Ein Aspekt, der sehr epochenlastig ist. Deine Erfahrungen mögen die einer hochtechnisierten Industrienation der globalisierten Welt sein, historische Aufzeichnungen des frühen Mittelalters sprechen eine andere Sprache. Ich glaube kaum, daß beispielsweise ein Sumerer ein gewaltiges Jobangebot hatte.
Täusch dich da mal nicht.
1. Wir haben vergleichsweise wenig historische Aufzeichnungen über das persönliche, tatsächliche Alltagsleben von Menschen. Das schien über große Teile der Menschheitsgeschichte hinweg nicht wichtig genug, dass die wenigen Menschen, die schreiben konnten, das tatsächlich niederlegten. Wir können uns das alles also niemals im höchsten Detailgrad herleiten.
Tatsächlich gibt es sogar gute Gründe, anzunehmen, dass die Menschen auf dem Land zumindest in der frühen Neuzeit auch viel "Freizeit" hatten (in Anführungszeichen deshalb, weil natürlich die Haushaltsführung wesentlich aufwändiger war als sie heute ist). Aber beispielsweise in den Monaten, in denen es länger dunkel ist, konnten die Menschen mangels Lichtquellen schlicht und ergreifend nicht viel arbeiten. Also: Viel Zeit für Müßiggang (solange der nicht viel Licht erfordert).
2. Berufe waren früher längst nicht so spezialisiert wie heute. Die Menschen mussten noch eine ganze Menge mehr Dinge erledigen, die streng genommen nicht zum Berufsbild gehörten. Auch da ist Platz dafür, individuelle Interessen auszudefinieren.
3. Menschen heute haben Interessen, Talente, Hobbies und Steckenpferde. Sie haben das Bedürfnis diesen nachzugehen. Warum sollten wir annehmen, dass entweder der erste, noch der zweite Satz damals nicht gestimmt haben?
Man kann die Charaktere mit Serienhelden vergleichen. In einer Krimiserie sind eben alle in irgendeiner Form Kriminologen. In einer Farmserie sind eben alle Bauern und Viehhüter. Ausflüge in branchenfremdes Terrain wird es seltenst geben. Ausnahmen bilden einzig Einzelgänger, wie "Der Mann aus den Bergen", der als Eremit sein Alleskönnerdasein fristet.
Gerade wenn wir Charaktere mit Serienhelden vergleichen, geht dein Vergleich nicht auf. In einer Krimiserie müssen eben nicht alle Protagonisten auch Kriminologen sein (sie können auch Mentalisten, Buchautoren, erfolglose Off-Broadway-Regisseure, High School-Schüler oder betrunkene Frauen am Fenster gegenüber sein) – es reicht, dass sie irgendwas mit dem Kriminalfall zu tun haben. Ich würde sogar sagen, dass heterogene Gruppen (der sprichwörtliche
Ragtag Bunch of Misfits) ebenso häufig vorkommen, wie homogene. Klar, die werden alle irgendeine Verbindung miteinander haben, aber die liegt nicht unbedingt in ihrer Profession begründet. Und gerade in (beruflich) besonders heterogenen Gruppen arbeiten Serien, um den Vergleich zu bemühen, sehr gerne mit Player-vs-Player-Konflikten.
Bei "Grey's Anatomy" mögen sie alle Ärzte sein... aber es sind nicht unbedingt alle Ärzte, die einander mögen.
Und Ausflüge in branchenfernes Terrain hast du auch ständig. Manche Serien leben quasi davon, dass die Charaktere immer wieder in branchenfernes Terrain brechen. "Supernatural" oder ähnliche Monster-of-the-Week-Serien sind da ein gutes Beispiel, weil da die Charaktere oft auch durch unvertraute Situationen dazulernen müssen. Aber auch Drama-Serien, besonders Familiendramaserien wie z.B. "This Is Us", versetzen die Charaktere ständig in neue Situationen. Da wird ein Schauspieler zum Sozialarbeiter oder ein Wetterversicherungsanalyst zum Bürgermeister.
Zum Thema selbst:
Ich empfehle dir wirklich, wie einige andere meiner Vorredner, die Spieler einzubeziehen und die Charaktererschaffung grundsätzlich gemeinsam zu machen. Dann werden die Charaktere dabei noch persönlich miteinander verknüpft und ihr überlegt euch als Ganzes, was ihr für eine Kampagne spielen wollt und warum die Charaktere eine Motivation haben könnten, zusammenzuarbeiten oder einander zu vertrauen. Und auch wo die Konfliktlinien innerhalb der Gruppe liegen.
"City of Mist" macht mit seinen "Crew Themes" da einige gute Vorschläge und die haben sogar auch eine regeltechnische Ebene.