„Wie fühlt sich das an?“ Neire sprach mit lieblicher Stimme, in der ein zischelnder Singsang war. Er lag mit Edda auf dem schwarzen Samt des verzierten Himmelbettes. Im Kamin des Turmzimmers brannte ein großes Feuer, das den von kostbaren Fellen ausgelegten Boden in ein rötliches Licht warf. Vor den Bücherregalen des Gemachs funkelten tausende schwarze Kerzen. Ein kleiner Altar, auf dem die Büste einer gesichtslosen Frau dargestellt wurde, war von rötlichem Fackellicht erhellt. Ein Chaosstern sowie Runen aus getrocknetem Blut waren in der Leere des Antlitzes aufgebracht worden. „Ich weiß nicht Neire. Sie sind so warm und weich, meine Glieder. Und meine Finger ziehen rote, lange Fäden… von der Wärme des Feuers in die Dunkelheit des Schneetreibens hinein.“ Neire folgte Eddas Hand, über die er sanft stricht. Sie machte eine elegante Bewegung, in der sie das rötliche Glühen der Kaminflammen in die Richtung der schwarzen Fenster zog, die Neire einst verzaubert hatte. Die Farben waren so intensiv, so glühend. Es war, als quille das Feuer aus Eddas langen, schwarz-gefärbten Fingernägeln. Es war, als würden die Funken verglühen im Schneetreiben der Winternacht dort draußen. Einige Momente hafteten die Augen der beiden Liebenden auf den entfernten Lichtern von Nebelgard, die sie unter sich sahen. „Was fühlt ihr hier? Wo bin ich jetzt?“ Er strich über Eddas dicken Bauch, in dem sie ihre beiden Kinder trug und sah, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen bildete. Sie lächelte ihn an und zog ihn zu sich heran. „Ihr wart fort Neire, doch jetzt seid ihr hier. Ihr seid hier… hier bei mir.“ Sie küssten sich und da war der Geschmack von Grausud und Wein. Dann betrachteten sie die Farben und lachten. Sie staunten wie kleine Kinder, die sie nicht mehr waren. Irgendwann schliefen sie ein. Sie hörten nicht, wie das Brausen des Wintersturmes stärker wurde und huschende Schneeflocken an den beiden Kristallfenstern vorbeitrug.
Der Traum war fieberartig und verwirrend. Er zehrte an Neires Kräften. Da war Wasser um ihn herum und seltsame Wesen. Das Wasser war zuckersüß und floss in seinen Mund hinein. Die Wesen waren Urformen von Amöben. Sie hatten merkwürdige Formen, wie die Kreaturen aus den sonnenlosen Tiefen der Ozeane. Einige besaßen dickliche, konisch geformte Körper. Andere waren netzgleich und aufgefächert, wie die laublosen Baumkronen alter Wintereichen. Sie alle schimmerten in pulsierenden Farben. Neire musste sich hinfort bewegen. Sie glitten an seinem Körper vorbei und verlangsamten ihn. Da war das Pochen eines riesigen Zeigers einer Uhr. Er sah sie nicht, doch er konnte ihren Rhythmus spüren. Sobald er sich herausgewunden hatte, sobald er sich in die Dunkelheit zog, waren sie wieder um ihn. So ging es fort und er hatte begonnen zu schreien. Er zweifelte an allem was er war und was er tat. Mit jedem Pochen des Zeigers wurde es schlimmer. Er konnte ihnen nicht entrinnen. Selbst dann nicht, als er die Hüllen der Gesichter von Bargh und Zussa sah. Er drückte sie weg, wie lebloses schleimiges Leder. Da waren auch andere Gesichter. Da war Edda… und Heergren, dann Halbohr. Neire stieß sie hinfort, drückte sie weg, doch er wurde noch langsamer. Die merkwürdigen Formen rückten näher und das süße Wasser rann in seinen Mund hinein. Er wollte, doch er konnte nicht mehr schreien. Da war nur noch das Pochen. Der Schmerz kam in Wellen. Wieder und wieder. Harmonisch und vorhersehbar.
Neire wachte auf und zitterte am Körper. Sein Kopf pochte und sein nackter Körper war bedeckt von kaltem Schweiß. Er spürte ein Vibrieren des Bettes. Ein Knacken im Stein des Turmes. Draußen peitschten Sturmböen Schnee heran. Er konnte die Lichter Nebelgards nicht mehr sehen. Es herrschte aber noch tiefste Nacht. Die Wirkung des Grausuds war fast vergangen, die schrillen Farben verschwunden. Da war eine Leere in seinem Kopf, die ihn an sich zweifeln ließ. Er zog sich einen seidenen Nachtumhang über und bedeckte Eddas nackten Körper mit einer Decke. Ihre Haut schimmerte schneeweiß in der Dunkelheit. Dann trat er ans Fenster und blickte in den Wintersturm, der dort draußen tobte. Aus der Finsternis sah er bleiches Licht aufzucken. Etwas später folgte das dumpfe Grollen eines Donners. Es versuchte seine Gedanken zu klären, doch er sah nur diffuse Düsternis. Was hatte das alles noch für einen Sinn, fragte er sich. Dann spürte er, dass Tränen an seinen Wangen hinabrollten und er zitterte. Er unterdrückte ein Schluchzen; er wollte Edda nicht wecken. Die Welt um ihn herum schien leblos und leer. Er sehnte sich nach der feurigen Umarmung. Nach den Schattenflammen seiner Göttin, nach ihrem ewigen Reich. Meine Zeit ist gekommen hier und ich sollte gehen. Doch wie? Neire fasste weitere düstere Gedanken. Dann reifte sein Vorhaben. Er schlich sich durch das dunkle Gemach zur erloschenen Glut des Kamins. Dort kniete er sich nieder. Mit einigen Holzstücken entfachte er das Feuer erneut. Dann öffnete er leise eine der schwarzen Schatztruhen. Er wusste, dass er etwas finden musste, doch er wusste nicht was. Wie in einer Trance schritt er zurück zum Feuer, das mittlerweile dort brannte. Er blickte in die Flammen, sah die Schatten und weinte leise. Immer wieder legte er Holzscheite nach. Bis die Hitze des Feuers das Gemach erwärmte. Dann ließ er seinen Nachtumhang fallen. Hervor kam sein drahtiger Körper, seine bleich schimmernde Haut. Neire hatte mittlerweile ein Alter von 19 Jahren erreicht. Die drei Rubine der Herzsteine funkelten in seiner linken Schulter. Sein gesamter linker Arm war von dunklem Narbengewebe einer einst grausamen Verbrennung überzogen. Neire wischte sich die Tränen hinfort und begann in das Feuer zu klettern. Er spürte das Brennen, die verzehrende Hitze. Zuerst war da der Schmerz, dann hörte er nur noch das Rauschen und das Knacken der Flammen. Er wollte im Feuer vergehen, wollte hineinschreiten in die Schatten des Reiches seiner Herrin. Er erinnerte sich an den Abstieg der Menschenschlange des wahren Blutes. An ihre Vereinigung mit der schwarzen Natter tief im inneren Auge. Er dachte an das Gefolge, was mit der Menschenschlange des wahren Blutes hinabstieg. Es war sein Schicksal, an das er dachte – das Schicksal, das jedem Kind der Flamme vergönnt war. Die Flammen stiegen von seinen gold-blonden Locken auf. Doch da war kein Rauch, kein Glühen. Es war, als trüge er eine goldene Krone aus Feuer. Dann hörte er die Stimmen. Sie knisterten und sie knackten. Sie sprachen von den Runen seiner Göttin. Jetzt sah er sie schimmern in den Flammen. Da war Firhu, die Gabe von Feuer und Schatten, die für seine Werdung standen. Da war Zir’an’vaar, die Rune von Hingabe und von Opferung. Auch sah er Noraun, eine Rune die er zuvor noch nicht gesehen hatte. Sie stand für den ewigen Fluss von Dunkelheit in das Feuer und den fortwährenden Strom von Feuer in die Dunkelheit. Die Fäden, die Noraun spann, sollten in der unsichtbaren Unendlichkeit verwoben sein und von dort zurückführen. Sie sollten alle Konturen umspannen, die sich im Urmeer des unendlich dimensionalen Chaos brachen. Dann verstand er. Alles machte nun einen Sinn. Er griff nach dem, was er instinktiv aus der Truhe geholt hatte. Er trank, doch er trank nicht um zu vergessen. Flamme und Schatten drangen in ihn ein. Er spürte die Schmerzen, spürte seine Knochen sich verändern. Dann übermannte ihn die Pein. Er bemerkte nicht mehr, wie er aus dem Kamin stürzte und in das Gemach rollte. So blieb Neire im Schein des Feuers liegen. Glut funkelte auf seinem Körper. Er war nicht mehr der junge Mann. Das Feuer seiner Göttin hatte ihn verändert. Oder war es der Trank. Er, der dort lag, war Neire von Nebelheim, ein Jüngling im Alter von 15 Jahren. Ein Kind der Flamme, das aus Nebelheim geflohen war und seiner Göttin Jiarlirae diente. Sein Geist, nur, war älter und trug einen Teil IHRER Geheimnisse.
„Neire helft mir, kommt!“ Die Stimme war fern und doch so nah. Sie war in seinem Traum… oder nicht? „Neire, es hat begonnen. Wacht endlich auf!“ Neire wurde langsam wach. Seine Glieder schmerzten und er war noch immer nackt. Das Feuer war heruntergebrannt und ihn fröstelte. Aus den beiden Kristallfenstern kam mattes Licht. Der Schneesturm tobte noch genauso stark, vielleicht sogar stärker als zuvor. Böen brachten die Grundmauern des schwarzen Turmes zum Schwanken. Er richtete sich auf, zog sich seinen Nachtmantel über und bewegte sich zum Himmelbett. Dort lag Edda. Sie hatte ihre Decken hinfort gestrampelt und krümmte sich im Schmerz. Zwischen ihren Beinen sah Neire Schleim und Blut. Sie hielt sich ihren Bauch, hatte ihre Beine angewinkelt sowie gespreizt und biss die Zähne zusammen. Neire kniete sich auf das Bett und ergriff ihre Hand. Er bemerkte jedoch, dass Edda ihn erschreckt anblickte. „Ich bin jetzt bei euch und werde Lyssiva holen. Es wird alles gut.“ Edda biss die Zähne zusammen, doch ihre Augen wichen nicht von seinem Antlitz. Dann drehte sich Neire um und rief nach der Magd. Sie hatten Lyssiva vor einiger Zeit in den Dienst des Turmes gestellt. Die zierliche, kleine Frau mit den blonden Locken, den blauen Augen und dem schlanken, bleichen Gesicht hatte sich einst in der Akademie Schwarzenlohe beworben. Jedoch hatten ihre geistigen Fähigkeiten nicht gereicht, die schwarze Kunst zu meistern. So hatten sie Lyssiva im Turm der Schatten aufgenommen und sie im Glauben gelassen, sie würde eine Vorbereitung als Zauberlehrling durchlaufen. Es dauerte nicht lange und die Magd erschien in der Türe des Gemachs. „Was wünscht ihr mein…“ waren ihre Worte, die stockten, als sie Neire betrachtete. Dann fuhr sie zitternd fort. „Die Frau von Nebelheim, mein Prophet… wie kann ich euch dienen?“ Neire nickte ihr zu und fuhr sich über sein Gesicht. Irgendetwas hatte sich geändert. „Bringt mir frisches Wasser, saubere Tücher und meine Utensilien, die ich für diesen Tag vorbereitet hatte. Bringt sie mir sofort. Verliert keine Zeit.“ Lyssiva verbeugte sich und huschte hinfort, als sie einen weiteren Schrei von Edda hörte. Neire wendete sich wieder Edda zu, kniete sich neben sie und sprach ihr Mut zu. Er litt mir ihr und seine seltsamen Gedanken, die in den letzten Jahren immer stärker geworden waren, waren wie verflogen. Dann kam Lyssiva zurück und brachte den ersten Teil der geforderten Utensilien. Die Schreie von Edda wurden stärker und Neire hatte das Buch bereits aufgeschlagen, das er vor längerer Zeit vorbereitet hatte. Er begann ihren Leib zu untersuchen und erinnerte sich an die Werke, die er gelesen hatte. Er begann zu fühlen und zu drücken; er hielt Eddas Bauch. Doch schon bald spürte er, dass Jiarlirae ihnen wohl gesonnen war. Neire nahm eine Daumenspitze des Grausuds und beugte sich über Edda. Er schaute tief in ihre nachtblauen Augen. „Draußen tobt der Wintersturm, der den Tag verdunkelt und doch das Feuer bringt. Jiarlirae ist uns wohl gesonnen, die Opfer waren nicht umsonst. Die Gesichtslage ist richtig Edda und alles wird gut. Nehmt diese Kappe von Grausud. Es wird euren Schmerz lindern, meine Liebste.“ Edda lächelte Neire an und er spürte ihr blindes Vertrauen. Sie öffnete ihren Mund und leckte den Grausud von seinem Finger. Die Explosion der Farben war augenblicklich für sie. Schmerz löste sich auf in fast ertragbaren, nicht kontrollierbaren, spontanen Impuls. Sie konzentrierte sich auf ihre Muskeln, auf ihre tiefste Kraft. Sie presste und sie drückte, doch es war nicht willentlich. Sie hörte die liebliche Stimme von Neire in ihrem Ohr. Sie biss die Zähne zusammen und sie kämpfte. Sie kämpfte und sie klagte nicht. Dann hörte sie die zarten sanften Schreie. Erst eine Stimme und dann eine zweite. Sie betrachtete nicht die fahlen Farben des Fensters, bemerkte nicht das dumpfe Tosen des Wintersturms. Sie hörte die Stimmen und spürte die Wärme, als sie neues Leben in ihre Arme nahm. Es war das Leben, das sie durch die Gunst der Göttin hervorgebracht hatte. Tränen flossen über ihre Wangen. Dann schloss sie die Augen und sah vielfarbige Blitze in der Düsternis. Sie sprach ihren letzten Schwur zur Göttin von Flamme und Düsternis, bevor sie in Ohnmacht fiel.
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„Ich sehe, ihr habt euch in Dreistadt fürstlich eingerichtet, Eirold.“ Neire blickte sich um im Hauptturm, der drei Türme von Dreistadt. Er erinnerte sich zurück. Eirold Mittelberg war von ihm vor über einem Jahr in die Stadt geschickt worden, in der der Kult von Azathoth zuvor gehaust hatte. Er hatte den einstigen Dorfvorsteher von Wiesenbrück mit einer stolzen Kasse von 300.000 Goldstücken nach Dreistadt entsandt. Nach dieser langen Zeit und nach der Geburt seiner beiden Kinder, hatte sich Neire schließlich entschlossen, den Ort aufzusuchen, den er bereits zweimal erobert hatte. Er hatte sich Kraft seiner schwarzen Kunst durch Zeit und Raum bewegt und stand jetzt im Gemach von Eirold, das der neue Vorsteher von Dreistadt als höheres Geschoss auf dem mittleren der drei Türme erbaut hatte. Licht strömte aus wabenförmigen Bleiglasfenstern in einen Saal-ähnlichen Raum, der von Teppichen und Fellen ausgelegt war. Neben einem großen Himmelbett waren ein Thron und ein eleganter Schreibtisch zu sehen. Auf dem Schreibtisch lag eine große Karte, auf der Eirold Notizen gemacht hatte. Der Vorsteher von Dreistadt stand jetzt von seinem Thron auf und näherte sich Neire. Er trug eine rote Robe mit goldenen Verzierungen. Der über sechzig Winter alte Mann hatte seine beiden spärlich bekleideten jungen Gespielinnen bereits herausgeschickt und nach Skyghar Finsterhand rufen lassen, einem Schattenläufer und Diener von Meister Halbohr. Eirold verbeugte seinen Kopf mit dem dünnen grauen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen, Haar. Auf seiner faltigen Haut waren bereits Altersflecken zu sehen. „Ah, Neire von Nebelheim, mein Prophet. Es ehrt uns, dass ihr uns hier in Dreistadt besuchen kommt. Es freut mich, wieder einmal mit einem wahren Freund sprechen zu können.“ Neire nickte Eirold zu und erinnerte sich, wie er einst die Augen des Jensehers eingesetzt hatte. Eirold trat näher zu ihm heran, so dass Neire den blumigen Duft der beiden Gespielinnen vernehmen konnte, der dem Vorsteher von Dreistadt anhaftete. Als Eirold ihm die Hand schüttelte, fuhr der alte Mann fort. „Wie steht es um Meister Halbohr und… äh… ja, wie steht es um Bargh, den Drachentöter?“ Neire schüttelte mit dem Kopf, als er antwortete. „Ich habe noch nichts von ihnen gehört, doch das ist nicht der Grund wieso ich hier bin.“ Dann drehte sich das Kind der Flamme um und sagte. „Skyghar, kommt herein und berichtet mir.“ Durch die Türe und vorbei an den außenstehenden Wachen trat ein groß gewachsener, schlanker Mann, der in einen dunklen Ledermantel gekleidet war. Der Diener Halbohrs hatte langes schwarzes Haar, das er offen trug. Die schneeweiße Haut seines kantigen Gesichtes war von alten Narben einer einstigen Hautkrankheit geprägt. Wachsame stahlblaue Augen betrachteten Eirold und ihn. Skyghar nickte ihnen zu und gesellte sich wortlos zu Eirold. Hinter sich hörte Neire die Tür ins Schloss fallen. Dann begann Eirold wieder zu sprechen. „Ja, werter Freund, es gibt einiges zu berichten. Skyghar und ich waren nicht untätig. Unsere Macht in Dreistadt ist gefestigt und der Ausbau des Hafens schreitet voran. Die Lande des einstigen Protektorats von Dreistadt sind unter unserer Kontrolle und reichen von der Bucht von Glimmersflamm bis nach Heerebodden.“ Neire sah Skyghar grimmig nicken, als wolle er etwas dazu beisteuern, doch Eirold redete weiter. „Was gibt es sonst noch zu berichten? Nun, wir haben jetzt fast 100 Mann in Dreistadt unter Waffen. Ein Teil gehört zur Stadtwache. Ein anderer Teil bewacht die Wägen der Händler und treibt unsere Steuern ein.“ Eirold grinste bei seiner Wortwahl. „Es gab keine Angriffe von Riesen mehr. Nur noch kleinere, vereinzelte Angriffe von hungrigen Kreaturen aus den Bergen. Doch auch diese Angriffe wurden weniger. Es ist, als ob die Schwertherrscherin ihre schützenden Hände über uns ausgebreitet hätte, mein Prophet.“ Neire stimmte Eirold zu, gab dann aber zu bedenken. „Nun, es gibt noch keinen heiligen Ort von IHR in Dreistadt, doch Jiarliraes Macht ist groß. Mit der Hilfe der Schwertherrscherin wächst unser Einfluss beständig. Doch sagt, was ist mit der Adlerfeste, was ist mit Amria?“ „Sie tut treu ihren Dienst am Pass“, antwortete Eirold. „Sie entrichtet ihre Einnahmen nach Kusnir, die von dort aus in den Tempel des Jensehers gelangen. Unsere Geschäfte mit der Adlerfeste sind gering, daher haben wir nichts Weiteres von ihr gehört.“ Dann wurde die Miene von Eirold ernst. „Vor drei Monaten waren Abgesandte aus dem Reich von Vintersvakt hier. Diener des Frostes und ein Kryomant, genannt Aethelfryr von Briegeburg.“ Neire spürte, dass Eirold ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Die Verhandlungen waren schwer und ich wünschte mir, Meister Halbohr wäre hier gewesen. Nun, sie hatten bereits von Meister Halbohr gehört und sie wollten Waffen aus Ne’ilurum-Stahl kaufen. Wir einigten uns darauf Handel zu treiben. Alles andere sollen sie mit Meister Halbohr erörtern. In den letzten beiden Monaten gelangten bereits drei Schiffe zu uns, die unter der Flagge von Vintersvakt fuhren.“ Neire lauschte Eirold und dachte an die Geschichten Eddas aus ihrer Heimat. „Die Schiffe und die Abgesandten. Waren sie aus Vintersvakt? Waren sie aus dem fernen Süden?“ Jetzt war es Eirold, der verneinte. „Ein Schiff kam aus Vintervakt, ja. Die Abgesandten und zwei der Händlerschiffe waren aus Sturmhort am Ostend.“ „Gab es irgendwelche Vorfälle? Habt ihr Priester des Frostgottes gesehen, die mit ihnen waren.“ Eirold schüttelte mit dem Kopf, doch Skyghar trat hervor. Er hatte beide Hände auf die Dolche gelegt, die er im Gürtel trug und flüsterte Worte mit heiserer, heller Stimme. „Prophet, sie waren in der Stadt. Die Priester des Frostviggier und zwei Kryomanten. Sie kamen aus Sturmhort am Ostend. Sie stellten einige Fragen. Nach Meister Halbohr, nach den Ne’ilurum Minen und nach dem Tempel des Jensehers. Ihre Fragen konnten nicht beantwortet werden. Wäre es anders gewesen, hätten wir die allzu neugierigen Bürger verschwinden lassen.“ Neire nickte und sagte. „Tut was ihr für richtig haltet und berichtet an Meister Halbohr. Er wird bald wieder zurück sein. Ich habe die Zukunft in den Flammen unserer Herrin gesehen.“ Skyghar verbeugte sich vor ihm, raunte dann aber weiter. „Da ist noch etwas, mein Prophet. Unsere Späher berichteten von einem Aufstand in der Stadt Westwacht, einem Außenposten des Orumanischen Reiches am nordöstlichen Rande der Sümpfe der Swerwhinnamark. Bei der Stadt handelt es sich um das Protektorat des Orumanischen Reiches. Es wäre nicht weiter erwähnenswert. Die Grafschaften und Herrschaftsbereiche der Küstenlande befinden sich in Chaos und Bürgerkrieg. Wir hörten jedoch merkwürdige Berichte von Predigern, die dort aufgetaucht sein sollen. Sie prophezeien die Ankunft der Lichtkinder, der Lys’saihwan, die einst die Siegel brechen sollen. Sie predigen von einer heilenden Kraft in den Sümpfen. Die Massen folgen ihnen und wer weiß, wer sich zum Herrscher über Westwacht erhoben hat.“ Neire lauschte den Worten von Skyghar und nickte ihm zu. „Sind die Herrscher von Sturmhort am Ostend beteiligt? Hat Vintersvakt etwas damit zu tun?“ Skyghar zuckte mit den Schultern und auch Eirold wirkte unsicher. Neire hob den Zeigefinger seiner linken verbrannten Hand. „Seid wachsam und vorsichtig Skyghar. Lasst eure Männer den Geschehnissen in Westwacht nachgehen. Halbohr wird sich bestimmt der Sache annehmen. Nun sollten wir aufbrechen, Eirold. Ihr könnt mir den Hafen zeigen und ich möchte mit dem Meister der Wache sprechen.“
Nachdem Eirold sich fertig gemacht hatte, waren sie zum Hafen von Dreistadt aufgebrochen Auch Skyghar Finsterhand war ihnen gefolgt. Neire hatte Eirold auf dem Weg von der Geburt seiner Zwillinge erzählt. Er hatte zurückgedacht an die Stunden nach der Geburt, als er mit Edda glücklich im Bett gelegen hatte. Edda war erschöpft gewesen, doch sie hatte sich schnell erholt. Er hatte sie gefragt, welche Namen sie dem Jungen und dem Mädchen geben wollte. Sie hatte gesagt, dass der Junge Faust heißen solle. Dann hatte sie darauf beharrt, dass er den Namen für das Mädchen aussuchen solle. Neire hatte sich zurückerinnert an Nebelheim. An das, was einst war. Und so hatte er Lyriell als Namen bestimmt. Edda hatte gelacht und ihn geküsst. So soll es sein, hatte sie gesagt. Faust und Lyriell von Nebelheim sollten die beiden heißen. Eirold, der Vorsteher von Dreistadt, hatte Neire gefragt, während er erzählt hatte: Nach der Sturmnacht und ob die Geburt der Zwillinge ein Omen sei. Sie hatten mittlerweile die Baustelle des Hafens erreicht, der als felsiger Einschnitt in die Küste von Dreistadt geschlagen worden war. Von den Klippen betrachten sie die Baustelle zweier großer Speicherhäuser, die als Fachwerkbauten in den Stein der Steilwände getrieben wurden. Neben dem Geschrei von Möwen, hörten sie die Rufe der Handwerker hallen. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und obwohl es Winter war in den Küstenlanden, wehte ein milder Wind vom Meer heran. „Omen gibt es viele Eirold. Doch sie offenbaren sich in den Flammen und Schatten von Feuer und Glut.“ Sie waren gerade an der Baustelle angelangt und blickten hinab in das Hafenbecken, das dort unten grünlich schimmerte. Handwerker, die an ihnen vorbeikamen, hatten Eirold, den Vorsteher von Dreistadt mit Verbeugungen begrüßt. Neire legte dem älteren Mann eine Hand auf die Schulter und sagte. „Faust und Lyriell waren kein Omen, Eirold. Sie waren ein Geschenk von Jiarlirae. Wie sollte die Göttin mir sonst die Dualität von Flamme und Düsternis zeigen, als mit diesen wundervollen Zwillingen. Es ist diese Dualität, die aus dem Gegensatzpaar ihrer Geheimnisse, Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit sowie Mann und Frau erschaffen hat. Das Licht der schwarzen Sonne war in jener stürmischen Winternacht bei uns und Faust und Lyriell werden bald schon nach den Geheimnissen unserer Herrin greifen.“