wollen?“ Die Sonne brach gerade wieder durch die Wolken und ließ das Wasser des Hafens grünlich schimmern. „Nein, wir suchen, wie bereits gesagt, ein Boot, das nach Fürstenbad fährt. Aber das scheint es ja hier nicht zu geben. Auch wissen wir ja nicht ob sie uns im Tempel überhaupt nehmen würden.“ Der etwas verwahrlost aussehende Junge deutete jetzt auf ihn und lachte, während sein Freund anfing leise zu murmeln. „Müsst ihr eigentlich immer jeden ansprechen?“ Doch der Junge mit den verfilzten Haaren und fauligen Zähnen ließ sich nicht beirren und erhob erneut das Wort. „Der da sieht aus wie ein stattlicher Krieger. Natürlich würden sie einen Krieger nicht abweisen.“ Bargh musste jetzt auch lachen, obwohl er die neue Gesprächigkeit von Neire nicht mochte. Er klopfte sich mit seinem Panzerhandschuh auf die Augenbinde, die den Rubin überdeckte und sprach. „Nun, ich sehe ja mit einem Auge nur noch halb so viel. Ich bin mir nicht sicher ob sie dort so etwas gebrauchen können.“ Der Junge dachte kurz nach, dann antwortete er erneut. „Naja, wenn ihr halb so viel sehen könnt, aber dafür doppelt so feste zuschlagt, solltet ihr keine Probleme haben.“ Jetzt sah er auch Neire lachen, der den Jungen zynisch anschaute. „Weise Worte.“ Der Junge grinste und deutete auf seinen Kopf, indem er Barghs vorherige Geste imitierte. „Jaha, hier oben ist ganz schön viel los, ja… ganz schön viel los hier oben.“ Jetzt fiel der ältere Mann mit der Glatze dem Jungen ins Wort. Er hatte die Taue schon gelöst und schaute Neire und ihn an. „Also wollt ihr jetzt mit? Ich habe noch zwei Plätze frei.“ „Nein, wir wollten nach Fürstenbad. Wie schon gesagt.“ Antwortete Neire. Das Boot legte daraufhin ab, während sich Neire und er in Richtung Fischmarkt begaben. Vielleicht werden wir uns wiedersehen, dachte Bargh. Dann wollte er sehen, was in dem Kopf des Bastards los war. Er würde dort schon nachschauen. Sein Schwert würde ihm dabei helfen.

Neire ächzte, als er den leblosen Körper auf den Boden fallen ließ. Sie waren nach ihrem Besuch auf dem Fischmarkt wieder in das Gasthaus zurückgekehrt, wo sie den Rest des Tages verbracht hatten. Auf dem Fischmarkt hatten sie einen Fischer, der sich Bregor nannte, überzeugt, mit ihnen auf Fischfang zu gehen. Sie wollten sich am nächsten Abend, oder am darauffolgenden Abend mit ihm treffen. Im Gasthaus hatten sie dann in ihrem Raum gewartet bis es Nacht wurde. Die Zeit bis dahin hatten sie mit Gebeten an ihre geliebte Göttin verbracht. Nachdem Neire dann sein Fackelritual durchgeführt hatte, waren sie aufgebrochen. Im Schutz der Dunkelheit waren sie bis zu einem Turm der Stadtmauer gelangt, in dem sich eine Türe befand. Sie hatten die Türe aufgebrochen und hatten geplant so lange zu warten, bis die Wachen den Wehrgang über ihnen passiert hatten. Neire hatte sich auf der Wehrmauer in die Schatten gekauert. Doch der Plan hatte nicht funktioniert. Die Wachen waren nicht an ihnen vorbeigegangen, sondern waren in den Wachraum hinabgestiegen. In diesem Moment hatte Neire zugeschlagen. Die erste Wache hatte er von hinten mit seinem Degen ermordet und so leise wie möglich fallen lassen. Dann hatte er auch die zweite Wache gemeuchelt. Jetzt lagen beide Wachen in einer Lache von Blut unter der hölzernen Wendeltreppe. Neire blickte Bargh an und flüsterte keuchend. „Es ist Zeit für unsere Masken. Der Weg über die Mauer ist frei. Lasst uns herausfinden welche Geheimnisse die Magier der Küstenlande hinterlassen haben.“ Bargh nickte freudig und zog seine Maske mit dem grünen Drachenschuppen und dem schwarzen Opal hervor. Die Maske machte ihn unheimlich. Auch Neire zog sich die Maske der Feuerschlange über, die er noch aus Nebelheim hatte. Gemeinsam schlichen sie sich über die Mauer, bis sie die drei alten Türme genauer sehen konnten. Die drei Türme waren alle zylinderförmig. In den beiden kleineren Türmen konnte Neire Licht sehen. Der große Turm schien verlassen zu sein. Sie ließen sich an der Mauer hinabgleiten. Neire kletterte, während Bargh Kraft seines Ringes wie von Zauberhänden getragen in die Tiefe sank. Dann schlich sich Neire auf den großen Turm zu. Er sah zwei Eingangsportale. Große Türen waren mit blumenförmigen Mustern verziert. Beide besaßen ein Schloss, das von einem Muster umgeben war. Eine Untersuchung nach Fallen offenbarte kleine Löcher und einen gespannten Faden im Schloss. Neire begann vorsichtig das Schloss zu knacken, indem er den Faden mied. Und tatsächlich hörte er ein Knirschen, als sich das Schloss bewegte. Er kehrte zurück zu Bargh. Gemeinsam drangen sie in das Innere vor, das sich als verlassen herausstelle. Staub bedeckte den Boden, als ob jahrelang kein Besucher mehr die Halle betreten hätte. Die stattliche Halle war mit kunstvollen Bildern ein und desselben Mannes ausgestattet. Selbst die Decke war von einem Bild von ihm bedeckt. Der Mann trug feuerrotes gelocktes langes Haar und hatte leuchtend blaue Augen. Nachdem sie die Türe hinter sich zugezogen hatten flüsterte Neire verächtlich. „Was für ein menschlicher Abschaum. Wir sind Diener Jiarliraes. Wer ist mehr?“ Sie berieten sich daraufhin kurz. Bargh wollte unten warten, während Neire die Treppen untersuchen wollte. Er schlich sich vorsichtig die Stufen hinauf in ein darüberliegendes Herrschaftsgemach. Die Decke war bemalt mit einem strahlenden Himmel von Sonnenschein. Kostbare Einrichtungsgegenstände und gotische Möbel füllten die Halle. Auch hier war ein wertvoller Teppichboden zu sehen. Sogar ein verzierter Badezuber war neben dem prunkvollen Himmelbett zu sehen. Doch Neire erstarrte wie zu einer Eissäule, als er in Richtung eines Schminktisches blickte. Dort saß eine Gestalt vor einem zerbrochenen Spiegel. Zuerst konnte er nicht genau erkennen, ob es sich um eine Leiche handelte. Die greisenhafte Gestalt hatte schwarze Stellen von verfaulter Haut auf ihrem Kopf, auf dem Neire noch hier und dort Stellen des roten lockigen Haares sah. Doch da war es. Er hatte bemerkt, dass sich der Brustkorb der Gestalt gehoben hatte. Als ob diese atmen würde. Es folgten keine weiteren Atemzüge. Neires Herz begann höher zu schlagen. Er zog langsam den Degen unter seinem Umhang hervor. Langsam schlich er auf die Gestalt zu. Für einen Moment war er unachtsam und streifte beim Losgehen die Kante einer Kommode. Doch das kleine Geräusch war genug um die Gestalt hochschrecken zu lassen. Zuckend begann sich diese zu bewegen. Ruckhaft blickte der Kopf in seine Richtung. Er konnte eine große Kette erkennen, die um ihren Hals gelegt war. Dort war das Wappen der Stadt zu sehen. Neire hörte einen hellen Schrei, der von der Kreatur ausging. Er blickte in matte graue Augen. Das Grinsen des Wesens offenbarte faulige Zähne. Nachdem Neire kurz eingefroren war schlich er trotzdem weiter. Von unten hörte er schon die Schritte von Bargh nahen. Auch die Gestalt schien das abzulenken. Schließlich kam er im Rücken des Greises an. Die Kreatur hatte gerade begonnen seltsame Formeln zu murmeln, als er zustach. Tief drang der Degen und die arkanen Formeln verhallten ins Leere. Auch Bargh warf sich der Gestalt jetzt entgegen. Der Streich von Bargh drang tief in den Hals hin und der Mann vor dem zerbrochenen Spiegel hauchte mit einem letzten schrillen Schrei sein Leben aus.

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Sitzung 42 - Feuer und Dunkelheit in Dreistadt
« Antwort #43 am: 24.11.2022 | 21:58 »
Die Ruhe nach dem Todesschrei des fauligen Greises war gespenstig. Die Gestalt war jetzt in sich zusammengesackt und ein Fäulnisgeruch ging von ihr aus. Neire und Bargh schauten sich in dem Gemach um, das von dem durch die gotischen Fenster eindringenden Mondlicht erhellt wurde. Neben dem schweren Atmen von Bargh waren keine weiteren Geräusche zu hören. Aufgewirbelte Partikel reflektierten hier und dort das silberne Licht und erzeugten eine nebelhafte Distanz zu dem vergangenen Prunk. Von der Heftigkeit des Kampfes immer noch überrascht, nickte Neire Bargh zu und beugte sich langsam über den Leichnam hinab. Der Jüngling, von dem momentan nur Schatten zu sehen waren, begann die leblose Gestalt zu durchsuchen. Bis auf einen verzierten Ring und die große goldene Kette mit dem Wappen der Stadt, fand er aber nichts. Plötzlich horchte Neire auf. Durch die Fenster hatte er aufgeregte Stimmen von draußen gehört. Wachen hatten sich dem Turm genähert. „Vergesst es. Bis hierhin und nicht weiter. Zutritt verboten.“ Hörte Neire die erste Stimme sagen. Er zog seine Kapuze etwas zurück und strich die Haare von seinem Ohr. Seine gold-blonden Locken schimmerten im Mondlicht - die Maske der Feuerschlange trug glänzende Juwelen. „Ja, aber… habt ihr es nicht gehört? Der Schrei?“, antwortete eine andere Stimme. „Jeder hat es gehört. Doch für uns geht es hier nicht weiter. Befehl ist Befehl.“ Eine Zeitlang lauschte Neire den Stimmen, bis er zwei neue Stimmen hörte. „Ihr da, was macht ihr hier?“ Fragte ein älterer Mann in barschem Ton. „Irgendetwas stimmt hier nicht. Habt ihr nicht den Schrei gehört?“ Antwortete die Stimme von vorher. „Ja, haben wir. Aber für euch ist jetzt Schluss hier. Geht zurück auf euren Streifgang.“ Die beiden Wachen schienen sich zu fügen und langsame Schritte begannen sich zu entfernen. Jetzt war es an der Zeit das Gemach zu durchsuchen. Bargh und Neire machten sich vorsichtig an die Vielzahl von Schubladen und Kästen, die der Hallen-artige Raum zu verbergen hatte.

Vorsichtig ließ sich Neire an der Außenfassade des Turmes hinab. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Über ihm brach ab und an der Mond durch die Wolken. Es war bereits etwas kälter geworden. Als er sich in das weiche, nasse Gras hinabsinken ließ, konnte er bereits die Schatten der beiden Wachen erkennen, die sich vor dem Eingangsportal des Magistratenturms postiert hatten. Dunkel ragten die beiden anderen Türme auf, aus dessen Schießscharten ein Lichtschimmer zu erkennen war. Neire schlich sich vorsichtig auf die Gestalten zu, die nun in sein Sichtfeld kamen. Nur einen kurzen Moment dachte er an die Schätze, die sie bei der Durchsuchung des Gemachs gefunden hatten. Es waren einige Juwelen und Schmuck gewesen sowie ein magischer Ring und magisches Amulett. Ein Gegenstand hatte jedoch in besonderer Weise seine Aufmerksamkeit erregt. Es war eine Dose mit gefülltem Gelee gewesen, auf deren Rückseite er das eingravierte Bild einer wunderschönen Frau gesehen hatte. Diese Frau hatte er als die Göttin Sune identifiziert. Doch als er für einen kurzen Moment seine Augen abgewendet hatte, war das Bild einer inneren Wandlung unterzogen gewesen. Als ob das Gesicht sich verzerren würde, zu einem boshaften und niederträchtigen Grinsen. Er hatte das Gelee untersucht und tatsächlich nur normale Kräuter für Haut und Gesichtspflege festgestellt. Doch sein Gespür für Flüche hatte ihn gewarnt. Irgendetwas stimmte mit der Substanz nicht. War die Substanz vielleicht für den Wandel des Magistraten verantwortlich? Er verwarf den hastigen Gedanken und schlich sich weiter durch Schatten. Als er im Rücken der ersten Wache ankam, zog er den Mantel enger und bereitete den Degen zum tödlichen Stoß vor. Er war jetzt bis aufs Äußerste gespannt. Dann ließ er den Degen nach vorne schnellen. Er spürte den Widerstand des Kettenhemdes, doch die Glieder sprangen entzwei durch die Wucht des Stoßes. Sein Degen traf das Herz und die Wache im gelben Umhang ging zuckend zu Boden. Die andere Wache blickte sich erschreckt um und setzte zu einem Schrei an. Doch auch diesmal war Neire schneller. Er bewegte sich einen Schritt hinter die Gestalt und griff abermals an. Der Degen drang vom oberen Teil des Rückens durch den Hals. Ein feiner Strahl von Blut sprühte hervor und die Gestalt begann zu röcheln. Doch schwer verletzt konnte die Wache sich auf den Beinen halten. Der noch junge Mann fing an zu schreien. „Hilfe, kommt herbei, eine Abscheulichkeit, schwarze Kunst…“ Neire sah bereits aus den Augenwinkeln die zwei weiteren Wachen zu Hilfe eilen. Auch sie trugen Kettenhemden und farbige Mäntel. Einer der beiden hatte einen grünen Mantel, der andere einen grauen. Sie konnten ihn anscheinend nicht ausmachen und stürzten sich in den Nahkampf. In diesem Moment schwang die Tür des Turmes auf. Bargh trat heraus. Die Maske der grünen Drachenschuppen und des schwarzen Opals bedeckte sein Gesicht. Mondlicht glitzerte auf seinem Plattenpanzer. Er hob sein Schwert und tötete die verletzte Gestalt mit einem tiefen Schnitt. Ein heftiger Kampf entbrannte jetzt mit den beiden neu eingetroffenen Wachen. Sie wehrten sich mit all ihrer Kraft, wurden dann aber von Bargh und Neire niedergestreckt.

Bargh drehte sich um. Er sah nicht viel von Neire, doch er wusste ungefähr, wo sich der Jüngling mit dem Schattenmantel befand. Neire machte sich gerade an dem Türschloss des zweiten Turmes zu schaffen. Sie hatten den ersten der beiden erleuchteten Türme bereits erkundet. Die Eingangstüre war auch mit einem Schloss versehen gewesen, das Neire geknackt hatte. Im Inneren hatten sie eine hohe, runde Halle vorgefunden, an deren Wänden sich gefüllte Bücherregale befanden. Sie hatten dort zwei Leitern und einen Kronleuchter gesehen, in dem ein kleines Feuer brannte. Die Bücher und Schriftrollen waren daraufhin von ihnen untersucht worden. Neire hatte zudem immer wieder gehorcht, ob Gefahr im Anmarsch sei. Doch er hatte eine längere Zeit nichts gehört. Die Bücher waren teils einfache Geschichten und Romane gewesen. Doch sie hatten auch schriftliche Aufzeichnungen des Handels des Magistraten gefunden. Auch der Gelee-artige Gesichtsaufstrich war als Schachtel von Sune vermerkt gewesen, nur ohne die Angabe eines Verkäufers. Es waren aber einige interessante Dinge vermerkt. So war zum Beispiel von einer Münze von Tymora die Rede, die als Fälschung gekennzeichnet war und vor kurzer Zeit an den Müller von Mühlbach verkauft wurde. Bargh hatte sich dabei an die Geschichte von Neire erinnert. Was er in dem Keller von Mühlbach gesehen hatte. Ein Stern von Selune wurde gekauft und auch die Schachtel von Sune war vermerkt gewesen. Zu guter Letzt hatten sie eine alte Karte der Tempelinsel gefunden, auf der einige Ruinen eingezeichnet waren. Sie hatten daraufhin den Raum verlassen und sich dem letzten der drei Türme zugewandt. Jedoch mochte Bargh die anhaltende Ruhe nicht. Irgendetwas musste hier faul sein oder wollte er nur weiter töten? Er blickte am Turm vorbei in Richtung Stadt. Die Wolken waren mittlerweile vollständig aufgerissen und so konnte er dunkle Umrisse der Stadtmauer im silbernen Mondlicht sehen. Er hörte ein Flüstern aus Richtung der Türe. „Bargh, der Weg ist frei. Lasst uns sehen was sich in diesem Turm befindet.“ Bargh machte einen Schritt zur bereits halb geöffneten Tür und schaute in den Turm. Sein von Blut verschmiertes Schwert schimmerte dunkel unter dem Vollmond. Es kam ihm der Geruch von Lebensmitteln und Rauch entgegen. Das Gemach wurde erhellt von einer Feuerschale, die durch Ketten getragen von der Decke hinabhing. Hier und dort sah er Säcke mit Getreide, Körbe mit Nüssen und Wurzeln, Trockenfleisch und Würsten. Auch einige Fässer waren zu sehen. Eine kleine Treppe führte in ein oberes Stockwerk. Er spürte, dass Neire an ihm vorbeischlich und folgte ihm in das obere Gemach. Er kam in einen weiteren kreisrunden Raum, über dem er das Dachgebälk sehen konnte. Offene Schießscharten waren in jede Himmelsrichtung in den Stein gelassen. In einem Halbkreis standen ein Dutzend schwere Truhen. Jede einzelne war kniehoch und etwa einen Schritt lang. Die Truhen waren mit schweren Eisenstreben verstärkt. Überall waren große Vorhängeschlosser zu sehen. Augenblicklich hörte er die Stimme von Neire. „Bargh, ich werde nach den Schlössern sehen. Achtet ihr auf die Treppe nach unten.“ Er nickte und postierte sich an den Eingang des Raumes. Von unten sah er das Licht der brennenden Schale schimmern. Sie sollten nur kommen, dachte er sich. Er würde schon mit ihnen fertig werden. Junge Burschen, die den Dienst an der Waffe noch nicht lange begonnen hatten. Nicht wie er, ja… Hinter sich hörte er die ersten Schlösser knacken. Neire hatte bereits zwei Truhen geöffnet, die aber beide leer waren. Bei der dritten und der vierten Truhe hatten sie mehr Glück. Gold und Edelsteine zog Neire hervor und ließ sie in seiner magischen Schatulle verschwinden. Als Neire sich bereits der fünften Schatulle gewidmet hatte, hörte Bargh in Fluchen. Das Kratzen des Dietrichs auf Metall war zu hören. Dann ging alles ganz schnell. Zuerst war da ein kleines Summen, wie das eines Gongs. Tief und hoch zugleich. Es pulsierte und wurde lauter und lauter. Das Geräusch schwoll in rasanter Geschwindigkeit an - bis es ohrenbetäubend wurde. Aus dem Schloss sprang zudem etwas hervor. Eine kleine schwarze Kugel, die sich in einem Bogen dem Boden näherte. Als die Kugel den Boden berührte breitete sich in kürzester Zeit eine schwarze Schicht einer viskosen Substanz über die Steine des Gemachs aus. Bargh sprang zurück und sah auch, dass Neire sich bereits auf eine Truhe gerettet hatte. Das Geräusch war jetzt so laut, dass sein Trommelfell zu bersten drohte. In was für eine List war Neire da hineingetappt? Bargh hielt sich die Panzerhandschuhe auf die Ohren, doch es half nichts. Dann verstummte das Geräusch. Plötzlicher als es gekommen war. Bargh hörte nur noch ein hohes Fiepen in den Ohren. Dann war da Neires Stimme, entfernt und schwach: „Bargh, wir müssen handeln. Geht und entzündet die beiden anderen Türme. Flieht danach durch die Dunkelheit. Wir sehen uns im Gasthaus wieder.“ Bargh lächelte Neire an, doch seine Maske überdeckte seine Gesichtszüge. Die Türme sollten brennen und mit ihnen die Leichen. Endlich konnte er handeln. Wortlos nickte er Neire zu und verschwand über die Treppe ins untere Geschoss.

Neire schlich geduckt durch den Raum. Es stieg bereits Rauch von den Getreidesäcken auf. Hier und dort züngelten die ersten Flammen auf. Er spürte in diesem Moment die Dualität von Feuer und Schatten in ihm. Er war so aufgeregt, doch auch von einem tiefen inneren Glück erfüllt. Gerade hatte er die Eingangstüre zum Turm verschlossen, um ein Eindringen der Wachen zu verhindern. Nachdem Bargh ihn verlassen hatte, war er vorher mit den anderen Truhen beschäftigt gewesen. Er hatte eine nach der anderen geöffnet. Irgendwann hatte er Schreie gehört und einen Trupp von Wachen durch die Stadt eilen sehen. Sie mussten aus der Hafengegend gekommen sein und bewegten sich in Richtung der drei Türme, von denen zwei bereits in Flammen standen. Das Feuer, das Bargh gelegt hatte, hatte sich rasch ausgebreitet. So hatte Neire sich beeilt und die letzte Truhe geöffnet. Diese war leer gewesen. Aus den anderen Truhen hatte er jedoch einige Schätze bergen können, die er in seiner magischen Schatulle verstaut hatte. Er schlich sich in das Dunkel des oberen Gemachs und lugte durch die Schießscharten. Die Wachen waren mittlerweile durch das Gatter der kleineren Mauer gebrochen, die den Teil des Magistratenturms abschirmte. Die Gestalten irrten zwischen den beiden brennenden Gebäuden hin und her und riefen sich neue Befehle zu. „Holt Wasser!“, „Die Türme brennen. Rettet den Magistraten.“ „Das Feuer ist zu groß, wir können nicht hinein.“ „Dann holt Wasser, ihr dort.“ Neire entschloss sich die Gunst der Verwirrung zu nutzen und an dem Turm hinabzuklettern. Als er sich an der Mauer hinunterließ hörte er plötzlich einen schaurigen Schrei. „Leichen, unsere Kameraden, sie sind alle tot. Wo sind die Mörder? Welche Abscheulichkeit.“ Dieser Ausruf stachelte ihn irgendwie an. Er hatte geplant diesen Ort im Schutze der Schatten zu verlassen. Doch jetzt reifte ein neuer Plan. Auf der Rückseite des Turmes kauerte er sich nieder und begann den dunklen Giftextrakt des bunten Vierlings auf seinen Degen zu streichen. Dann schlich er sich um den Turm und beobachtete die Szenerie. Beide Gemäuer standen bereits vollkommen in Flammen. Das Feuer schlug aus Schießscharten hervor und tobte pfeifend durch die Vollmondnacht. Wie in einem Albtraum rannten die Wachen auf und ab. Wie kleine Ameisen bewegten sie sich wirr. Neire kauerte in den Schatten und wartete auf seinen Moment. Er schaute in das Feuer und versuchte Formen in den Flammen zu entdecken - die Runen seiner Göttin. Doch er sah nur die alles vernichtenden Flammen. Da wusste er, dass er töten musste. Als sich zwei der Wachen auf den dritten Turm zubewegten, um nach Wasserfässern zu suchen, kam seine Gelegenheit. Der ersten Gestalt rammte er hinterhältig seinen Degen in den Rücken. Tödlich verwundet sank diese zu Boden. Im prasselnden Feuer hatte der Kamerad der Wache noch nichts bemerkt. Und so wurde auch er ein Opfer eines weiteren Angriffs. Neire zog sich wieder zurück und wartete ab. Es dauerte nicht lange und die toten Wachen wurden entdeckt. „Wir werden angegriffen.“ Schallten die Stimmen über den Platz. „Schwärmt aus und sucht sie!“ Neire wartete bis er zwei weitere Wachen sah, die jetzt von den brennenden Türmen in die Dunkelheit schritten. In ihren jugendlichen Gesichtern war Angst zu sehen. Er hatte das Gift auf seinem Degen erneuert und meuchelte die erste der Gestalten. Doch bei der zweiten traf er nicht richtig das Herz. Schwer verletzt, doch um sich schlagend, wimmerte die Wache, als sie um ihr Leben kämpfte. Und wieder zog sich Neire zurück. Er trug abermals Gift auf seinen Degen, ließ die Wache weiter ins Leere schlagen und schlich den letzten beiden Wachen nach. Der erste Angriff tötete eine der beiden Wachen mit der Wirkung des Giftes. Der zweiten stach er, nun in einem Mordrausch, dreimal in den Rücken, bis der leblose Leib zu Boden fiel wie ein nasser Sack. Nun schlich er sich zur bereits verletzten Wache, die er von hinten meuchelte. Er atmete keuchend auf. Noch immer war das hohe Fiepen in seinen Ohren. Sein Degen schimmerte nass im Licht des Feuers und seine Maske war von Blut bedeckt. Auch der dritte Turm hatte mittlerweile angefangen zu brennen und lodernde Flammen schossen aus den Schießscharten hervor. Jetzt musste er seine Spuren verwischen. Neire begann die Leichen, eine nach der anderen, in Richtung des Bibliothekturms zu ziehen. Dort wickelte er sich in einen Umhang und warf sie ins Feuer. Nur einen Leichnam verschonte er. Diesen Leichnam brachte er zu den Klippen. Er begann mit einem weiteren Kurzschwert in die drei Wunden des Rückens zu stechen. In der dritten Wunde ließ er das Schwert stecken. Die Taschen der Gestalt füllte er mit Münzen, die er auch in der rechten Hand platzierte. Dann blickte er sich nochmals um und betrachtete sein Werk. Die drei Türme brannten mittlerweile lichterloh. Er wendete sich ab und floh durch die Schatten hinfort. Die Flammen waren nach Dreistadt gekommen und mit ihnen die Schatten. Er hoffte, dass die Königin von Feuer und Dunkelheit stolz auf ihn sein würde. Die Welt sollte brennen und er würde IHR Prophet sein. Die Runen werde er lesen in der feurigen Düsternis.
« Letzte Änderung: 26.11.2022 | 10:46 von FaustianRites »

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Sitzung 43 - Die Insel des Tempels
« Antwort #44 am: 5.12.2022 | 11:53 »
Neire huschte durch die leeren Straßen. Es war noch kühler geworden. Der Vollmond ließ die Häuser und die Stadtmauern wie schattenhafte Konturen aufragen. Neire war noch immer voll von Adrenalin. Ein Gefühl von tiefem Glück suchte ihn heim, immer dann, wenn er sich umschaute. Hinter ihm brachen gewaltige Flammen von der kleinen Anhöhe des abgesperrten Bereichs des Magistraten. Die drei Türme innerhalb der inneren Mauer der Stadt standen jetzt völlig in Flammen. Die dichten Rußwolken waren als dunkle Säule im Mondlicht zu sehen. Der Brand war wohl noch weit über Dreistadt hinweg zu erblicken. Vielleicht bis zum Tempel der Ehre. Frohlockend jauchzte Neire innerlich auf. Das war sein… das war ihr Werk gewesen und es würde Aufmerksamkeit erzeugen. Er hoffte, dass der nächtliche Mord an einem Dutzend Wachen und die Brandstiftung eine Reaktion provozieren würde. Er hoffte, dass der Tempel der Ehre reagieren würde und seine besten Wachen nach Dreistadt schicken würde. Dann sollte der Weg frei sein für sie. Frei für die Rache von Bargh und die Gunst von Jiarlirae. In diesen Gedanken schwelgte er, als er langsam die Außentreppe des Gasthauses hinaufschlich. Dort stand Bargh, sein Begleiter, der ihn noch nicht erkannt hatte. Im verbrannten Gesicht, in dem verbliebenen Auge des einstigen Ritters, spiegelte sich die ferne Feuersbrunst. Neire sah, dass Bargh lächelte, als er in diese Richtung blickte. Mit seiner gespaltenen Zunge formte er Worte. Worte in der heiligen Sprache von Nebelheim, die ihrer Göttin, der Königin von Feuer und Dunkelheit, huldigten.

Bargh sah Neire ächzen. Der Jüngling fasste sich noch immer an seinen Oberschenkel. An die Stelle, wo er im gestrigen Kampf verletzt wurde. Bargh erinnerte sich an den letzten Abend. Nachdem Neire zurückgekommen war, hatten sie seine Wunden versorgt und ein wenig Wein getrunken. Dann war Neire in einen tiefen Schlaf gesunken und er hatte die erste Nachtwache übernommen. Er hatte bemerkt, dass Neire immer wieder im Schlaf gemurmelt hatte. Schließlich hatte er sich kaum noch wachhalten können und Neire hatte ihn abgelöst. Jetzt, als er langsam aufwachte, vernahm er den beißenden Geruch des bunten Vierlings. Neire hatte das alchemistische Besteck in ihrem Gemach aufgebaut und der dunkle Sud köchelte in den bauchigen Glasviolen. Er begann langsam die Stahlplatten seiner Rüstung anzulegen und schaute Neire zu. Sein Begleiter hatte den Schattenmantel abgelegt und schien in tiefe Konzentration verfallen zu sein. Immer wieder strich sich Neire die gold-blonden Locken zurück, wenn er sich zu seinen Gefäßen hinabbeugte. Bargh stand ruckhaft auf. Er wusste um die Gefährlichkeit des bunten Vierlings violetter Farbe. Er durfte Neire nicht stören. So bewegte sich durch die Tür und den kleinen Flur auf das hölzerne Podest, auf dem die äußere Treppe endete. Es offenbarte sich ihm der mittägliche Blick über Dreistadt. Ein kühlerer Wind war aufgekommen und jagte tiefliegende Wolken aus Richtung des Meeres heran. Für einen Moment stand er da und zog die nach Salz riechende Luft ein. Dann ließ er seinen Blick über Häuser und Stadtmauern schweifen. Die Straßen von Dreistadt waren heute leerer als zuvor. Und dennoch konnte er Bewegung und einige Stände auf dem Markt sehen. Im Bereich der drei Türme des Magistraten bemerkte er dunklen Rauch aufsteigen, der trotz des starken Windes nur schwer auseinandergetrieben wurde. Die grüne Graskuppe um die verkohlten Gebäude war an einigen Stellen schwärzlich verbrannt. Auch konnte er kleine Gestalten erkennen, die zwischen den Gebäuden umherschritten. Als er die Szenerie eine längere Zeit betrachtete, sah er, dass sich eine Gruppe von drei Personen in Bewegung setzte und den ummauerten Hügel in Richtung des stadteinwärts liegenden Tores verlassen würde. Bargh stand noch eine Zeitlang auf der Außentreppe und beobachtete die Gruppe. Tatsächlich bewegten sich die drei Wachen, die Bargh aus der geringeren Entfernung als solche identifizieren konnte, in Richtung des Marktplatzes. Er drehte sich um und begab sich in den Raum zurück. Er wusste, dass er Neire darüber informieren sollte.

„Bargh, geht ihr hinab ins Gasthaus. Ihr wisst was ihr zu tun habt. Ich werde mich um unsere Sachen kümmern.“ Bargh sah, dass Neire auf ihre Rucksäcke deutete, die sie an ihre Betten gelehnt hatten. Er legte kurz die Hand auf sein Schwert und ging dann los. Zu Neire murmelte er nur die Gebetsformel: „Und preiset das schwarze Licht unserer Göttin, auf das die Dinge sich aufs Neue entzünden.“ Dann verließ er die Türe in Richtung der Außentreppe. Er bemerkte, dass er keinen Moment zu lange gezögert hatte. Die Wachen waren bereits vom Markt aufgebrochen und näherten sich dem Gasthaus. Bargh dachte zurück. Er hatte Neire im Gemach vorgefunden, sein Alchemistenbesteck zusammenpackend. Als er ihm von den Wachen erzählt hatte, die sich dem Marktplatz näherten, hatte Neire nervös reagiert. Sein junger Begleiter hatte hastig seine Sachen zusammengerafft und war anschließend auf die Außentreppe geschlichen. Eine Zeit hatte er dort verbracht und gelauscht. Dann hatte er sich umgeschaut und zu ihm geflüstert, dass die Wachen nach Fremden suchen würden. Die Bürger waren befragt worden, ob sie irgendetwas auffälliges gesehen hätten. Bargh und Neire hatten sich daraufhin kurz beraten. Neire wollte sofort fliehen, doch Bargh hatte seinen Begleiter überzeugt zu bleiben und zu handeln. Er war sich sicher, dass sie mit den drei Wachen fertig werden würden. Und er wollte jeden der Tempeldiener ermorden. Neire hatte schließlich eingewilligt und so hatten sie hastig ihr Vorgehen abgestimmt. Als Bargh jetzt die Stufen der äußeren Treppe hinabging, sah er, dass die Wachen ihn bereits bemerkt hatten. Jetzt durfte er keine Fehler machen. Innerlich pulsierte sein Herz, doch er versuchte so ruhig wie möglich zu wirken. Er ging um das Gasthaus herum und öffnete den Haupteingang in die Schankstube. Im Inneren sah er hinter der Unordnung einer Anhäufung von Stühlen und Tischen den Wirt Ariold. Die hagere Gestalt blickte kurz auf und machte den gewohnt desinteressierten Eindruck. Doch Bargh konnte sofort die innere Anspannung ihres Gastgebers erkennen - der Rest war von Ariold gespielt. Er bewegte sich langsam auf den Wirt zu, der dort in gekrümmter Haltung verweilte. Hinter der Theke konnte er ein ledernes Bündel erkennen. Als ob Ariold eine plötzliche Abreise planen würde. Bargh nickte dem Meister der Schankstube zu, als er an die Theke trat und nach einem Humpen griff. Er begann den Hebel des Fasses zu öffnen, das dort stand, während er sprach. „Ariold, schön euch zu sehen. Habt ihr schon gehört was in der Stadt passiert ist? Ein Brand der drei Türme, wie grauenvoll.“ Er musste selbst bei seinen Worten grinsen und konzentrierte sich wieder auf das Bier, das schäumend in seinen Humpen lief. „Natürlich habe ich schon davon gehört,“ sagte Ariold, der jetzt etwas von der Theke und in Richtung seines Bündels zurückwich. Bargh nahm gerade einen großen Schluck, setzte den Humpen ab, deutete auf das Bündel und sprach jetzt lauter. „Auf der Flucht Ariold? Bleibt ruhig verdammt nochmal.“ Bargh spürte die Furcht, als der Wirt zusammenzuckte. Trotzdem antwortete Ariold direkt. „Wie lange seid ihr jetzt hier? Und was ist passiert seitdem? Brannte nicht zuerst der Leuchtturm und dann die drei Türme?“ Bargh musste wieder lachen und wollte gerade antworten, als er das Geräusch der Türe hörte, die unsanft aufgeworfen wurde. Er zwinkerte Ariold mit seinem gesunden Auge zu, bevor er sich umdrehte. Das schäumende Bier in der Hand, fing er augenblicklich an zu schwanken. Die Binde bedeckte den Rubin seines rechten Auges und sein kahler, von Brandnarben gezeichneter Schädel, schimmerte vom Schweiß im Halbdunkel. Dann drehte er sich wieder zur Theke, beachtete die Wachen nicht mehr und schenkte nach. „Wie ist euer Name und was ist euer Anliegen in Dreistadt?“ Die Stimme schallte durch Gasthaus, als die drei Wachen eintraten. Zwei von ihnen waren älter und trugen grüne Umhänge und Kettenhemden. Die jüngere Wache war muskulös. Unter dem gelben Umhang trug der Wächter des Tempels der Ehre einen Lederpanzer. Bargh drehte sich gespielt torkelnd um. Er krachte dabei mit seiner Rüstung gegen die Theke. „Ah, Freunde. Kommt zu mir und trinkt einen mit. Heute wollen wir feiern…“ Seine lallenden Worte schienen nicht auf fruchtbaren Boden zu fallen. Abermals brüllte die Wache im grünen Umhang ihren Befehl. Jetzt noch lauter und intensiver. Bargh bewegte sich langsam auf die drei Gestalten zu und rempelte dabei ein paar Stühle um. „Trinken will ich und ich geb‘ euch einen aus. Heute bin ich in Feierlaune. Was ist mit euch, häh?“ Als er näher kam hob der älteste der drei abwehrend die Hand und bellte wieder: „Halt, keinen Schritt weiter Fremder. Wie ist euer Name und was ist euer Anliegen in Dreistadt?“ Bargh lachte gespielt betrunken auf. Aus den Augenwinkeln vernahm er, dass die beiden hinteren Wachen anscheinend ein Geräusch gehört hatten und sich umdrehten. Er sprach jetzt umso lauter. „Das habe ich euch doch schon alles gesagt. Mein Name ist Bargh und ich möchte saufen hier, versteht ihr? Bier trinken, das will ich. Das ist mein Anliegen in dieser Stadt.“ Der ältere Mann mit dem grauen, kurzen Haar schien mit seiner Antwort nicht zufrieden zu sein. Immer noch hielt er die Hand hoch, blickte zu Ariold und schrie: „Ihr da, Wirt! Kommt zu uns herüber und berichtet… und zwar schnell.“ Bargh wusste, dass er jetzt handeln musste. Die beiden hinteren Wachen hatten sich wieder umgedreht und er ahnte, dass Neire sich bereits im Raum befinden musste. „Lasst doch den alten Mann aus dem Spiel, er soll mir nur sein Bier verkaufen. Der Wirt hat mir bis jetzt gute Dienste geleistet.“ Bargh lallte jetzt lauter und setzte nach, bevor der Anführer antworten konnte. „Kennt ihr eigentlich Akram? Das solltet ihr vielleicht oder?“ Für einen Moment schien der Anführer seine Fassung verloren zu haben. Er dachte nach. „Ja, Akram. Woher kennt ihr ihn,“ antwortete er etwas leiser. In diesem Moment sah Bargh, dass sich die Schatten hinter dem Mann in Bewegung setzten. Eine stählerne Klinge eines Degens blitzte in der Dunkelheit auf. Er begann sein Schwert zu ziehen, als er nüchtern sprach. „Akram ist tot und ihr werdet sterben wie er.“ In diesem Moment warf Bargh den Krug mit dem Bier in Richtung des Gesichts der Wache. In dem Regen von schäumendem Bier war eine Klinge zu sehen, die sich durch den Rücken des Wächters bohrte. Neires Degen hatte das Herz zwar verfehlt, doch der Extrakt des violetten Vierlings breitete sich in Windeseile in seinem Körper aus. Schwarz wurden die Adern des Anführers und er brach zitternd zusammen. Augenblicklich entbrannte ein Kampf, der von Bargh mit blindem Fanatismus und der Absicht zu töten geführt wurde. Bargh war im Angriff schneller als sein Gegner und hackte den anstürmten jüngeren Krieger mit zwei Angriffen in der Hüfte fast entzwei. Über den zu Boden sinkenden Leichnam schritt er auf die letzte Wache zu, die von Neire von hinten angegriffen wurde. Gemeinsam nahmen Neire und er den Krieger des Tempels in die Zange und zeigten keine Gnade.

Ariold kauerte nach Luft schnappend auf dem Boden und wurde von Neire bedrängt. Der Geruch von Tod und Blut war um sie herum. Der Priester Jiarliraes hatte die Kapuze des Schattenmantels zurückgezogen und den Degen an den Hals des Wirtes gelegt. Sein schönes jugendliches Gesicht war von Wut und Hass verzerrt und seine gespaltene Zunge fuhr über seine blassen Lippen. „Mensch… wir wollen nur ein Spiel spielen. Wie steht es mit euch? Wollt ihr nicht mit uns spielen?“ Ariold zitterte, als er in das von gold-blonden Locken gezierte Gesicht mit der geraden Stirn und den hohen Wangenknochen blickte. Die großen nachtblauen Augen Neires betrachteten ihn forschend. Langsam erhob er die Stimme. „Ja… natürlich, Herr…“ „Wir sollten uns natürlich respektvoll verhalten, wie Brüder und Schwestern eben zueinander sind… ja?“ Ariold wusste wohl nicht ganz wie ihm geschah und antwortete zustimmend. Wieder erhob Neire die Stimme. „Nun, ihr sagtet, ihr wollt nach Norden fliehen, doch wir kommen dorther. Das Dorf Mühlbach wurde von der Pest verwüstet. Ein dummer Bauer hat eine Münze von Tymora gekauft und damit ihr unseliges Schicksal besiegelt.“ Ein Funken Hoffnung wich sichtlich aus dem Gesicht von Ariold. Neire drang weiter auf ihn ein. „Doch der Pass nach Berghof ist frei. Wir sind im geheimen Auftrag des Herzogtums hier. Ihr könntet dorthin reisen und ein neues Leben beginnen. Wir könnten euch freies Geleit über den Pass gewährleisten. In Kusnir befindet sich sogar ein Gasthaus, das auf euch wartet. Ein minderwertiger Sklavenbastard namens Walfor könnte ein würdiger Diener für euch werden. Was sagt ihr dazu?“ Ariold versuchte nach Worten zu suchen, doch es war nur ein Stammeln und Brabbeln zu hören. „Ich sage euch etwas Mensch. Ich gebe euch diesen Ring, als Zeichen unserer Anerkennung. Und ihr reitet mit unseren Pferden in das nächste Dorf an der Küste. Dort werdet ihr sie für uns hüten. Wenn wir sie uns wiedergeholt haben, werden wir euch den Weg nach Berghof zeigen.“ Neire lächelte Ariold an, zog seinen Degen etwas zurück und Ariold antwortete. „Ja, ich kenne ein Dorf. Stadwilla liegt unweit von hier an einem gestauten Fluss. Fischer und Bauern leben dort. Ich werde dort auf euch warten.“ Neire lächelte jetzt freundlich und schob den Ring aus kostbarem Silber über den Finger von Ariold. Als er wieder sprach, drückte er nochmals den Degen enger und zischelte: „Und wir mögen keine Spielverderber, Mensch… Wisst ihr was mit ihnen passiert? Sie werden aussortiert und müssen auf ewig in den Eishöhlen hausen.“

Das Boot schaukelte im Wind. Es war bereits dunkel geworden. Dicke tiefliegende Wolken waren über ihnen und ließen das silberne Licht des Vollmondes nur erahnen. Trotzdem sah er die Klippen des Eilands aus dem Meer ragen. Die Insel des alten, erloschenen Vulkans war verboten für ihn. Der Tempel der Ehre herrschte dort und seiner Priester bedurfte es stets an neuen Rekruten, nicht aber an neugierigen Besuchern. Bregor fragte sich, worauf er sich eigentlich eingelassen hatte, als er das Werk des jungen Fremden betrachte. Die Seile waren verknotet und verheddert. Es war, wie er vermutet hatte. Nett reden konnten die Fremden, doch vom praktischen Handwerk verstanden sie anscheinend nichts. Nur Buchwissen… ansonsten warme Luft, dachte er sich. Das Boot drehte sich gerade in eine Welle und er musste schnell sein. Die beiden Fremden, die sich ihm als Bargh und Neire vorgestellt hatten, hatten ihn zudem dazu gedrängt in neue Gewässer zu fahren. Nahe der alten Vulkaninsel. Darauf hatte er sich eingelassen. Es würde sich jetzt zeigen, ob sie recht gehabt hatten. Doch er dachte auch an seine Familie. An die hungrigen Mäuler, die er zu stopfen hatte. Und er dachte an seine Frau. Vielleicht hatte sie heute wieder unnötige Sachen vom Markt gekauft. Im ersten Moment und in der Kälte des Windes spürte Bregor, dass ihn irgendetwas am Rücken kitzelte. Er wollte sich kratzen, doch wie gelähmt war er und ein Gefühl von Kälte breitete sich über seine gesamte Brust aus. Als er das Blut in seinem Mund schmeckte, merkte er, wie er langsam kopfüber ins Wasser fiel. Aus den Augenwinkeln konnte er die rote Maske einer Feuerschlange sehen, dann umschlang in das kühle Nass. Die letzten Gedanken waren bei seinen geliebten Fischen, die er Tag für Tag, Jahr für Jahr aus den Tiefen gezogen hatte. Doch wer würde seinen Körper hinaufziehen? In welchem Netz würde er landen? Als die Dunkelheit auf ihn zu kam, trat er ihr mit offenen Armen entgegen. War dort der Schimmer eines glühenden Funkens zu sehen oder war es das große Nichts, dass sich für ihn eröffnete? Langsam erstickten seine Bewegungen und sein Sinn, als er in die Tiefe sank. Alles um ihn herum war wie roter, dunkler Samt. So weich und warm.

Bargh hatte die Ruder übernommen und stemmte sich gegen die Wellen. Der Wind war gleichbleibend stark geblieben und die Wogen trugen Schaumkronen. Neire reinigte den Stahl seines Degens vom dunklen Blut des Fischers. Sie beide blickten immer wieder in die Dunkelheit. Dort lag sie, die verhasste Insel. Schwarze Felswände ragten hinauf in den Nachthimmel und verschwanden in den unruhigen Wolken. An den Ufern konnten sie hier und dort einen dichten Wald erkennen. Auch waren Strände sichtbar, deren hellerer Sand matt in der Düsternis glänzte. Als das Boot mit einem Knirschen auf den Untergrund lief, sprang Neire als erster in das Wasser hinab. Bargh folgte ihm auf das Eiland. Sie wussten, dass es jetzt kein Zurück mehr geben würde. Sie hatten sich lange vorbereitet. Und doch mussten sie das Boot verstecken, beten und für eine paar Stunden Schlaf finden. Im Dunkel des Morgens wollten sie angreifen. Tief in ihrem Inneren wussten sie, dass Jiarlirae mit ihnen war.


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Sitzung 44 - Der Tempel der Ehre
« Antwort #45 am: 11.12.2022 | 15:17 »
Das leiste Rauschen der Brandung war zu hören. Die Geräusche kamen von dort, wo der silberne Mond sich in den dunklen Wellen brach. Bargh und Neire waren bereits einige Zeit unterwegs. Sie hatten die Insel im Schatten des Waldes durchquert. Keine Geräusche von Tieren waren dort zu hören gewesen – nur das Zirpen von einigen Grillen und das Summen von Insekten. Während ihrer Wanderung hatten sie immer wieder nach Spuren oder Besonderheiten Ausschau gehalten, die die dunklen Felswände ihnen offenbaren könnten. Doch sie hatten nichts finden können. So war die Nacht, nach ihrer kurzen Ruhe und dem darauffolgenden Fußmarsch, fortgeschritten. Eine kühlere Luft strömte von den schroff aufragenden Felshängen aus dunklem Gestein und mischte sich mit dem Algen- und Salzgeruch des Meeres. Sie waren an eine Stelle gelangt, an der Waldboden und Bäume dem spröden Felsgestein wichen. Vorsichtig erklommen sie den kleinen Grad, der zur Rechten hinab ins Meer und zur Linken hinauf in die Dunkelheit der Wand führte. Es eröffnete sich ihnen der Blick in ein steiles Tal, das die Felswand durchschnitt. Im Mondlicht konnten sie das Innere des Vulkankraters aufragen sehen, in das das Tal sich zog. Am Meeresufer war ein Steg zu erkennen an dem einige kleine Boote lagen. In die Aushöhlung des Berges führte eine Art Pfad. Wie über Jahrzehnte oder Jahrhunderte ausgetrampelt und glattgeschliffen, sah der Weg aus. Er führte in den inneren Bereich des Kraters. In einen Bereich, in den die Felswände ihnen den Blick versperrten.

Neire zog sich langsam an der Außenmauer des dunklen Turmes hoch. Er war in das Innere des Kraters vorgedrungen. Auf dem Weg hatte er eine Reihe von alten schwarzen Steinstatuen passiert. Krieger, die sich auf jeder Seite des Weges gegenüberstanden und ihre Schwerter kreuzten. Der innere Bereich des erloschenen Kessels war von einer Anordnung von Ruinen übersäht, die um das Gebäude des Tempels aufragten. Bei diesen Ruinen hatte es sich um grobe Bauten gehandelt. Steinplatten, die über Aushöhlungen im Boden aufgeschichtet wurden. Das Tempelgebäude hatte einen anderen Baustil gehabt. Eine breite Wehrmauer war um einen inneren Turm errichtet. Treppen führten auf diese Mauer hinauf und von dem oberen Ring als kleine Brücken zum inneren Turm. Als Neire vorsichtig die Treppe zur Mauer erklommen hatte, konnte er von der inneren Wand der Wehrmauer Licht aus Schießscharten hervordringen sehen. Es schien sich also um eine Wohnmauer zu handeln. Dann hatte er sich entschieden den Turm zu erklimmen, der über ihm aufragte. Er mied das große Eingangportal und blickte sich nochmals um. Doch von den beiden Wachen, die er auf einer Patrouille gesehen hatte, fehlte jeder Spur. Das Erklimmen der Steine war nicht leicht. Der Stein war kalt geworden, in der fortgeschrittenen Nacht. Er musste in den kleinen Ritzen der Blöcke Halt finden. Doch gekonnt zog er sich höher und höher. Schließlich schlang er den Arm über die Kante und zog sich hinauf. Nur der blanke Stein war hier oben zu sehen. Er dachte an Bargh, der am Ufer zurückgeblieben war und kauerte sich nieder. Immer wieder ließ er seinen Blick über den Kessel und in Richtung Dreistadt schweifen. Aus der Richtung der Stadt konnte er das Licht des verbliebenen Leuchtturmes erkennen. Ein Gedanke reifte in ihm heran. Vielleicht sollte er hier oben bleiben. Es gab keinen Aufgang und auch bei Tag würde ihn keiner hier sehen. Nur Bargh müsste am Strand warten. Neire ging für einen Moment in sich und versank in völliger Starre. Da hörte er die gedämpften Stimmen vom Stein unter ihm. Die erste klang unruhig und besorgt. „Ich mache mir Gedanken. Wir sind nicht gut geschützt. Die Mauern sind nicht bewacht.“ Die zweite Stimme antwortete unmittelbar. Zwar etwas entfernter und gedämpfter, doch Neire konnte die Worte gut verstehen. „Fürchtet euch nicht. Unser Fürst wird heute über uns wachen. Und morgen werden sie aus Dreistadt zurückgekehrt sein.“ In diesem Moment begann Neires Herz höher zu schlagen. Er wusste, dass dies ein Zeichen von Jiarlirae war. Die Gunst seiner Göttin war mit ihnen. Er begann sich über die Mauer zu beugen und starrte in den schwarzen Abgrund. Langsam suchte er nach Halt und ließ sich in die Tiefe hinab.

„Wir müssen handeln Bargh. Noch diese Nacht und im Schutze der Dunkelheit.“ Bargh blickte in das junge Gesicht, das von gold-blonden Locken umrahmt war. Sonst war nichts von Neire zu erkennen. Augenblicklich griff er nach seiner Maske und spürte das Adrenalin sich in seinem Körper ausbreiten. „Nein, wartet Bargh. Wir müssen zuerst die Substanz zu uns nehmen. Reicht mir den Weinschlauch.“ Bargh zog den Rucksack von seinen Schultern und brachte das lederne Reservoir zum Vorschein, in das sie den Wein gefüllt hatten. Neire nahm ihn entgegen. Sein Mitstreiter hatte die kleine Viole mit der dunklen Substanz bereits geöffnet und nahm einen Schluck von dem zähen Pilzextrakt. Dann spülte er diesen mit einem Schluck Wein hinunter. Bargh tat es Neire danach gleich. Nachdem sie ihre Masken angelegt hatten, brachen sie auf. Neire hatte ihm zuvor berichtet, dass er die Wachen belauscht hatte, die im Außenbereich auf Patrouille waren. Es stand wohl ein Wachwechsel bevor und die Zeit war jetzt günstig. Je näher sie dem Inneren des Kraters kamen, desto stärker spürten sie die Wirkung des Suds. Das Mondlicht schien intensiver zu werden. Fast wohltuend und betäubend blendend. Das Schwarz der Dunkelheit nahm hier und dort Töne von dunklem Violett an. Es war, als könnte er diese Farben hören. Bargh hatte sein Schwert gezogen und schaute immer wieder auf das silberne Licht, das sich in der Klinge spiegelte. Sie umrundeten vorsichtig die Wehrmauer und erklommen eine Treppe. Aus dem Innenhof des Tempels waren jetzt Befehle zu hören. Ab und an durchdrang das Surren eines Pfeils die Nacht. Anscheinend trainieren sie in diesen frühen Morgenstunden, dachte sich Bargh und blieb weiter hinter Neire, der die Wehrmauer auskundschaftete. Neire öffnete leise eine Falltür, unter der eine Wendeltreppe in das Innere der Mauer hinabführte. So verschwanden sie aus dem Mondschein in das Fackellicht, das sie von unten sehen konnten. Der Raum, der sich vor Bargh auftat, war groß und hatte die Krümmung der Wehrmauer. Fackeln brannten an den Wänden und hölzerne Übungspuppen für den Schwertkampf waren hier zu sehen. Bargh sah Neire nicht mehr, doch hörte dann ein Flüstern. „Bargh ich werde in diese Richtung gehen. Folgt mir und lasst euch etwas Zeit.“ Bargh nickte und betrachtete die bogenförmige Öffnung, die in den nächsten Raum führte. Nach einer kurzen Weile folgte er Neire. Im nächsten Raum sah Bargh bereits Neires Werk. Eine Gestalt in einem grünen Umhang lag vor einer Werkbank in einer großen Lache von Blut. Sie umklammerte immer noch das Schwert und den Hammer, mit dem sie wohl gearbeitet hatte. Bargh beachtete die ältere Wache nicht weiter und schritt langsam vorwärts. Der darauffolgende Raum war eine Art Waffenkammer. Hier waren keine Spuren des Kampfes zu sehen. Als Bargh den Raum fast durchquert hatte, hörte er ein Aufächzen aus dem nächsten Raum hinter dem Durchgang. Es folgten hastige Schritte. Er wusste, dass er handeln musste. Er begann in Richtung des Raumes zu stürmen. Keinen Moment zu spät. Hinter einer Ansammlung von Tischen sah er einen Leichnam einer Wache liegen. Doch eine weitere Wache zog gerade ihr Schwert. Noch bevor Bargh mit dem Krieger des Tempels der Ehre zusammenstieß, fing die Wache an zu schreien. „Alarm, Alarm. Eindringlinge.“ Einen Augenblick später krachte er mit dem Krieger zusammen. Ein brutaler Kampf entbrach, auf Leben und Tod. Weitere drei Angreifer des Tempels der Ehre drangen nur wenig später aus dem Außenbereich in das Gemach herein. Sie mischten sich in das Getümmel. Irgendwo musste Neire hier doch sein, dachte Bargh, als er sich unter den ersten Schwerthieben hinwegduckte. Dann sah er den tanzenden Degen aus den Schatten zustechen. Der Fackelschein war so intensiv, das Blut so rot. Er spürte kaum den Schnitt des Kurzschwertes, das in seine Hüfte biss. Bargh hackte und stach. Seine Angriffe drangen durch die Rüstungen seiner Feinde. Ein Widersacher nach dem anderen fiel. Bis da nur noch die Farben und deren Eigentöne waren. Eine Kammer gefüllt mit Fackelschein, Leichen und rotem Blut – eine Epitome der aufsteigenden Dunkelheit.

Neire schlich über die Brücke auf den schwarzen Turm zu. Er hatte zuvor sichergestellt, dass auch alle Diener des Tempels der Ehre tot waren. Bei einem der Gegner, gegen die sie im Gemach in der Wehrmauer gekämpft hatten, war das nicht der Fall gewesen. So hatte er sich hinabgebeugt und ihm langsam seinen Degen durch die Brust gestoßen. Er wusste nicht wieso, doch er hatte bei dem jugendlichen Gesicht mit den blonden Haaren an Halbohr denken müssen. Ihr einstiger Mitstreiter, sein persönlicher Beschützer, war jetzt schon länger nicht mehr aufgetaucht. Neire hatte auch einen kurzen Moment darüber nachgedacht, Halbohr eines der Ohren des Wächters mitzubringen. Doch schließlich hatte er den Gedanken verworfen. Nun graute langsam der Morgen über der Insel und der fast wolkenlose Himmel schimmerte in einem grünlich-blauen Licht. Der Mond war bereits untergegangen und hier und dort schimmerten noch ein paar hellere Sterne. Neire betrachtete das doppelflügelige Portal des schwarzen Turmes. Beide Türhälften teilten das Symbol von Torm. Zitternd begann Neire die Türe leise zu öffnen. Er wusste, dass Bargh handeln würde, sollte ihm etwas zustoßen. Die Türe begann sich zu bewegen, doch sie schwang nur langsam auf. Im Inneren des Turmes konnte er eine hohe Halle erkennen, die wohl den gesamten Turm auf Breite und Höhe erfüllte. Der Geruch von Weihrauch und Myrrhe strömten ihm entgegen. In der Mitte befand sich ein Zylinder aus schwarzem Stahl, der vielleicht über etwas mehr als die Hälfte der Höhe aufragte. In einem Kreis um die Wände des Saales waren Statuen von dunklen Steinkriegern zu sehen, die in Richtung des schwarzen Zylinders blickten. Vier Treppen aus Metall führten spiralförmig in die Höhe, um auf der oberen Plattform des schwarzen Zylinders zu enden. Alle Treppen waren von Ketten getragen, die in der Höhe, des von Fackelschein erhellten Raumes, verschwanden. Doch auch Bewegung konnte Neire ausmachen. Zwei Gestalten verharrten dort in regloser, fast meditierend-andächtiger Pose. Einer der beiden Ritter hatte sich auf Bodenhöhe vor dem schwarzen Zylinder postiert. Er trug ein großes Schwert, dass er ähnlich der Haltung der Statuen, beidhändig vor sich hielt. Der Ritter war in eine strahlende Rüstung gekleidet und hatte einen Umhang von heller violetter Farbe. Sein kahler Schädel offenbarte ein grobschlächtiges Gesicht mit langen Narben an beiden Wangen. Die zweite Gestalt war nur schemenhaft zu erkennen. Ein weiterer Ritter eines vielleicht religiöseren Ranges? Er befand sich auf dem Zylinder zwischen einer Reihe von Stehpulten. Auch er trug einen Harnisch aus Stahlplatten, doch die Farbe seines Umhangs schimmerte in einem Violett. Neire konnte zudem erkennen, dass dieser Wächter des Tempels der Ehre buschige Augenbrauen und einen Bart hatte. Er trug einen Kriegshammer, den er auch in der Pose der Steinstatuen vor sich hielt. Schon dachte Neire nicht erkannt worden zu sein, da erhob die weiter obenstehende Gestalt ihre Stimme:
Ich sehe euch nicht Eindringlinge. Aber ich weiß, dass ihr hier seid. Ihr seid es, die uns viele Sorgen bereitet habt in Dreistadt. Ich kann euch sagen, dass ihr vom Himmelreich unseres Herrn weit entfernt seid. Es wird euch nicht die Erlösung zuteilwerden, die den getreuen Dienern unseres ewigen Fürsten zuteilwurde. Diese ehrenvollen Diener, die ihr in Dreistadt feige niedergeschlachtet habt. Zeigt euch und wir werden euch ein ehrenvolles Ende bereiten.
Neire betrachtete in diesem Moment die Fackeln, die im Luftzug zu Flackern begannen. Da konnte er es sehen. In Schatten und Feuer waren die Runen zu erkennen. Er spürte den Atem seiner Göttin und wusste, dass das Feuer zurückgekehrt war. Er lauschte den Tönen der Runen, der Musik von Flamme und Düsternis. Für einen Moment führte ihn die Erinnerung zurück ins Innere Auge von Nebelheim. Zu den prachtvollsten Festen und dem großen Maskenball. Plötzlich war da das Murmeln von Stimmen und Musik in seinem Kopf, das anschwoll zu einer Kakophonie, zu einem Rauschen und Zischen, das dann eins wurde mit dem Wasser des Eises, das aus der Dunkelheit durch die große Öffnung in die Flammen des Auges tropfte. Langsam verdrängte er die Gedanken. Die Reminiszenz an die Atmosphäre damaliger Tage, geschwängert von Neugier und Lust, von berauschtem Glück und einer vernebelten Traurigkeit, von schattenhafter Niedertracht und lodernder Gier. Vorsichtig schlich er Schritt für Schritt zurück zu seinem Kameraden Bargh, der dort in der Dunkelheit des grauenden Morgens lauerte.

Offline Jenseher

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Sitzung 45 - Die Eroberung des Tempels der Ehre
« Antwort #46 am: 17.12.2022 | 17:51 »
Im Licht des grauenden Morgens hatten Bargh und Neire ihre Blicke auf den Turm gerichtet. Vor dem grün-bläulich schimmernden Horizont ragte das schwarze, zylindrische Konstrukt monströs auf. Hinter der gewölbten Steinbrücke konnten sie die geöffnete Türe sehen. Fackellicht drang aus dem Inneren hervor. Auch aus dieser Entfernung konnten sie im sanften Wind des kühlen Morgens den Geruch von Weihrauch vernehmen, der aus dem Inneren des Turmes entwich. Das Zirpen der Grillen war hier völlig verstummt und eine unheimliche Stille lag über allem. Die Gebete, die Neire begann zu singen, klangen zuerst schwach und fragil. Doch mit jedem Wort, mit jeder Silbe, schwoll die Macht der fremden Formeln an. Der Gesang war von einer schlangenhaften Sprache, zischend und mit unmenschlicher Intonation. Als Neire die Hervorrufung beendet hatte, nickte er Bargh zu. Es war an der Zeit zu handeln und sich den Führern des Ordens im Kampf zu stellen. Neire sprach leise zu Bargh, bevor er losging. „Bargh, bleibt zurück und lauert hinter dem geschlossenen Türflügel. Sobald einer von ihnen die Flucht ergreift, schlagt zu.“ Bargh nickte. Er ahnte, dass Neire bereits einen Plan hatte.

Neire schlich Schritt für Schritt auf die geöffnete Türe hinzu. Er musste sich zusammenreißen und verwendete all die ihm zu Verfügung stehende Kraft, um seine Angst zu überwinden. Sein Herz raste. Das Flackern der Fackeln, die er im Inneren sah, kam ihm so intensiv vor. Als wären sie von einem Leben erfüllt, als würde seine Schwertherrscherin ihm zuflüstern. Als er durch die geöffnete Hälfe des Portals blickte, sah er die Gestalten dort verharren. Sie hatten beide die Augen geschlossen und hielten ihre Waffen vor sich, als ob sie in das Gebet eines Kriegers vertieft wären. Die Gestalt vor der Säule trug einen Panzer aus poliertem Stahl. Sie war muskulös, von haarlosem Kopf und grobschlächtigem Gesicht. Zwei Narben waren auf ihrer Wange zu sehen. Die zweite Gestalt konnte Neire nun besser erkennen. Der Priester stand hoch oben auf der Säule hinter einem Pult, auf dem ein großer aufgeschlagener Wälzer zu erkennen war. Auch er war geschützt durch einen glänzenden Panzer. Der Mann war älter, von dunklem Bart und buschigen Augenbrauen. Als Neire bereits einige Schritte in den Raum geschlichen war, erhob der glatzköpfige Krieger mit dem beidhändig getragenen Schwert erneut die Stimme. „Zeigt euch, Eindringliche. Wir können euch nicht sehen, doch wir wissen, dass ihr hier seid. Zeigt euch und findet euer ehrenvolles Ende im Kampf.“ Neire spürte die Wut und die Anspannung. Er sah jetzt die Runen im Feuer der Fackeln. Runen der Dunkelheit. Er musste handeln, es waren die Zeichen von Jiarlirae. Er begann augenblicklich seine linke Hand hervorzuziehen und konzentrierte sich auf das Feuer und die Schatten. Zuerst war die Flamme klein. Doch schnell wuchs das magmafarbene Licht, das auf seiner Handfläche, tanzend mit der Dunkelheit, brannte. Neire bemerkte zu seinem Erschrecken, dass der Krieger jetzt seine blauen Augen öffnete und in seine Richtung blickte. Er hob das Schwert und kam auf ihn zu. Neire versuchte seine Kräfte zu sammeln. Er wollte die schwarze Kunst seiner Göttin beschwören. Doch der Krieger war schneller. Von der oberen Plattform hörte Neire gerade den anschwellenden Gesang von Gebeten, als der Diener des Torm ihn angriff. Einem ersten Hieb konnte er noch ausweichen, dann schlug das Schwert ihm in die Seite. Das dunkelelfische Kettenhemd hielt zwar ein tieferes Eindringen ab, doch die Glieder wurden weit in sein Fleisch getrieben. Die Luft blieb ihm weg und er wollte wegrennen. Und doch musste er kämpfen; er musste sich konzentrieren. Die Macht, die Neire durch die kleine, gebrechliche Flamme beschwor, war gewaltig. Magisches Feuer schoss plötzlich aus dem gesamten Boden des Turmes hervor und hüllte den Krieger und ihn ein. Alles um ihn herum, auch die steinernen Statuen der schwerthaltenden Krieger, verschwanden im rötlichen Glühen. Der Angreifer vor Neire schrie, als sein Fleisch begann zu kochen, seine Rüstung begann zu glühen. Doch Neires Widersacher dachte nicht an eine Flucht. Er biss die Zähne zusammen und kämpfte ehrenvoll weiter. Auch als seine Rüstung sich bereits begann aufzulösen. Nieten platzten ab durch die Hitze und der Panzer brach hier und dort auseinander. Neire konzentrierte sich, um dem nächsten Angriff auszuweichen. Er spürte die Hitze um ihn herum. Doch als Kind der Flamme, als wahrer Diener seiner Göttin, konnte ihm das Höllenfeuer nichts anhaben. Er wollte gerade eine weitere Macht hervorrufen, als der Krieger vor ihm von den Flammen verzehrt wurde. Mit einem erstickenden Todesschrei fiel der, von grauenvollen Brandwunden geschändete, Leib zu Boden. Aufgrund der Hitze begannen sich augenblicklich seine Muskeln zu versteifen. Jetzt richtete Neire seinen Blick nach oben. Er sah den Priester dort zurücktreten. Doch die Flammen der Feuerwand reichten nicht so weit hinauf. Neire beschwor drei Bälle aus glühendem Magma, die er in Richtung des Priesters warf. Sie zogen funkensprühende Spuren, als sie aus dem Feuer der Flammenwand heraustraten. Alle drei Geschosse fanden ihr Ziel. Neire hörte von oben den Todesschrei, als der zweite Widersacher in seinem Feuer starb. Ein Gefühl von Glück durchfuhr Neire. Er ließ die Flammen der magischen Hitzewand langsam erlöschen. Der Nachhall des Feuers blendete ihn einen Moment. Die Farben hatten sich in seinem Rauschzustand tief in seinen Geist gebrannt; er hörte ihre fremden, schrillen Töne. Fast wie aus einem Traum erweckt schreckte er auf, als er Bargh neben sich sah. Sein Gefährte hob das Schwert und begann den Kopf des verbrannten Kriegers abzuhacken. Bargh sprach dabei spottend die Worte. „Ha… ja! Damit habt ihr nicht gerechnet. Zeigt euch, Eindringlinge, hahaha… zeigt euch, damit wir euch ein Ende bereiten können. Hahaha… hier habt ihr euer Ende.“ Dann trat Bargh mit seinen Stiefeln gegen den Kopf, so dass dieser durch die, jetzt mit Ruß bedeckte, Halle des Turmes rollte. Neire zog die Kapuze zurück und lächelt Bargh zu. Er deutete auf eine der metallenen Treppen, die von Ketten getragen, auf die Plattform der mittigen Säule führte. „Bargh, durchsucht den Leichnam. Ich werde nach dem zweiten Priester schauen.“

Er wusste nicht, wie tief er hier hinabgestiegen war. Vielleicht befand sich der Tunnel unter dem Meeresspiegel. In weiten Abständen erhellten Feuerschalen die Gänge, die aus einem älteren Gestein als der obere Turm erbaut waren. Zuvor waren sie beide auf das Podest gelangt. Bargh hatte dort den zweiten Leichnam spottend geschändet, in dem er mit seinen schweren Stiefeln den Kopf zertreten hatte. Sie hatten dann auf dem Podest einen geheimen Mechanismus entdeckt, der eine Falltür offenbart hatte. In der Säule hatte sie ein Schacht in die Tiefe geführt – über steinerne Sprossen, die aus den Wänden herausragten. Am unteren Ende des Schachtes war eine steinerne Halle zu sehen gewesen, in die eine Strickleiter hinabführte. Neire hatte gehorcht und irgendwo aus einem Tunnel Schritte und aus einem weiteren Tunnel ein schwaches Wimmern gehört. Er hatte sich entschieden, in Richtung der Schritte zu schleichen. So hatte er sich im Schutze seines Mantels den Geräuschen genähert. Jetzt sah er zwei Wachen, die sich dem Ende des Tunnels näherten, um dort eine Tür zu überprüfen. Als sich eine der beiden Gestalten über das Schloss beugte, war Neire in den Rücken der anderen vorgedrungen und sah seine Chance. Er trat hervor und rammte der Wache den Degen in den Rücken. Augenblicklich begann der Giftextrakt des bunten Vierlings zu wirken. Die Adern des Wächters verfärbten sich dunkel und dieser brach zusammen. Einen kurzen Moment später war Neire bei der anderen Gestalt und stach mehrfach zu. Durch die Morde der letzten Tage hatte Neire an Sicherheit und Erfahrenheit im Kampf gewonnen. Auch jetzt fand sein Degen das Ziel und er tötete die zweite Gestalt mit mehreren Stichen. Unter den Ordensmänteln beider Leichname breitete sich eine Lache von Blut aus.

Bargh kniete sich nieder. Tief waren die Schnitte der Schwerter, die seinen Körper verwundet hatten. Wie von einer geisterhaften Kraft geführt, hatten die animierten Rüstungen angegriffen. Ihre Schläge waren präzise geplant, von einer tödlichen Wucht, gewesen. Beide Gestalten hatten ihn angegriffen. Neire war zu diesem Zeitpunkt nicht zu sehen gewesen – verborgen durch seinen Schattenmantel. Doch Bargh hatte seine Anwesenheit, seine Macht gespürt. Gemeinsam hatten sie schließlich die bewegten Rüstungen besiegt. Noch bevor sie in den Raum eingedrungen waren, hatte Neire die Schutzmagie, die er in diesem tiefen Kerkerraum entdeckt hatte, gebannt. Die Kraft Jiarliraes war stark gewesen und so konnten sie unbehelligt in das Gewölbe vordringen. Jetzt kniete Bargh nieder. Neire hatte ihm geholfen, Verbände über seine Wunden zu legen. So hatten sie die größten Blutungen gestoppt. Neire murmelte Worte eines Chorals, in der Sprache von Nebelheim. Er legte Bargh seine schwärzlich verbrannte Hand auf die Wunde. Das Gefühl eines wohltuenden Brennens verbreitete sich in seinem Körper. Bargh spürte, dass die heilende Magie der Göttin seine Wunden schloss. Bevor er sich aufrichtete, dachte er einen Moment zurück. Sie hatten eine nicht geringe Zahl von Räumen und Gängen abgesucht, bevor sie diese unterirdische Halle gefunden hatten. Sie hatten unter anderem einen Raum mit Schatztruhen und ein Gemach mit Aufzeichnungen gefunden. Gegenstände waren wie eine Art Handelsregister aufgelistet gewesen. Neben der Münze von Tymora, hatten sie weitere Einträge gefunden. Über einen Kristall, das Feuer von Sune, waren Notizen vermerkt. In einem weiteren Verließ, dass von Eisengittern versperrt war, hatten sie Fässer entdeckt. Nachdem Neire das Schloss geöffnet hatte, waren die Fässer von ihnen untersucht worden. Der beißende Geruch hatte Neire an eine alte Geschichte erinnert. Eine alte Schlachtenbeschreibung war ihm eingefallen, in der ein Bollwerk mit Hilfe einer solchen Substanz gesprengt wurde. Nur noch eine weitere Wache hatten sie hier unten angetroffen, die von Neire hinterrücks erstochen wurde. Jetzt, nachdem er sich langsam aufgerichtet hatte, ging sein Blick zu dem kleinen Tunnel, der den einzigen Ausgang aus diesem Raum darstellte. Bargh hörte die flüsternde Stimme von Neire und konnte für einen kurzen Moment einen Schatten feststellen, der in Richtung des Tunnels huschte. „Folgt mir… lasst uns schauen, was dieser Raum bewachen und verbergen sollte.“ Bargh nahm sein Schwert auf, rückte seine Gesichtsmaske zurecht und folgte Neire. Der Gang führte ihn zuerst in die Dunkelheit. Doch nach einiger Zeit waren vereinsamte Lichtpunkte von Feuerschalen zu sehen. Im Gegensatz zu dem seltsamen, kalten Ölfeuer, auf das sie schon im Leuchtturm gestoßen waren, ging von den Flammen dieser Schalen eine intensive Hitze aus. Dann öffnete sich der Gang in eine halbkreisförmige Höhle. Die gegenüberliegende Wand war von schroffem Felsgestein. Gleißende Lichter aus Feuerschalen hüllten die steinerne Halle in punktuelle Lichtkegel. An Stellen, wo sich keine Schalen befanden, waberten dicke Schatten. Irgendetwas hörte Bargh aus der Höhle. Wie ein zischelnder Chor von Stimmen, die nach ihm riefen. Dann sah er es dort liegen. Eine feine Klinge, ein schwarzes Schwert. Die Stimmen hörte er von dort Raunen. Bargh ging langsam auf das Schwert zu. Die Klinge besaß eine Blutrinne, in Form einer dicken Ader. Durch den schwarzen Stahl konnte er kleine Verästelungen sehen, als ob sich diese Ader auffächerte. Dieses Geflecht endete an der Schneide. Bei genauerer Betrachtung sah es so aus, als ob dort irgendeine Flüssigkeit zum Vorschein kommen würde, die sich dann augenblicklich in Rauch auflösen würde. Als er nach dem Schwert hinabbeugte, bemerkte er die glatte Parierstange und das gerade, schwarze Griffstück. Beide wie aus einem Guss geformt. Am Ende des Griffstücks war ein schwarzer Edelstein zu sehen, in dem er die Konturen eins dunklen Herzens vernahm. Bargh ergriff das Schwert und augenblicklich fuhr eine Welle von dunkler Macht durch seinen Körper. Es war, als ob das Schwert hier auf ihn gewartet hätte, als ob die Waffe als natürliche Erweiterung seines Armes zu ihm passen würde. Licht und Schatten flackerten um ihn herum. Jetzt hörte er das Raunen der Stimmen und den seltsamen Singsang zu Ehren seiner Göttin. Er kniete sich nieder und riss die Klinge über seinen Kopf. Der gerade Griff hatte sich tatsächlich den Konturen seiner Hand angepasst, als ob das Schwert sich durch ihn formen lassen könnte. Er wusste jetzt, dass seine Stunde als Krieger Jiarliraes gekommen war. Dann nahm er die Klinge hinab und betrachtete das Spiegelbild seiner Maske im Stahl. Leise zischelte er die Worte GLIMRINGSHERT. So würde er das Schwert nennen. Es trug den Atem von Jiarlirae und die Saat von Flamme und Düsternis – es war Glimringshert, das glühende Herz aus Schatten.

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Sitzung 46 - Feuer und Dunkelheit im Tempel der Ehre
« Antwort #47 am: 23.12.2022 | 22:45 »
Bargh hielt Glimringshert einhändig vor sich. Noch immer hörte er das Raunen und einen Singsang von der Klinge ausgehen. Nachdem sie das schwarze Schwert aus dem geheimen Bereich des Tempels geborgen hatten, waren Neire und er in den letzten Bereich des Verlieses vorgedrungen, den sie noch nicht erkundet hatten. Auf dem Weg durch die, in das graue Felsgestein gehauenen, Tunnel, hatte ihn Neire auf das leise Wimmern aufmerksam gemacht, das er aus dem noch unerforschten Bereich vernahm. Sie kamen gerade um die Ecke, als Bargh den Schein von Feuer erblickte. Fackeln erhellten einen sich nach links und rechts eröffnenden Raum, der nicht viel weiter in die Tiefe ging, als ein breiter Gang. Ein leichter Geruch von Fäkalien und Verwesung strömte Bargh entgegen. An der gegenüberliegenden Wand waren Zellen zu sehen, die von rostigen Gitterstäben versperrt waren. An der Wand der rechten Seite waren zudem ein verlassener Hocker und ein Tisch zu erkennen. Bargh sah, wie Neire sich den Mantel zurückzog; so kamen die gold-blonden, gelockten Haare seines jungen Begleiters zum Vorschein. Neire deutete mit ernster Miene zur linken Seite. Auch Bargh zog sich nun die Maske vom Schädel und schritt in Richtung des Wimmerns. Als seine schweren Schritte im Verließ widerhallten, verstummte das Wimmern abrupt. Sie kamen zu einer Zelle, in der eine kleine Gestalt in der Dunkelheit hockte. Bargh sah die junge Frau, fast noch ein Mädchen, die nun zu ihnen aufblickte. Sie trug ein verdrecktes Kleid, dünne Beinkleider und war barfuß. Der Geruch von Fäkalien und Verwesung war hier stärker. Als die junge Frau aufblickte, sah Bargh die Angst in ihren grünlich schimmernden Augen. Lange, feuerrote, leicht gelockte Haare fielen schwer auf ihre Schultern. Haare und Gesicht waren von einer Schicht von Dreck bedeckt, doch darunter konnte Bargh Schönheit erahnen. Neben einer urtümlichen Wildheit, stellte Bargh eine Angst in ihrem Blick fest. Für einen Moment ließ er seine Gedanken schweifen und das fremde Mädchen erschien verändert vor seinem inneren Auge. Sie trug eine goldene Krone, Edelsteine und Goldschmuck. Über der Krone brannte ein Feuer, um das Dunkelheit und Schatten tanzten. Geisterhaft umströmte nachtblaue Magie ihren schlanken Körper. Das Bild verschwand allerdings augenblicklich. Neire war an das Gitter herangetreten und begann zu sprechen. „Was macht ihr hier in dieser Zelle? Ist das ein Spiel, das ich nicht kenne? Habt ihr mit ihnen gespielt?“ Zuerst konnte Bargh eine Verwirrung in ihren Augen sehen. Doch dann lächelte sie ihn und Neire an. „Wer seid ihr? Ihr gehört nicht zu ihnen, oder? Ich meine die Wächter der Insel.“ Bargh lachte kurz auf und auch Neire stimmte ein. Das Mädchen wich wieder etwas vom Gitter zurück. „Nein, wir gehören nicht zu ihnen… auch wenn das nicht immer so war“, antwortete Bargh. Er bemerkte, dass die Gefangene ihm fasziniert lauschte. „Wir spielen ein anderes Spiel. Ein Spiel von Feuer von Schatten. Sagt, wollt ihr dieses Spiel mit uns spielen?“ Als Neire die Frage stellte, bemerkte Bargh eine Art Wildheit in ihren trotzigen Augen. Doch sie antwortete überhastet, freudig und in einem jugendlichen Übermut. „Ja, natürlich… ich werde mit euch spielen. Das Spiel von Feuer und Dunkelheit sagt ihr? Hmmm… ich habe bereits ein anderes Spiel gespielt. In Dreistadt. Es war das Spiel des Nehmens von anderen. Man durfte sich nur nicht erwischen lassen.“ Noch während sie sprach, begann Neire jetzt seinen Dietrich hervorzuziehen und das Schloss am Gitter zu öffnen. Als sein junger Begleiter das Gitter aufzog, sah Bargh das Mädchen hinaushasten. Der Geruch von Schweiß und Fäkalien kam ihm entgegen. Als die jetzt Freigelassene in Richtung des Tunnels lief, blickte sie sich um und sagte. „Kommt und folgt mir. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Bevor sie vielleicht zurückkommen.“ Bargh hörte Neire mit erzürnter, lauterer Stimme antworten. „Halt! Wir geben hier die Befehle. Und wir spielen das Spiel nach unseren Regeln. Kommt erst einmal zurück. Ihr seht aus, als könntet ihr einen Schluck Wein vertragen.“ Bargh sah, dass Neire ihm zunickte und er begann den Weinschlauch aus dem Rucksack hervorzukramen. Als er bemerkte, dass das Mädchen ihn dabei genau beobachtete, zwinkerte er ihr zu und fragte. „Wir haben euch noch nicht gefragt. Wie ist eigentlich euer Name?“ Er sah, dass sie ihn anlächelte und sprach. „Mein Name ist Zussa. Und ja, ich würde gerne einen Schluck Wein trinken.“ Neire trat an ihn heran und nahm ihm den Weinschlauch ab, während Zussa sich mit ihrer Zunge über die Lippen fuhr. „Nun Zussa.“ Sprach Neire und bewegte sich auf sie zu. „Mein Name ist Neire. Neire von Nebelheim. Ich bin ein Kind der Flamme und ein Diener der Schwertherrscherin, der Königin von Feuer und Dunkelheit, Jiarlirae, geheiligt möge ihr Name sein. Mein Begleiter hier ist mir wie ein Bruder. Er ist ein heiliger Krieger unserer Göttin, der Drachentöter und wandelte einst im Reich des Jenseits, nach seinem Tode ins Fegefeuer hinab. Er wurde von meiner Göttin errettet, ein Wunder… und nun schreitet Bargh, so sein Name, wieder unter den Lebenden.“ Bargh sah, dass Zussa an Neires Lippen hing, mit großen geöffneten Augen. Er hatte auch bemerkt, dass Neire etwas von dem Grausud aus dem Geheimfach seines Schlangendegens geholt hatte – kaum mehr ein kleiner Tropfen der Substanz, der auf der Kuppe seines Zeigefingers zu sehen war. Neire hielt Zussa den Finger hin, während er sprach. „Diese Substanz wird eure Stimmung heben und euren Geist für das Spiel öffnen. Nehmt sie zu euch und spült das Ganze mit ein paar Schlücken Wein herunter.“ Zussa wirkte zuerst etwas unruhig. Sie roch an Neires Finger, öffnete dann ihre Lippen und leckte mit ihrer Zunge über Neires Finger. Für Bargh machte diese Szene einen seltsamen Eindruck, hier, im Antlitz von Tod und Verwesung. Doch er ahnte schon, worauf Neire Zussa vorbereiten wollte. Er schwieg, während Zussa nach ein paar kräfigen Schlücken Wein an zu erzählen fing. Sie blickte ihn dabei an. „Bargh, auch ich habe Erfahrungen mit dem Feuer gemacht. Der Herr der Nachbarsfamilie hat sich einst über mich lustig gemacht. Über meine roten Haare. Ich war so wütend, dass ich ein Feuer hervorbeschworen habe. Seine Scheune ist abgebrannt. Mit einem seiner Schafe. Ich habe mich dabei auch selbst verletzt. Danach musste ich das Dorf verlassen, fliehen.“ Als ob Zussa ihre Worte unterstreichen wollte, hob sie ihre mit Brandnarben bedeckten Fingerkuppen. Immer noch starrte sie fasziniert auf seinen haarlosen Schädel – die Spuren des Feuers. „Seid ihr so hierhin gekommen? Weil ihr aus eurem Dorf fliehen musstet?“ Die Wut verschwand jetzt aus dem Gesicht von Zussa und eine Art Schwermut stellte sich ein. „Ja, so war es. Keiner konnte mir helfen. Nicht mal meine Eltern. Ich wurde als Hexe bezeichnet und so floh ich nach Dreistadt. Dort hatte ich nichts und musste auf den Straßen leben. Schließlich nahm ich mir einfach was ich brauchte. Ja, das war mein Spiel. Man durfte sich nur nicht erwischen lassen. Doch eines Tages haben sie mich erwischt und hierhin gebracht. Sie haben mich hinabgeworfen und in diese Zelle gesteckt.“ Jetzt war die Schwermut in ihren Augen wieder Wut und Trotz gewichen. Bargh bemerkte zudem, dass Neire, der den größten Teil des letzten Gesprächs ruhig beobachtet hatte, das Wort ergriff. „Zussa sagt, seid ihr eine große Kriegerin? Dort wo ich herkomme, gibt es die Kupfernen Krieger, eine Kaste von Rittern.“ Zussa schüttelte vehement den Kopf. „Kriegerin, nein. In meinem Dorf waren wir einfache Schafhirten. Ich habe nichts anderes gelernt. Doch das Feuer konnte ich beschwören. Fragt micht nicht, wie ich das damals geschafft habe, aber heute kann ich es sogar kontrollieren.“ Bargh sah, dass Neire das Interesse an Zussa verlor, während sie sprach. Er erinnerte sich, dass Neire einfache Menschen als niedere, wertlose Sklaven betrachtete. Lediglich mit dem letzten Satz zur Feuerbeschwörung konnte Zussa Neires Aufmerksamkeit wieder gewinnen. „Nun, wir sollten mit unserem Spiel beginnen. Hier habt ihr einige Pilze zur Stärkung. Folgt uns durch die Gänge.“ Neire reichte Zussa einen Beutel mit Pilzen, den sie hastig entgegen nahm. Noch während sie aufbrachen sah Bargh, dass Zussa die ersten Pilze bereits in ihren Mund befördert hatte und sie gierig verschlang.

Neire reichte Bargh den Weinschlauch. Er hatte bereits einen Tropfen Grausud zu sich genommen und von dem Wein getrunken. Jetzt sah er, dass Bargh es ihm gleich tun würde. Es dauerte nicht lange, dann setzte der Rausch ein. Alles schien verlangsamt und glitzernd, als ob jede Bewegung schimmernde Fäden ziehen würde. Wellen von wohlfühlendem Prickeln liefen duch Arme und Beine und wenn er seine Gliedmaßen verdrehte, verstärkte der Effekt sich für eine kurze Zeit. Auch Zussa hatte nach einer weiteren Kostprobe verlangt, doch Neire wusste, dass sie das Mädchen mit den Feuerkräften noch brauchen würden. Er wusste auch, dass eine zu hohe Dosis von Grausud eine narkotisierende Wirkung haben konnte. So hatten sie ihr die Substanz verweigert und sie hatte sich, ohne zu nörgeln, gefügt. Mehrere Schlücke hatte sie noch aus ihrem Weinschlauch genommen. Im Halbdunkel des Lochs von Felsplatten vor dem Tempel blickte Neire in die Richtung seiner beiden Mitstreiter. Auch Bargh legte die einsetzende Müdigkeit ab. Grausud konnte Wunder bewirken, wenn es um lange Phasen von Wachheit ging. Dennoch sahen beide, Bargh und Zussa, mitgenommen aus. Sie hatten eine lange anstrengende Arbeit hinter sich. Zuerst hatten sie die Fässer mit dem beißend riechendem Inhalt von der Kammer zum Schacht getragen. Dann hatten sie zwei Seile aneinander geknotet. An ein Seilende hatten sie jeweils mehrere Fässer befestigt, die Bargh dann hinaufgetragen hatte. Neire hatte sie dann auf der oberen Plattform entgegengenommen und hinabgetragen. Schließlich hatten sie die Fässer aufeinandergestapelt, eines davon geöffnet und mit Stoff bedeckt. Aus den Vorratsräumen der Außenmauer hatten sie zudem Lampenöl herangetragen, mit dem sie den Stoff getränkt hatten. Dann hatte Zussa den Einfall gehabt eine Bahn von Stoff hinauszulegen, die sie dann auch mit Lampenöl getränkt hatten. Ihre letzte Vereinbarung war wie folgt getroffen worden. Sollten die verbleibenden Wachen aus Dreistadt eintreffen, würden sie warten bis diese in den Turm hineinschritten. Dann sollte Zussa handeln und mit ihrem Feuer die Fässer entzünden. Neire verfiel wieder in Gedanken und trank am Weinschlauch. Er spürte, dass ihn das Feuer und die Schatten verlassen hatten. Er hatte Bargh das nicht wissen lassen und er ließ es sich auch nicht anmerken. Er wusste, dass er jetzt der schwarzen Kunst nachgehen musste. Es waren die letzten Geheimnisse, die er so erlernen konnte und die ihn hoffentlich zum größeren Verborgenen führen würden. Immer wieder blickte in Richtung von Bargh und Zussa, die sich leise unterhielten. Es störte ihn, dass die beiden wohl Gefallen aneinander gefunden hatten; dass nicht er im Mittelpunkt stand. Sie ist nicht Lyriell. Sie ist keine Kupferne Kriegerin. Sie ist eine niedere Sklavin und sie stammt von Schafszüchtern ab. Es wird sich schon noch zeigen, ob sie es wert ist. Ob Jialiraes Gunst ihr zurteil werden kann. Mit diesen Gedanken verbrachte Neire einige weitere Zeit, bis er die Schritte hörte. Es musste wohl noch Vormittag sein, denn die Sonne stand noch nicht in ihrem Zenit. Er konnte drei Stiefelpaare hören, die sich beharrlich näherten. Auch Bargh und Zussa waren jetzt aufmerksam und hatten sich vorsichtig erhoben. Sie hielten sich hinter den natürlichen Felswänden, so dass sie hier nicht entdeckt werden konnten. Jetzt sahen sie die drei Wachen in ihren Sichtbereich schreiten. Sie steuerten auf eine der Steintreppen zu, die sie auf den äußeren Ring führten. Zwei junge Burschen. Der eine muskulös, der andere kräftig gebaut. Sie hatten grüne Mäntel. Der Anführer war älter und trug einen blauen Mantel. Vorsichtig schlichen sie sich die Treppe hinauf. Als sie aus ihrem Sichtbereich verschwanden, flüsterte Neire. „Jetzt Zussa, folgt mir, vorsichtig.“ Zussa zögerte einen Moment, Furcht war in ihren Augen. Doch dann gab sie sich einen Ruck. Sie folgte Neire leise und behende in Richtung der Treppe, die sie beide erklommen. Vom Ende der Treppe konnten sie über die gewölbte Brücke in den Turm sehen. Alle doppelflügeligen Portale standen jetzt sperrangelweit offen. Die Wachen waren gerade dabei in das Innere des Turmes vorzudringen. Einen kurzen Moment zögerten sie, als der Anführer auf das Lampenöl getränkte Band zeigte. „Was ist das? Was ist hier passiert? Verteilt euch und bringt mir eure Lageberichte.“ Neire sah wie die beiden jüngeren sich verteilten. Er musste innerlich lachen. Auch in dieser Situation hielten sie sich stur und stupide an ihre Befehle. Für weitere Gedanken reichte es bei diesen niederen Sklaven anscheind nicht. Als der Anführer vor den Fässern stand, murmelte Neire zu Zussa: „Jetzt Zussa, beschwört euer Feuer. Nehmt Rache an diesen Bastarden, deren schwache Seelen wir Jiarlirae weihen.“ Zussa, am ganzen Körper zitternd, sprang auf, ging wenige Schritte nach vorne und beschwor das Feuer. Für einen kurzen Moment wurden ihre Augen schwarz. Dann konnte Neire von dort ein Glühen erkennen. Sie schleuderte mehrere Feuerkugeln, die sich über dem Inneren des Turmes herabsenkten. Augenblicklich entzündete sich das Lämpenöl und einen Sekundenbruchteil später das Faß. Dann spürten sie die Druckwelle, die sie von den Stufen schleuderte. In ihren Ohren war ein Fiepen und eine Stichflamme von Feuer raste über sie hinweg. Als sich Neire langsam aufrichtete kam ihm die infernalische Hitzewelle entgegen. Er sah den Turm dort, als weißlich glühende Feuersäule. Als ob die schwarzen Steine selbst Feuer gefangen hätten. In das Fiepen in seinem Ohr drangen auch andere Geräusche. Das dunkle Krachen von brechendem Stein. Tatsächlich begannen die rot glühenden Steine langsam in sich zusammenzustürzen. Neben ihm waren jetzt auch Bargh und Zussa aufgetaucht. Zussa starrte in ihrem Rausch gebannt in die brennenden Flammen. So standen sie dort einige Zeit und beobachteten schweigend. Dann fing Neire an zu singen und zu tanzen. „Lasst und feiern, lasst uns tanzen, in der ewigen Nacht ohne Morgen. Preiset die schwarze Natter als Abbild unserer Göttin, deren Name Jiarlirae ist. Weinet nicht um die verglimmenden Feuer, weinet nicht um die erlischende Glut, die Glut von Nebelheim. Denn Dunkelheit birgt ihre Ankunft, Schatten ist das Licht unserer Göttin und Flammen der Morgen ihrer Heiligkeit.“ Er nahm zuerst Zussa und tanze mit ihr, doch sie wollte nicht richtig. Dann wendete er sich Bargh zu. So tanzten sie im Antlitz des Feuers. Sie tranken den Wein und feierten in der Nacht ohne Morgen; unter der brennenden Fackel der Ruine von Torm. Neire sprach den Reim der Königin von Feuer und Düsternis. Neire sang vom aufsteigenden Chaos des Abgrundes; das brodelnde Magma flüssigen Gesteins schimmerte in ihren dunklen Augen.

Das Boot nahm langsam Fahrt auf. Zussa war bereits in einen Schlaf verfallen. Sie alle hatten sich kaum noch auf den Beinen halten können. Sie konnten die ferne Küste sehen. Hinter ihnen stieg Rauch aus dem Vulkan. Neire sah Bargh eindringlich an, bevor er sprach. „Wir fahren nach Stadwilla. Dann müsst ihr nach Norden reiten. Nehmt Zussa mit euch. Jialirae hat eine andere Aufgabe für mich geplant; ich habe es in meinen Träumen gesehen. Hört genau zu, denn ich habe euer Schicksal gesehen…“ Bargh nickte trunken und der Jüngling mit den gold-blonden Locken fuhr lächend fort.

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Sitzung 47 - Der Weg nach Wiesenbrück
« Antwort #48 am: 29.12.2022 | 17:31 »
Es sind inzwischen schon vier Tage vergangen, seit meiner denkwürdigen Rettung aus den Verliesen der Tempel-Festung. Die Aufregung, die ich gespürt hatte, als wir durch die Gänge hasteten und als ich die Feuer beschwor, die den gewaltigen Turm in Rauch und Feuer aufgehen ließen, verblasste schnell. In diesen vier Tagen reisten wir nach Norden, passierten die Adlerburg und durchquerten Berghof. Der große Krieger Bargh und der Jüngling Neire hatten anscheinend einem Mann namens Ariold aufgetragen, ihre Pferde in das Dorf Stadwilla zu bringen, um dort auf sie beide zu warten. Nun ja, die Pferde waren tatsächlich dort, von Ariold fehlte jedoch jede Spur. Ich vermute es wird nicht gut für ihn enden, wenn die beiden ihn wiedersehen sollten.

Wir machten Rast in dem Ort Kusnir. Dort wartete ein alter Bekannter von Bargh und Neire, ein grimmiger und langweiliger Elf, der sich wohl Halbohr nennt. Seinem Ohr nach zu urteilen, dem irgendwann mal die Spitze abgeschnitten wurde, ist der Name auch ziemlich offensichtlich. Hier in Kusnir erreichte uns auch die Einladung, welcher Halbohr und Bargh folgen und mich damit zu einem tagelangen Marsch durch Kälte und Nässe der nördlichen Berge zwingen sollten. Das Ziel war offenbar eine Beerdigung. Irgendeine Mutter hatte ihren Sohn verloren; als ob das nicht ständig passieren würde. Siguard Einhand war der Name des Toten. Ein Name, der Neire und Bargh bekannt war. Kein Wort stand dort, woran der Sohn gestorben war, nur dass Bargs und Neires Anwesenheit explizit erwünscht sei und dass wir uns eilen mussten, um rechtzeitig anzukommen. Also machten wir uns auf den Weg. Neire hatte allerdings andere Pläne. Er sprach mit Bargh unter vier Augen und ritt auf seinem Pferde anderen Zielen entgegen.

So waren es also ich selbst, Bargh und Halbohr, die in die nördlichen Gebirge aufbrachen. Unser Ziel war ein kleines Bergdorf in den Schneebergen. Schon allein der Name verhieß keine Freude und ich sollte mich auch nicht irren. Der Weg in die Berge war lang und beschwerlich. Meine Füße taten weh vom Laufen und auch als Bargh mir sein Pferd gegeben hatte, wurde es nicht besser. Jetzt waren es nicht die Füße, sondern Rücken und Hintern, die schmerzten. Der Wind war kalt und nass, die Welt auf einem Rücken eines Pferdes war trist und langweilig und die Anspielungen von Bargh, wie er bei unseren Nachtlagern immer näher rückte und erzählte von den Geheimnissen seiner Herrin, halfen meiner Laune nicht sich zu bessern. Sicherlich, er ist ein starker Krieger und man kann mit ihm bestimmt viele Abenteuer erleben und überleben, aber er macht mir ehrlich gesagt auch etwas Angst.

Am vierten Tage kamen wir schließlich über eine Hügelkuppe, auf deren Spitze wir hinab in ein kleines Tal blicken konnten. Dort hatte sich bereits eine kleine Gruppe von Menschen versammelt, allesamt gekleidet in dunkle Gewänder. Einige führten Laternen mit sich, die dieses Plateau in ein schwaches Licht hüllten. Uns offenbarte sich eine Art Bergfriedhof; wir konnten Grabsteine sehen. Mir schauderte kurz, zum einem wegen den einsetzenden Sturmböen und dem Schneeregen, die wieder Kälte in meine Knochen trieben. Zum anderen auch vor dem Gedanken, eine Ewigkeit trauernden Menschen zuhören zu müssen, die über irgendein Leben berichteten, was mich nicht im Geringsten interessierte. Dies schien auch ein Schwarm von Krähen zu denken, der merkwürdig ruckhaft davonflog. Die seltsamen Tiere suchten wohl ihr Heil in der Flucht und flogen schneebedeckten Gipfeln entgegen, die jetzt von dunklen Wolken umhüllt waren.

Wir kamen näher zu der Begräbnisstätte und sahen, dass die Leute sich um ein bereits ausgehobenes Grab versammelt hatten. Eine ältere Frau wimmerte leiste - die ganze Zeit. Ein anderer Mann, auch etwas älter und seine grauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, erhob seine Stimme und begrüßte die Einwohner von Wiesenbrück, so der Name des Dorfes, aus dem dieser Siguard stammte. Er ist wohl in Kusnir umgekommen, wo ich selbst noch vor wenigen Tagen etwas Ablenkung in dem Gasthaus und dem einfältigen Wirt dort genießen durfte. Siguard hatte sogar einen Abschiedsbrief verfasst, den der Mann mit dem Pferdeschwanz gerade vorlas. So wurde ich über den Ort seines Todes eines Besseren belehrt:

„Es ist nun eine Weile her, dass ich nach Wiesenbrück zurückgekehrt bin. Es ändert nichts, ich liebe meine Familie, hier und in Kusnir. Doch mein Leben hat sich geändert, seit ich den jungen Priester getroffen habe. Die Runen im Fleisch, die Träume und die Sehnsucht. Die Suche nach der versunkenen Stadt, nach Feuer und Schatten, treiben mich durch den Nebel. Doch das Licht am Ende des Tunnels ist ein anderes. Es birgt einen alten Verrat und doch eine Erlösung. Die Sünden der alten grauen Rasse werden für euch der Untergang sein. Die Pest der blauen Teufel, die sie in die Welt entließen. Für mich zeigt sich das Licht der Göttin, über dem alten Irrling. Und so muss ich durch die Dunkelheit gehen, bis das Licht wieder scheint. Es wartet SIE auf mich, die Königin von Feuer und Düsternis, die Dame des Abgrundes.“

Die Worte erinnerten mich direkt an die Geschichten von Bargh und Neire, von ihren Erzählungen über ihre eigene Herrin, Jiarlirae, und über Nebelheim, wo Neire aufgewachsen ist. Der ältere Mann erzählte weiter, dass dunkle Zeiten sich anbahnten und sie sogar das berühmte Fest von Wiesenbrück absagen mussten. Die Leute fingen an, Erde auf die Holzkiste zu werfen, als ob der Tote dann darin besser schlafen würde. Bargh und Halbohr gingen zu der älteren Frau hin und heuchelten etwas Mitgefühl.

Plötzlich hörte man ein Brüllen, als sich auf einem Felsvorsprung die riesige Gestalt eines Bären aufbäumte. Rosiger Schaum hatte sich um das Maul gebildet. Der Bär sprang mit einem Krachen von dem Vorsprung hinab und stürzte sich auf die Menge. Panik brach in der Trauergesellschaft aus und der ältere Mann rief in die Richtung von Bargh und Halbohr, ängstlich um Hilfe flehend. Die beiden reagierten auch sehr schnell, Halbohr zog einige seiner Dolche und Bargh seine merkwürdige Klinge, die aussah als ob sie Schatten bluten würde. Die Kreatur brüllte abermals laut auf. Ich selbst habe mich hinter einen Grabstein geduckt und dachte mir, Bargh und Halbohr würden dies bestimmt auch so überleben. Die beiden bekamen auch unerwartete Hilfe, als einer der Jäger, die auch als Trauergäste geladen waren, hervortrat. Eine dürre Gestalt war es, in einem dicken Ledermantel und Fuchsfellen gekleidet und eine Kapuze tief in das Gesicht gezogen. Er zog einen geölten Säbel und bewegte sich hinter die Kreatur.

Zusammen konnten sie das Wesen zu Fall bringen, doch man hörte bereits ein weiteres Brüllen und aus dem Unterholz stürmten zwei dieser, vor Wut wahnsinnigen, Tiere auf sie zu. Ich blieb weiter in Deckung, doch das unheimliche Flüstern in meinem Kopf war wieder zu hören. Ich habe es immer noch nicht geschafft, irgendetwas von dem Flüstern zu verstehen, noch weiß ich, wem diese Stimme gehört. Einzig klar ist, dass dieses Flüstern auch mich zu hören scheint und mir Macht gibt. So auch jetzt, als die beiden tollwütigen Bären sich vor Bargh, Halbohr und dem Jäger aufbauten und ein Tier seine messerscharfen Krallen in den Leib Halbohrs bohrte. Ich habe inzwischen gelernt, was ich der Stimme zuraunen muss, damit sie mir hilft. Dieses Mal sorgte sie dafür, dass sich in meinen Händen eine blendende und heiße Lanze aus purem Feuer bildete. Blitzschnell blickte ich über den Grabstein und schleuderte die Lanze auf einen der Bären, der sogleich mit einem beängstigenden Heulen in Flammen aufging und zuckend zu Boden sackte. Die andere Kreatur fiel den Klingen der drei Kämpfer zum Opfer und auch diese verfiel seltsamen Zuckungen in ihrem Tode.

Wir blickten uns um und waren inzwischen alleine auf dem Friedhof - die anderen Trauergäste waren schon beim ersten Brüllen geflüchtet. Der fremde Jäger zog seine Kapuze zurück und stellte sich als Atahr vor. Ich sah seine merkwürdige schwarze Haut, spitze Ohren, fliederblaue Augen und langes weiß-glattes Haar. Atahr war kleiner als ich, doch kein Kind mehr. Sein schlankes, nobles Gesicht strahlte Lebenserfahrung aus. So eine Kreatur hatte ich bisher noch nie gesehen. Ich dachte erst, die Schwärze wäre vielleicht eine Art Kriegsbemalung, die er auf seine Haut gebracht hätte, doch es fühlte sich tatsächlich nach normaler Haut an. Vielleicht stammt er von einem seltenen Bergvolk ab, dass sich nur in Gegenden aufhält, die ich vorher noch nicht betreten hatte. Für die anderen schien sein Anblick nichts Besonderes zu sein.

Halbohr nutzte die Gelegenheit und blickte sich um. Doch wir waren allein und so öffnete er den Sarg, der schon mit etwas Erde bedeckt war. Dort lag sie, die Leiche des Siguard Einhand. Jetzt erkannte Bargh die Gestalt wieder und erzählte uns von einem Trinkspiel, zu dem sie ihn in Kusnir überredet hatten. Von diesem Trinkspiel zeugte noch eine Narbe auf seiner Handfläche, die grob die Umrisse einer Münze, das Bildnis einer Menschenschlange und einen Chaosstern zeigte. Und an beiden Handgelenken hatte er tiefe Schnitte entlang seiner Adern. Es sah so aus, als ob er seines Lebens überdrüssig geworden war und diesem selbst ein Ende bereitet hatte.

Wir beschlossen, ebenfalls in das Dorf Wiesenbrück aufzubrechen. Als ich hörte, dass es auch ein großes Fest zu Ehren des Toten geben würde, gefiel mir dieser Vorschlag auch sehr gut. Das Dorf selbst befand sich in einem größeren Tal und eine Straße führte über eine kunstvolle steinerne Brücke direkt auf die Mitte des Dorfes zu. Dort stand ein großes Gebäude mit einem riesigen alten Baum in der Mitte. Es sah fast so aus, als wäre der Baum in diesem Haus gewachsen und irgendwann durch das Dach des Hauses gebrochen. Wir hörten aus diesem Haus laute Stimmen und rochen schon den angenehmen Geruch von gebratenem und gewürztem Fleisch. Auch spürte ich die Wärme, die aus dem Inneren kam. Nach Tagen in kalter Nässe, war diese Wärme noch viel schöner als der Geruch des Essens und ich freute mich schon, wieder etwas Spaß haben zu können. Der Galgen seitlich des Weges hielt drei im Wind baumelnde, verrottende Körper. Dieser Anblick war zwar nicht sehr einladend, aber was kümmert es mich, welche Regeln hier offenbar gelten.

So traten wir in das Gebäude ein und der Geruch, die Wärme und die Geräusche überzogen uns. Als die Bewohner uns erblickten, wurden wir gebührend empfangen. Sie jubelten uns zu und klatschten laut in die Hände. Ich wunderte mich - einzig wegen der paar wilden Tiere, die wir für sie erlegt hatten? Sehr wehrhaft schienen sie hier nicht zu sein. Ich blickte in die müden Gesichter und sah Dankbarkeit. Der Wirt, ein Mann namens Raimir Gruber, führte uns zu einem Tisch, vorbei an dem großen Baum, der hier in der Mitte der großen Halle stand und dessen Rinde mit vielen verschiedenen Schnitzereien versehen war. Am Tisch neben uns saß die Mutter des Toten und der ältere Mann, der den Abschiedsbrief dieses Siguard vorgelesen hatte. Leider hatten sie hier keinen Wein, aber der Wirt pries sein Bier an, gebraut aus dem kalten Gletscherwasser des Flusses Fireldra, der vor den Toren des Dorfes fließt. Bargh zögerte nicht lange und hatte schon bald einen großen Humpen vor sich stehen, den er mit kräftigen Zügen in sich hineinschüttete. Ich wollte dem nicht nachstehen, sonst denkt er am Ende noch ich wäre ein kleines Kind. Dennoch wäre mir Wein lieber gewesen.

Halbohr und Atahr sind langweilige Gefährten. Sie unterhielten sich nicht mit mir. Atahr machte sich schon bald auf und sprach in der Menge mit einigen Leuten, die ihm Geschichten erzählten über Tiere, die plötzlich wild und unberechenbar wurden. Atahr erkannte dies als eine Art Krankheit, die die Tiere in eine wilde Raserei versetzte. Aber auch Menschen schienen davon nicht ausgenommen zu sein, da es wohl auch Geschichten gab über Dorfbewohner, die plötzlich und ohne Vorwarnung andere erschlugen. Das war dann wohl die Erklärung für die baumelnden Kadaver am Strick des Galgens.

Halbohr setzte sich, unhöflich wie er ist, einfach an den Tisch zu der trauernden Mutter und dem älteren Mann, der sich als der Dorfvorsteher Eirold Mittelberg vorstellte. Diese berichteten ihm, dass Siguard nach seiner Rückkehr aus Kusnir anfing sich merkwürdig zu verhalten. Er führte obskure Rituale durch und erzählte über die Legende des alten Irrlings, über die er auch in seinem Abschiedsbrief geschrieben hatte. Offenbar eine Geschichte über ein altes Portal der Grauelfen welches sich in der Irrlingsspitze, einem markanten Berg, den wir auch auf dem Weg hierher sahen, erbaut wurde. Wohin dieses Portal führt weiß keiner, aber dass es wohl verschlossen wurde und auch nicht mehr geöffnet werden kann. Eine andere Geschichte erzählte von einem Licht am Himmel, dass man hier auch Linnerzährn nennt. Als ich das hörte, musste ich direkt ein einen bestimmten Kometen denken, der alle 23 Jahre am Himmel zu sehen ist und danach wieder verschwindet. Dieses große Fest des Dorfes, was abgesagt wurde, wurde wohl erstmalig genau dann abgehalten, als dieser Komet zu sehen war. Aber sollen sie ruhig weiter an ihre alten Legenden und Geschichten glauben.

Bargh schien an all den Gesprächen in keiner Weise interessiert zu sein. Humpen über Humpen trank er sein Bier und war bester Laune. Ich fand es anfangs auch sehr lustig, doch langsam rückte er immer näher und legte seine Hand um mich und versuchte mich zu küssen. Sicher ist er ein statthafter Mann und starker Krieger, aber etwas an ihm macht mir noch Angst. Vielleicht ist es sein verbrannter Schädel, vielleicht dieser merkwürdige Edelstein an Stelle seines Auges, jetzt natürlich verdeckt durch seine Augenbinde. Ich kann es gar nicht sagen, was mir an ihm Angst macht. Vor allem, da er auch etwas über diese Stimmen und dieses Flüstern, was ich in meinem Kopf höre, zu wissen scheint. Ich stand auf und mischte mich ebenfalls in die Menge, ließ ihn alleine zurück. Alleine schien es ihm aber auch langweilig zu werden. So suchte er einige Dirnen mit denen er sich vergnügen konnte. Soll er doch, diese Weiber wird er am nächsten Morgen wieder vergessen haben und ich werde es sein, mit dem er sein Wissen teilen wird.

Offline Jenseher

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Sitzung 48 - Vorboten
« Antwort #49 am: 6.01.2023 | 22:09 »
Finstere Träume ließen mich in der Nacht aufschrecken. Ich träumte, dass ich mit Halbohr und Bargh in den Wäldern auf Reisen war und wir unser Nachtlager aufgeschlagen hatten. Das Feuer prasselte und ich musste wohl im Traum selbst eingeschlafen sein. Mein Kopf fiel nach vorne in die Flammen und meine Haare fingen direkt Feuer. Ich erinnerte mich, dass ich im Traum schrie und mich wälzte, obwohl ich seltsamerweise keine Schmerzen spürte. Mit einer Mischung aus Entsetzen und ekelhafter Faszination betrachtete ich mich selbst, wie das Feuer von meinen Haaren auf mein Gesicht übergriff. Ich konnte fühlen, wie die Haut und das Fleisch von mir abfielen, wie eines meiner Augen durch das Feuer aus meinem Schädel hervorplatzte. Immer noch waren da keine Schmerzen. Was mich aufwachen ließ, war das Gefühl, dass irgendetwas aus meinem Bauch seinen Weg zu meinem Mund fand und dort herauskroch.

Mit diesem Schrecken fuhr ich aus meinem Bett. Ich erinnerte mich im Gasthaus zum alten Nussbaum zu sein. Das Erste was ich tat, war in meinen Mund zu greifen. Ich ertastete, ob sich irgendetwas darin befand. Erst danach fühlte ich mein Gesicht und meine Haare. Aber da war nichts. Ich war hellwach, obwohl der Morgen gerade erst graute. An weiteren Schlaf war aber nicht mehr zu denken. Ich öffnete die Fensterläden und sah, dass es über Nacht geschneit hatte. Schneebedeckte, schroffe Berge glitzerten im märchenhaften Schimmer der Spätherbstsonne. Ich atmete die klare und frostige Luft und hoffte, dass wenigstens das Frühstück etwas Gutes an diesem Morgen brächte. Das sollte sich leider als falsch herausstellen.

Nachdem ich mich gewaschen hatte, begab ich mich in die Schankstube mit dem alten Stamm. Das Mädchen des Wirtes reichte mir gebratenen Speck und Eier. Allein der Geruch des Essens brachte meinen Magen zur Rebellion. Die Magd stellte sich mir als Tochter von Raimir, als Edda Gruber vor. Und das Mädchen wollte nicht aufhören zu plappern; jedes Wort dröhnte wie ein kleiner Hammerschlag in meinem Kopf. Vielleicht waren es die Träume oder der fehlende Schlaf, aber ich befürchtete, dass ich, wenn sie weiterredete, ihren Kopf auf die Tischplatte schlagen müsse. Ja, sie sah vielleicht eine Freundin in mir. Aber was sollte sie mit ihren vielleicht 13 Wintern schon gesehen haben? Jedenfalls nicht das, was ich bereits erlebt hatte. Als Halbohr etwas später die Stufen herunterkam, war es schon fast eine Erlösung; hoffte ich doch zumindest das kleine Etwas loszuwerden. Seinen Augenringen zu urteilen schien er keine bessere Nacht als ich gehabt zu haben. Ich fragte mich, ob ihn auch Träume gequält hatten. Vielleicht, wie er selbst in dem Grab läge, was er am Tag vorher noch untersuchte. Vielleicht sah er, wie er dort lebendig begraben wird?

Halbohr hatte selbst morgens nicht besseres zu tun, als fasziniert die Schnitzereien längst vergangener Zeiten in dem riesigen alten Nußbaum zu betrachten. Dabei fragte er die Frau des Wirtes, Ilga Gruber, aus. Offenbar hatten sich über die Zeit viele Bürger von Wiesenbrück in diesem Baum verewigt und ihren Angebeteten Herzchen und schlüpfrige Sprüche hinterlassen. Einzig tief am Stamm des Baumes, wo die ältesten Schnitzereien waren, fand Halbohr etwas Interessantes. Dort waren Runen, die ihn an die elfische Schrift erinnerten. Ein Stück darüber fand er fünf Namen im Holz: Niroth, Adanrik, Kara, Faere und Waergo; umringt von einigen religiösen Symbolen, die mich an den Schutzpatron Torm erinnerten. Bei diesem Gedanken hatte ich bildhafte Erinnerungen. Von dem Turm auf der Insel und den weißen Flammen, die diesen verschlangen.

Der Wirt, Raimir Gruber, kannte sogar einige Geschichten über die fünf Namen im Stamm. Er selbst war wohl noch ein Kind, als das Dorf das große Fest feierte. Er erzählte von einer schönen Frau mit roten Haaren und feiner, schneeweißer Haut, die Lieder sang und zwei Männern vom stämmigen Volke. Offenbar war dies eine Gruppe von Abenteurern, die mit dem Erscheinen des Linnerzährn eintrafen. Sie wollten zur Irrlingsspitze aufbrechen, doch nach ihrem Auszug aus Wiesenbrück verschwanden sie spurlos.

Gerade wollte Raimir noch mehr erzählen, als plötzlich die Türe des Gasthauses aufgestoßen wurde. Die erbärmlich aussehende Gestalt des Kriegers Bargh trat herein, wobei stolpern die bessere Wortwahl gewesen wäre. Offenbar war er immer noch betrunken. Seine Augenbinde, hinter der er den roten Edelstein versteckte, trug einen dunklen Blutfleck. Doch das bereits mit dem Fleisch verwachsene Juwel war jetzt nicht zu sehen. Lallend erzählte er, dass die beiden Dirnen, mit denen er sich in der Nacht vergnügen musste, versucht hatten, ihm den Rubin aus der Augenhöhle zu schneiden. Es dauerte nicht lange und die beiden Weibsstücke, Reldra und Fära, kamen herein. Sie waren ihm anscheinend gefolgt. Auch sie waren noch betrunken und sie wollten wohl den Fang des gestrigen Abends wiederholen. Reldra griff sich in den Schritt und führte obszöne Gestiken durch. Fära hob einhändig eine ihrer Brüste und streckte ihre Zunge heraus, um ein lüsternes Lecken anzudeuten. Beide lachten in einem hässlichen, trunkenen Ton. Ich musste mich fast übergeben, doch Halbohr schien, völlig unberührt von dem widerlichen Anblick, die entstehende Szene zu seinen Gunsten auszulegen. Gespielt verärgert trat er den beiden entgegen und drohte ihnen hinsichtlich ihrer Tat mit dem Strick. Auch Raimir, der das Schauspiel mit einem gewissen Erstaunen betrachtete, stimmte dem zu. Davon ließen sich die beiden beeindrucken und zogen es vor wieder zu verschwinden. Halbohr wollte sich jedoch nicht damit zufriedengeben und Gerechtigkeit walten lassen. Das sagte er zumindest Raimir. Ich selbst glaubte aber, dass es ihm Freude bereiten würde, wenn er die beiden Weibsstücke am oberen Ende eines Galgens baumeln sehen würde. Also ging Halbohr schnurstracks zu Eirold, dem Dorfvorsteher.

Ich vermute, dass er versuchte Eirold von seinen Plänen zu überzeugen. Was die beiden alles besprochen haben kann ich nicht sagen, aber es dauerte länger. Während Halbohr also noch unterwegs war, betraten zwei von Schneeflocken bedeckte Männer das Gasthaus. Es hatte wohl wieder begonnen zu schneien. Beide Männer waren offenbar Jäger; der eine mit einem Bogen bewaffnet und der andere mit einem Schwert. Der Mann mit dem Schwert baute sich vor Bargh auf. Dieser Jäger schien wohl nicht ganz bei Sinnen zu sein, denn er forderte Bargh zum Zweikampf heraus. Als Grund nannte er den Beischlaf mit seiner Frau. Ich musste kurz in mich hinein kichern, als diese mickrige Gestalt im Vergleich zum großen Bargh dort stand. Als sich herausstellte, dass die beiden Weibstücke die Frauen dieser beiden waren, wurde es immer lustiger. Jetzt kehrte auch Halbohr wieder zurück. Jedoch verstand er entweder die Komik dieser Situation nicht oder er hatte einfach keinen Sinn dafür. Er stellte sich hinter den Bogenschützen, zog seine Dolche und beobachtete schweigend.

Bargh kämpfte immer noch mit seinem Kater. Es schien mir, als hätte er gar nicht das Verlangen, von seinem Tisch aufzustehen. Gierig schlang er das Frühstück hinein, das ich ihm überlassen hatte. Doch der Jäger ließ nicht locker, beleidigte seine Ehre und forderte ihn erneut heraus. Dann erhob sich Bargh. Ich hätte gerne gewusst, was im Kopf des Fremden vorging, als der Krieger Jiarliraes ihm entgegenstand und er nun den Kopf heben musste. Auch als Bargh seine merkwürdige Klinge zog, die aus dem Stahl Schatten zu bluten schien, arbeitete es in seinem Gesicht. Allerdings hatte er keine Zeit mehr seinen Fehler zu erkennen. Bargh schwang sein Schwert, dessen Schatten sich mit dem Schlag in züngelnde Flammen aus heißem Feuer verwandelten. Mit einem kräftigen Hieb stieß er das Schwert in den Leib und mit einem schnellen zweiten Schlag hieb er dem armen Wicht das Bein unterhalb der Hüfte ab. Der Tölpel konnte nicht einmal mehr schreien als der Tod ihn mitnahm. Der andere Jäger schien mehr Verstand zu haben. Als er sah, wie sein Freund in feurigen Wunden zu Boden ging, suchte er sein Heil in der Flucht. Halbohr hielt ihn zwar noch einen Moment fest, doch er wand sich wie ein Wurm und verschwand aus dem Gasthaus. Wie sich später herausstellte auch aus dem Dorf, mitsamt den beiden Frauen.

Nach diesem ereignisreichen Morgen verlief der Tag ziemlich langweilig für mich. Halbohr stellte einige Besorgungen an, Bargh schlief seinen Rausch aus und ich selbst versuchte meinen Magen zur Ruhe zu bringen. Als wir abends wieder im Gasthaus saßen, hörten wir von draußen plötzlich ein Gewirr von Stimmen. Auf dem kleinen Platz vor dem Wirtshaus hatten sich etliche Menschen versammelt und starrten in den Himmel. Es war wärmer geworden und der Schnee hatte begonnen zu tauen. Zudem war es aufgeklart, so dass wir ein malerisches Bild erblickten. Dort, zwischen den Sternen und hell leuchtend wie ein zweiter Mond, sahen wir ein Licht am Himmelszelt: Direkt über dem größten schneebedeckten Berg, über der pyramidenförmig aufragenden, gefährlich steilen Irrlingsspitze, thronte der Linnzerzährn, eine leuchtende Kugel in einem unnatürlichen gelblichen Licht. Die Menschen schienen von dem Anblick in einen Bann gezogen zu sein. Auch Bargh, der in der Erscheinung ein Zeichen seiner Göttin sah. Ich muss gestehen, dass dieser Anblick faszinierend war; und wer weiß, vielleicht hat Bargh sogar Recht, dass seine Herrin der Feuer und Schatten dort, auf der Spitze des Berges, auf unsere Welt hinab schreiten will. Und vielleicht, nur wirklich vielleicht, kann sie mir Fragen beantworten. Fragen, die ich mich selbst nicht traute laut zu stellen.

Wir erfuhren von den Leuten weitere Legenden über den Linnerzährn und die Irrlingsspitze. Es heißt, dass sich ein Portal in den Berg nur dann öffnet, wenn der Linnerzährn sein Licht über ihn ergießt. Ich überlegte kurz und erschrak: Offenbar bleibt er nur wenige Wochen am Himmel und verschwindet dann wieder für die nächsten 23 Jahre. Eile war also geboten, wenn ich meine Antworten erhalten wollte.

Wir hielten uns nicht lange auf. Schnell packten wir unsere Rucksäcke mit Verpflegung. Bargh übergab sein Pferd in die Obhut von Raimir Gruber und so machten uns auf den Weg. Wieder durch die Dunkelheit, wieder durch Kälte, wobei es wesentlich wärmer geworden war, seitdem der Komet am Himmel stand.

Wir verließen das Tal des Dorfes und folgten dem Fluss. Die Nacht sah gespenstisch aus in dem gelben Licht. Der Schimmer überstrahlte inzwischen sogar den Mond und die Felsen, denen wir uns näherten. Alles verwandelte sich in eine unwirkliche Kulisse – so als ob die Farben einem Spiel aus Licht und Dunkelheit gewichen wären. Als wir uns weiter der Felswand näherten, die einen Engpass zwischen Weg und dem Fluss Fireldra darstellte, wurde unser Pfad von einigen großen Felsbrocken unterbrochen. Halbohr sagte, er würde von dort ein merkwürdiges Schmatzen hören. Also schlich er sich über die Felsbrocken weiter nach vorne. Aber schon nach kurzer Zeit kehrte er wieder zurück. Eine riesige Kreatur befand sich wohl auf dem Weg, hinter den Felsbrocken. Mir schauderte zwar etwas, aber Bargh würde wohl auch mit so einer Kreatur schnell fertig werden. Vorsichtig schlichen wir uns alle an die Kreatur an. Als Halbohr von einer großen Kreatur sprach, erwartete ich etwas, das vielleicht einen Kopf größer als Bargh war. Was ich aber dort sah ließ mein Blut gefrieren. Die Kreatur, bei genauerem Hinblicken offenbar weiblich, war nicht nur groß, sondern wirklich gewaltig. Bestimmt vier bis fünf Schritt hoch, fett, und von einer abscheulichen Hässlichkeit, die einem den Magen nochmals umzudrehen vermochte. Sie kniete vor einem Haufen von Leichenteilen und biss gerade genüsslich in ein Bein irgendeiner Kreatur. Sabber und Schleim tropfte herab. Uns hatte sie den Rücken zugewandt. Plötzlich ging alles schnell. Halbohr stieß seinen Dolch der Gestalt in die Rückseite; Bargh stürmte heran und ließ sein Schwert sausen. Ich selbst beschwor die mir unbekannte Macht, auf dass sie mir flammende Speere schenke.

Die Kreatur torkelte auf den Abgrund neben dem Felspfad zu, als Stahl und Feuer tiefe Wunden in sie rissen. Sie stürzte in die Tiefe und in Richtung der reißenden Wasser der Fireldra. Doch noch im Todeskampf blickte sie flehend auf den Vorsprung, der bergwärts von dem in den Felsen geschlagenen Weg emporragte. Ich selbst verstand es nicht, doch Bargh und Halbohr zogen mich in den Schutz der Felswand. Als ich dem Blick der Kreatur folgte, sah ich es: Dort, am Rand der Felswand und etwa vierzig Schritt über uns, standen drei weitere dieser Kreaturen. Doch diese waren noch größer. Und tatsächlich, die Gestalt, die wir erschlagen hatten, hatte etwas Kindliches an sich gehabt. Dort oben befanden sich die Eltern und vielleicht ein Bruder, die mit wütendem Brüllen den Tod ihrer Tochter beobachtet hatten. Die Mutter schien ihren Verstand verloren zu haben, blutiger Schaum und Geifer bildete sich um ihr riesiges Maul, fast wie die Tollwut der Bären auf dem Friedhof. Ohne Vernunft ließ sie sich einfach auf uns fallen, um uns mit ihren Massen zu zermalmen. Zum Glück verfehlte sie uns um Haaresbreite. Wir hörten das Knacken von Knochen, das Reißen von Sehnen, als sie auf das Geröll schlug. Halbohr nutzte den Moment und schnitt ihr die Kehle durch, während sie versuchte sich aufzurappeln. Im halbdunklen Zwielicht des Kometen sah ich ihren gewölbten, fleischigen Körper zu Boden sinken, wie ein nasser Sack. Ein dunkler Blutregen sprühte aus ihrer zerschnittenen Kehle und blutige, geborstene Knochenstümpfe ragten aus ihren Fettmassen hervor. Wir saßen in der Falle und die einzige Flucht ging weiter den Felsenweg entlang. Also stürmten wir vorwärts über die Felsbrocken und liefen in ein Waldstück. Bargh gab kurze Befehle. Er wies mich an einen Felsen zu erklimmen, während Halbohr sich verstecken sollte und die Gestalten hinterrücks erlegen sollte.

Es sollte auch nicht lange dauern, bis das Donnern der trampelnden Schritte der Riesen zwischen den Bäumen hallte. Einige der alten Fichten begannen sich zu biegen, als der erste der beiden zwei verbleibenden Monster - ich kann nicht sagen ob es ein Bruder oder der Vater war - näherkam. Der Riese trampelte auf Bargh zu, der sich wiederum am Fuße des Felsens postiert hatte. Ich konnte dort hinabschauen und glaubte, in meinem Grauen unseren Untergang zu sehen. Doch Bargh kanalisierte die Macht seiner Herrin direkt in den Stahl seiner Klinge und auch ich bat wieder meinen unheimlichen Verbündeten um Unterstützung. Mit unseren Feuern konnten wir auch dieses Geschöpf erledigen. Plötzlich erstrahlte ein feuriger Schein vom Gipfel der Irrlingsspitze. Der obere Teil des schneebedeckten Berges schien mit einem Mal in Flammen zu stehen und eine gewaltige feurige Säule schoss dem Kometen Linnerzährn entgegen. Einen Moment später krachte der gewaltige Donner des Schauspiels auf uns herab und brachte unsere Ohren zum Klingeln. Wir konnten die Hitze der Flammen spüren. Selbst hier, wo wir doch noch so weit weg waren.

Die dritte Kreatur schien davon nicht beeindruckt zu sein. Sie stürmte auf uns zu, blind vor Wut und Haß. Diese Wut und diese Raserei, wir konnten sie alle spüren. Ich konnte deutlich sehen, wie sich auch vor den Lippen Barghs Schaum bildete. Halbohrs Gesicht verzerrte sich, doch er konnte sich noch kontrollieren. Auch ich spürte die Wut - entfernt wie ein leiser Schrei, schwach aber dennoch furchtbar anzuhören. Bargh hieb mit seinem Schwert auf die letzte Gestalt. Immer und immer wieder, selbst als diese schon zu Boden gegangen war. Mit den letzten Hieben hackte er ihr den Kopf vom Hals, als ob er einen Baum fällen würde.

Unser Blut gerät mehr und mehr in Wallung. Jeden Schritt, den wir auf die unheilvolle Spitze der Schneeberge zutun, ein wenig mehr. Ich gestehe: Ich fürchte mich. Nicht vor Monstern oder Wegelagerern. Das sind Ängste, die schnell wieder vorbeigehen. Nein, ich fürchte mich vor dem, was mich dort erwarten könnte. Ich fürchte mich vor den Antworten, die ich erhalten könnte. Ich weiß nämlich selbst noch nicht, ob mir diese auch gefallen werden.