Shadrack hält dem Soldaten beide Pistolenläufe ins Gesicht, und sagt, gerade laut genug, um es über das Prasseln des Regens zu verstehen, "Jetzt ist Schluss mit Südstaaten-Aufstand. Von wem habt Ihr Kerle Eure Befehle? Diesem Texas Ranger?"
"Ich sag' Dir gar nichts, Du Yankee-Sau!", schimpft der Gefangene, wenn auch kraftlos.
"Für Dich geht's hier um alles oder nichts, begreifst Du nicht? Konzentrier' Dich,
beantworte meine Frage! Was wollen die Texas Rangers von den Sioux? Kann Euch Witzfiguren doch egal sein, was die machen, noch dazu hier draußen in Kalifornien, die Sioux Nations sind doch wohl ein Problem der Nordstaatler! Wie heißt der Ranger, der Deine Kollegen von der Kavallerie anführt?"
Wasser rinnt von Shadracks Zylinderkrempe und der Spitze seines schwarzen Bartes, sein Blick wirkt durchdringend.
"Wir sind eigentlich nur eine Grenzpatroullie! Diese Sioux, die haben sich bei der Sierra Nevada verdammt verdächtig gemacht! Ein ganzer Volksumzug ist das ja, und ständig sind sie uns wieder entwischt! Als wäre da Hexerei im Spiel, irgendein Schabernack! Und die Sioux sind verdammt nochmal auch unser Problem, wenn sie sich in Kalifornien rumtreiben, denn Kalifornien gehört bald der Konföderation! ... Der Ranger hat das Kommando spontan übernommen vor ein paar Tagen. Die Sache muss schließlich aufgeklärt werden! An die fünfzig oder so heidnische Scheißgesichter hier draußen, die führen doch was im Schilde! Der Ranger ist wohl ursprünglich wegen was ganz anderem hier unterwegs. Wissen wir nicht. Wahrscheinlich Geheimsache!"
"So, so. Irgendwas mit irgend einem gottverdammten Deserteur vielleicht ...!", sagt Shadrack mit einem fiesen Lächeln, und wirft Mister Byrd einen herausfordernden Seitenblick zu, "wie heißt der Kerl?"
"Jim Smith! ... Irgendein Deserteur? Weiß ich doch nicht! Sicher alles Geheimsache! Er ist verdammt nochmal ein Texas Ranger, Sie Yankee-Abschaum, der hält alles unter Verschluss! Er hat immer nur mit unserem Captain geredet, unter vier Augen! Augenscheinlich ging's für uns alle nur um die dreckigen Rothäute! Wir wollten uns regruppieren, um uns als nächstes mit deren Krempel zurückzuziehen, zum nächsten konföderierten Fort."
"Jim Smith, ja?", fragt Shadrack, wieder an Byrd gewandt, der aber nur bedröppelt guckt.
"Also dann. Sie scheren sich besser pronto zurück nach Dixieland, zu Ihren hinterweltlerischen Gesinnungsgenossen. Hier draußen ist der Westen ein wenig zu wild für Ihre Truppe. Oder?", fragt Shadrack den Gefangenen mitleidlos.
May B. watet durch eine der Wasserlachen näher, und sagt, "Wollen Sie das Pack etwa ungestraft entkommen lassen? Eben wollten die Mistkerle mich noch ausstopfen für ihr Museum!"
"Ich glaube, die sind gestraft genug", entgegnet Shadrack geringschätzig, und nimmt mit theatralischer Geste die Pistolen hoch.
Der Gefangene atmet unwillkürlich auf, aber behält den Blick gesenkt.
Die Wild Cards verzurren wieder alle Ware auf dem Karren, und überprüfen auch die ledernen Taschen mit dem Bargeld der Sioux. Der Regen hört ähnlich plötzlich wieder auf, wie er eingesetzt hat. Die Angeschossenen werden provisorisch verarztet, damit sie nicht leer laufen; aber Shadrack und May B. nehmen den Erschossenen jeweils eins ihrer Winchester-Gewehre weg. Die sind in ihrem Besitz jetzt wohl nützlicher.
"... Den Bone Fiend haben wir für Euch weggeräumt, Jungens, an dem Wasserfall könnt Ihr jetzt wieder gefahrlos vorbei!", verkündet Byrd und tippt sich freundlich an die Hutkrempe.
May B. ergänzt grimmig, "Aber seht bloss zu, dass Ihr noch ein Weilchen wartet, bis Ihr aus dem Canyon raus latscht. Wir werden nun mal leicht nervös, wenn wir unangekündigt Schritte hinter uns hören! Ihr habt ja gesehen, was dann passiert."
Die entwaffneten Soldaten bedenken sie mit wütenden Blicken.
Byrd winkt ab, "Na ja, nix für ungut! Und überlegt Euch lieber künftig zweimal, ob Ihr hier draußen Indianer beklauen wollt!"
☆
Auf einer grasbewachsenen Ebene in Sichtweite der Stadt haben die Sioux sich einen Lagerplatz gewählt. Hier werden ihre Verwundeten versorgt und an Feuerstellen Essen zubereitet. Die ersten der Tipis stehen bereits, und viele weitere sollen offensichtlich umgehend folgen.
John Bloody Knife übergibt in feierlicher Geste einer der anderen Sioux ihr Erbstück, den Medizinschild. Ihr Name scheint Hope In Winter zu sein. Mit sehr ernstem Gesicht lehnt sie ab, und erklärt etwas auf Algonkin: Sie gibt den Schild an John Bloody Knife weiter, der ihn mit der ruhmreichen Tat an diesem Tag verdient hat. John zögert überrascht, dann akzeptiert er die Ehre dankend.
Die Krieger sichten den Karren mit der geretteten Ware, dies wird den Aufbau des Indianerlagers sichern, und die nächsten zwielichtigen Unternehmungen der Sioux Union hier in der Region. Die Weitgereisten danken den Wild Cards, und beteiligen sie an der wiedererlangten Beute; Geld, das unsere Helden tatsächlich gut gebrauchen können für ihre eigenen Vorhaben in der Stadt. Schließlich werden alle zum Essen an die Feuerstellen zusammengerufen, die Wild Cards scheinen heute als Ehrengäste betrachtet zu werden. Dennoch werden sie von allen Seiten sehr vorsichtig beäugt. Viele der Sioux und deren Verbündete aus anderen Indianerstämmen sprechen Englisch, aber viele andere verstehen offensichtlich kein Wort, das die Bleichgesichter sagen. Die beiden Komantschen, welche die Wild Cards damals in Syracuse getroffen haben, sind ebenfalls hier, und begrüßen May B. und Luca freudig, ganz so, als wäre es nie zweifelhaft gewesen, dass sie alle sich hier wiedertreffen würden. Sie hatten es schließlich damals schon behauptet. May B. zückt beim Essen eins ihrer Okkultbüchlein, liest darin, als wäre es ein Vokabelheft, und versucht sich schließlich an ihrem neuen
Speak Language-Hexenspruch. Wispernd stellt sie den Umsitzenden Fragen zu ihrer Reise, welche in deren Ohren auf Algonkin ankommen, oder in der jeweiligen anderen Sprachgruppe, zu der diese Zuhörer gehören. Einige der Umsitzenden sind verblüfft oder erschrocken über May B.s unerwartete Sprachkenntnisse (und ihre scheinbar exzentrische Gepflogenheit, nur im Flüsterton zu sprechen — was sie in Wirklichkeit aber tun muss, weil ich das
Trapping der neuen Kraft so definiert habe). Viele scheinen sich jedoch gar nicht daran zu stören, für die Anhänger der Alten Wege sind magische Phänomene offensichtlich ein Teil ihrer täglichen Lebenswelt. May B. überkommt zunehmend ein Gefühl von Faszination für diese Leute.
☆
Nach dem Mahl werden Bloody Knife und seine Verbündeten in eines der bereits errichteten Tipi-Zelte gebeten. Hier erwartet sie im Schneidersitz Joseph Eyes-Like-Rain mit einigen seiner alten Vertrauten.
"Willkommen im Kreise der Sioux Union", sagt Joseph feierlich, "so wie Ihr uns geholfen habt, wollen wir Euch auch Hilfe geben."
"Großartig!", sagt May prompt, "es gibt nämlich ziemlich viele Dinge, die wir gern von Euch wissen wollen!"
Einige der älteren Sioux im Hintergrund schauen sie recht reserviert an, für sie ist es unüblich, dass eine Squaw das Wort an sich reißt.
Joseph aber nickt ihr zu, und sagt: "Mein Sohn berichtete mir, dass Ihr so wie wir auf dem Kriegspfad seid gegen die Mächte des Reckoning?"
Rex Shadrack dreht nervös seinen Zylinder zwischen den Fingern, und sagt, "Wir sollten dieses Thema nicht im großen Kreis besprechen, Mister Eyes-Like-Rain. Das wäre viel zu gefährlich. Nicht alle von uns sind gleichermaßen in derlei Dinge verwickelt", und er sieht herüber zu Joycelyn.
Joseph entgegnet: "Aber Ihr alle seid nun gemeinsam hier, noch dazu nach Eurem Sieg gegen Hohú Khokípha, jenes schreckliche Ungeheuer, das die Weißen einen Bone Fiend nennen!"
Joycelyn sieht unsicher Rex an.
May B. sagt, "Halten Sie doch den Schnabel, Mister Shadrack, Joycelyn ist doch längst in das meiste eingeweiht! Es gibt überhaupt keinen Grund, nicht auch jetzt offen mit ihr zu reden. Sie begleitet uns schon seit Wochen."
Shadrack bringt vor, "Aber sie hat nie irgendwelche Fragen zum Reckoning gestellt. ... Für Sie, Miss Lancaster, ist es noch nicht zu spät, auszusteigen. Wenn Sie wenig wissen, kann Ihnen auch weniger geschehen. Sie können leichter zurück in Ihr bürgerliches Leben, zu ihrer Familie, ihren Verehrern, zu Ihrer glamourösen Karriere, und was weiß ich. Sie sollten sich darüber sehr klar sein, bevor Sie weiter zuhören!"
Joycelyn macht schmale Lippen, und entgegnet dann, "Sie vergessen, dass ich in den Westen hinaus geholt worden bin, um für die Black River-Eisenbahn zu arbeiten. Ich wusste schon, dass es Hexerei gibt, als ich losgefahren bin ... Und Miss Wickett hat mich gewarnt, dass es sowieso kein Zurück gibt, zumindest nicht zurück nach Chicago ...?"
Joseph Eyes-Like-Rain nickt langsam, und sagt mit einem Lächeln: "Nach unserem ersten Zusammentreffen heute Vormittag haben die
Kachina zu mir gesprochen. Dies sind sehr heilige Geister der Erdmutter. Sie setzten mich in Kenntnis darüber, dass Ihr Euch gegenseitig nicht genau kennt. Als wärt Ihr Brüder und Schwestern, und zur gleichen Zeit Fremde füreinander. Auch wir Sioux kennen Euch noch nicht. Es bedarf einer Vorstellung. Ich bitte nun Sie, Mister Byrd, für uns jenes jüngste Mitglied ihrer Gruppe vorzustellen, wegen deren Hiersein Bedenken geäußert wurden, Miss Lancaster. Dann können wir alle gemeinsam entscheiden."
Byrd blinzelt etwas überrascht, aber grinst dann schelmisch, und antwortet, "Na denn, wenn das unter Euch Sioux der Brauch ist!"
Er mustert Joycelyn wohlwollend, und sie errötet unwillkürlich ein bisschen. May B. schnaubt genervt, und wirft Luca Byrd einen bösen Blick zu.
Der Gunslinger fährt heiter fort: "Es gibt aber ja überhaupt keinen Grund, die liebreizende Joycelyn hier rauszuschmeißen. Sie ist nicht nur mutiger als man auf ersten Blick denkt, sondern auch erfinderisch. Sie ist in das Ganze hier nur so reingeraten. Hat sie uns ja grade selbst gesagt. Eigentlich ist sie berühmt in ihrer Heimatstadt, muss man wissen. Eine der Zugfirmen hat sie insgeheim unter Vertrag genommen, um in Barricade alle möglichen Entscheidungsträger um ihren Finger zu wickeln. Seitdem ist sie quasi aufgeschmissen mit uns, Barricade gibt's ja nicht mehr, ihre Truppe gibt's nicht mehr, und bezahlt worden ist die Ärmste auch nicht! Aber sie hat ja Miss May hier. An der klebt sie ziemlich. Na ja, man weiß bisweilen nicht so genau, wer jetzt die Nase vorn hat. Ist unsere May B. eher wohl oder übel die Schuhzubinderin, oder die Leibwächterin? Die Kommandostruktur von Black River ist ja jetzt für beide unerheblich geworden, wer von den beiden sagt also der anderen, wo's langgeht? Ist ehrlich gesagt auf 'ne Art zuckersüß mit anzusehen. Na, aber jedenfalls ist Miss Lancaster eine, auf deren Einfallsreichtum man sich voll verlassen kann. Sie hat uns ein paarmal den Allerwertesten gerettet, sie kann nämlich so richtig gut mit Leuten umgehen."
Joseph nickt ernst, und sagt, "Dann, Miss Lancaster, stellen nun Sie uns bitte den Krieger John Bloody Knife vor."
Joycelyn guckt verdutzt, und erwidert, "Aber das ist doch Ihr Sohn! Den kennen Sie ja viel besser als ich ...!"
Der Schamane antwortet, "Darum geht es mir auch nicht. Sprechen Sie, bitte."
"Also gut, wenn Sie wollen, also schön ... Immerhin hatten Sie ihn ja auch wochenlang aus den Augen verloren, nicht wahr. John Bloody Knife ist ... trotz dem unschönen Namen ... ein großer Krieger, nicht wahr? Ich hab' jedenfalls gesehen wie er einer ganzen Handvoll lebender Toter die Köpfe abgeschlagen hat, mit nur einem einzigen Streich! Und die Südstaatler vorhin waren glaub' ich auch nicht besser dran! Mich hat er einmal mit einem Wurfspeer vor einer zudringlichen Nachtwache gerettet. Na ja, er scheint uns Weiße nicht zu mögen. Kann man ja verstehen, wenn man drüber nachdenkt. Er hat wohl unterwegs gesagt, er war mit bei der Schlacht gegen Custer am Little Big Horn. Ehrlich gesagt wusste ich eigentlich nichts über die Gründung der Sioux Nations, als ich meine Fahrt in den Westen angetreten gabe, das habe ich mir unterwegs erst angelesen. Äh, und Mister Bloody Knife ist so wie Sie ein Anhänger dieser ... Alten Wege, aber noch nicht so lange. Eigentlich muss das ziemlich schlimm für ihn gewesen sein, als er in Salt Lake City festgehalten wurde, da ist ja alles voll von Maschinen. Ich glaube, die Zugfahrt von da nach Virginia City war auch ziemlich schlimm, er wollte ursprünglich ganz zu Fuß gehen. Ich habe das Gefühl, er ist sehr froh, jetzt hier zu sein, als wäre dieser Ort, dieses Gomorra Valley, der Ort seiner schlussendlichen Bestimmung. Ähm, ich habe bestimmt ganz viel vergessen, ich weiß eben auch nicht so viel über Mister Bloody Knife. Er ist sehr schweigsam."
Joseph Eyes-Like-Rain schmunzelt hintersinnig, und bittet, "Als dann, John Bloody Knife, sei' so gut und stelle uns May B. Wickett vor."
Der Sohn antwortet zögerlich: "Schöne Frau mit selbst gemachtem Namen. Halb
Wasichu. Scheint ihrem Vater seine Verbrechen eigentlich nicht vorzuwerfen. Das alles ist sehr fern. Nirgendwo wirklich zuhause. Man sagt über sie, sie sieht manchmal die Geister toter Leute. Hat dem Dampfross gedient wie so viele der Wasichu es tun. Hat zu spät gemerkt, dass das ein schrecklicher Fehler war. Hat sich von ihren Herinnen abgewandt, aber vielleicht war das zu spät. Kehrt sie in die Südstaaten zurück, wird das Dampfross sie zerstören. Wegen ihr sind die drei anderen nach Gomorra gekommen, aber eigentlich nur, um sie hier abzuliefern. Luca Byrd hat gesagt, sie hätte die Macht einer Medizinfrau, aber das stimmt nicht. Neulich hieß es, sie hätte die Kraft zu fliegen. Vorhin habe ich es selbst gesehen, wie sie das Wetter beherrscht! Sie ist eine Hexe, weil sie dem Dampfross gedient hat, und wird sich nie ganz vom Dampfross befreien können. Nun hat sie erneut keine Wurzeln, und braucht die anderen, um nicht ganz und gar verloren zu sein. Ich habe gesprochen."
Der Schamane nickt bedächtig, und sagt dann, "Dann, May B. Wickett, stelle Du uns bitte Rex Shadrack vor."
May B. pustet sich genervt eine Locke aus dem Gesicht, und murrt, "Das kann wohl niemand so richtig, so geheimnistuerisch, wie der Kerl ist. Augenscheinlich ein überheblicher Yankee-Kopfgeldjäger aus Neuengland, der für Wasatch und Union Blue gearbeitet hat. Und sobald man was über seinen arkanen Hintergrund sagt, oder gar über seinen damaligen Lehrer, wird er richtig fies, und beginnt, Drohungen auszusprechen! Das kann er gut, alle Leute zittern vor ihm, wenn er will. Na, meinetwegen, ich will's mal versuchen. Shadrack ist total hochnäsig. Er glaubt, er ist der dickste Macker, und der Boss von diesem Aufgebot. Ich meine, er drückt sich nicht so aus, weil er zu unserem Boss erwählt werden will, er ist so hochnäsig, dass er von vornherein glaubt, es schon zu sein. Auf der anderen Seite — und das ist eigentlich das Witzige an Shadrack — ist er ein richtiger Hasenfuß. Ich meine, er hat so lange über das Reckoning recherchiert, dass es ihn um den Verstand gebracht hat, und er ist heutzutage ziemlich feige! Ich mein', er hat immer Schwierigkeiten, die Nerven zu behalten, wenn es zu spuken beginnt, und das ist in den vergangenen Wochen sogar noch schlimmer geworden. Mittlerweile wird er immer blass um die Nase, wenn Walkin' Dead aufkreuzen, und er hat seit Kurzem so ein komisches Zucken im einen Auge deswegen. Auf der anderen Seite ist er derjenige von uns, der das Ganze Phänomen am dringlichsten erforschen will. Als hinge das Schicksal der ganzen Welt davon ab. Zur Hölle aber auch, was es vielleicht ja auch tut! Hm, eigentlich könnte man sogar sagen, dass er der Mutigste von uns allen ist, wenn man so will. Er muss am härtesten gegen seine Angst vor dem allen kämpfen — und er stellt sich dieser Angst trotzdem immer wieder. Hab' ich eigentlich so noch nie drüber nachgedacht! Hut ab, Shadrack, sie gehen mir ziemlich auf den Zeiger, aber ich bin auch froh, mit ihnen zusammenzuarbeiten!"
Rex guckt finster, er wird offensichtlich sehr ungern bewertet.
"Außerdem bin ich der beste Schütze in unserem Aufgebot, nicht zu vergessen", grummelt er.
May B. muss leise lachen, und fügt hinzu, "Stimmt, dafür aber ein relativ schlampiger Huckster. Dafür, dass Sie schon so dermaßen viel erlebt haben, haben Sie ihre Studien scheinbar ziemlich schleifen lassen. Ein Greenhorn mit einer Ausgabe von Hoyle's Buch der Spiele kann wahrscheinlich in ein paar Monaten mehr Tricks lernen, als Sie in all diesen Jahren!"
"Es gibt im Leben neben dem Luxus nun mal auch die Notwendigkeiten!", knurrt der Hexslinger.
Joseph Eyes-Like-Rain fordert ihn auf: "Um den Kreis zu schließen, Mister Shadrack, stellen Sie uns bitte Mister Luca Byrd vor."
Der Angesprochene verschränkt abschätzig die Arme und mustert den anderen Revolverhelden, dann entgegnet er: "Könnte aber sein, dass auch er in Wirklichkeit unter falschem Namen reist! Er sieht aus wie ein Südstaatler-Soldat, wie er im Buche steht, ja, aber gelegentlich heißt es, er ist in Wirklichkeit Italiener. Neulich überraschte er plötzlich mit Sprachkenntnissen. Wir wissen nur, dass er der Konföderation gedient hat, bis er schließlich schlau genug war, von dem Scheißverein zu desertieren. Wir wissen, dass er sich als Gunslinger einen Namen zu machen versucht, aber er scheint es nicht sonderlich eilig damit zu haben. Vielleicht, weil er undiszipliniert und unambitioniert ist. Einerseits ist er so auffällig angezogen wie es nur geht mit seiner albernen, weißen Kluft, andererseits bleibt er gerne ein Niemand, unerwähnt im Hintergrund, wenn Leute Fragen zu stellen beginnen. Seit New York City folgt er mir wie eine Klette, mittlerweile haben wir buchstäblich den ganzen Kontinent durchquert. Ehrlich gesagt ist mir völlig schleierhaft, wie ich das ausgehalten habe. Nun, seine Schießkünste sind tatsächlich sehr nützlich. Vorhin aber, Mister Byrd, schien ein Texas Ranger sie wiedererkannt zu haben! Ehrlich gesagt lässt das in mir alle Alarmglocken schrillen. Runden Sie meine Beschreibung Ihrer illustren Person doch ab, indem Sie uns darüber aufklären. Sie kannten den Mann ihrerseits auch, daran besteht kein Zweifel."
"Jim Smith?", fragt Byrd belustigt, "was glauben Sie, wie viele Jim Smiths in unseren beiden Ländern gibt! Vermutlich auch ein Deckname!"
"Aber wer war dieser Ranger wirklich? Sucht die Geheimpolizei Sie?!"
Byrd winkt ab, "Zufallstreffer! Mich sucht das Militär wegen der Fahnenflucht, nicht die Texas Rangers. Den Kerl kenne ich aus dem Bürgerkrieg, glaube ich, ich konnte ja vorhin sein Gesicht gar nicht genau erkennen in dem ganzen Staub. Scheint mittlerweile von der Infanterie zu den Rangers gewechselt zu sein, ein ordentlicher Werdegang, wahrscheinlich mit einer ebenso ordentlichen Gehaltserhöhung, der glückliche Hund!"
Joseph ergreift wieder das Wort: "Nun kennen wir uns ein wenig besser. Ich, meine Freunde, bin Joseph Eyes-Like-Rain, Medizinmann vom Stamme der Lakota, welche vom Weißen Mann fälschlich als Sioux bezeichnet werden. Ich beschreite die Alten Wege meiner Vorfahren, seit die Bewegung vor Jahren aufkam, im Zuge des Reckoning des schändlichen Medizinmannes Raven. Daheim in den heiligen Black Hills haben die Kachina mir eine Vision gegeben. Diese Vision hat mich noch mehr aufgerüttelt als der Krieg der roten Brüder und Schwestern gegen die US-Armee und die Verschwörung der Ravenites. Es stimmt: Seit dem Reckoning des Raven ist dieses Land im Wandel. Er schreitet jedoch weiter fort. Der Geistertanz der Paiute ist ein klares Zeichen, und es heißt, die Geburt des weißen Büffelkalbs wird von vielen bereits erwartet, wenn die Weiße Büffelfrau zur Erde hernieder steigen wird und die ganze Welt verändern. Die große Vision jedoch, welche die
Kachina mir für das Gomorra Valley vorhergesagt haben, war schrecklich, voller Ruhm, Blut, Feuer; Rivalität und Freundschaft. Ein Wendepunkt. Schon sammeln sich ganze Ströme von Manitous und Naturgeister an diesem Ort, so wie die unbarmherzigen Kräfte des Weißen Gottes, wir alle folgen nur dem unsichtbaren Sog, denn wir werden menschliche Verbündete der Unsichtbaren sein. Ich vermag nicht vor Weißen darüber zu sprechen, es ist mir nicht erlaubt. Da Ihr aber Krieger im Kampf gegen die Albträume des Reckoning seid, seid gewarnt: Meine Vision wird sich bald bewahrheiten."
Joycelyn traut sich zu fragen: "Was soll denn Ihrer Meinung nach bei diesem Reckoning vor 13 Jahren geschehen sein? Das soll doch das Ereignis gewesen sein, das hier in Kalifornien das Große Beben ausgelöst hat, nicht?"
Joseph antwortet zögerlich, "Die Legende besagt, dass Raven der Letzte vom Stamm der Susquehanna-Indianer ist. All seine Brüder sind den Weißen Mann zu Opfer gefallen. Er sucht seitdem Vergeltung. Er hat eine geheime Grabstelle der Micmac wiederentdeckt, wo er in der Lage war, etwas zu tun, das vorher lange Zeit undenkbar war: Er hat eine Tür in die Ewigen Jagdgründe geöffnet. Nicht nur für seinen Geist, so wie wir es auf unseren Visions-Questen tun, sondern auch für seinen Körper. Und er war in Begleitung seiner Kriegergruppe, die er die Letzten Söhne nannte. In den Ewigen Jagdgründen hat er den Altvorderen Weisen ihren Sieg gestohlen, den sie einst im Großen Geisterkrieg errungen hatten — und damit die Reckoners wieder befreit."
Shadrack fragt interessiert: "Oho! Sie glauben an den Großen Geisterkrieg, Mister Eyes-Like-Rain?"
Joseph nickt ernst.
"Was soll das gewesen sein?", fragt May B., "hängt das mit der einstigen Tilgung von Magie von der Erde zusammen? Meine Lehrmeisterinnen in Wichita haben dazu immer nur Andeutungen gemacht ..."
Der Schamane antwortet in gesenkter Stimme, "Es ist so. Im Großen Geisterkrieg waren die Altvorderen Weisen auf ihrem Kriegspfad in den Ewigen Jagdgründen, um Nordamerika von den Reckoners zu befreien. Die Opfer waren unaussprechlich. Ihr Kampf aber war siegreich: Jene Wesenheiten, welche wir die Reckoners nennen, wurden von der Erde abgeschnitten, und verloren ihren Zugriff auf die Menschheit. Vielleicht verfielen sie in einen Todesschlaf. Vielleicht wandten sie auch ihre Augen auf andere Welten. Welten wie unsere, und doch so anders, dass wir sie uns nicht einmal erträumen könnten. Für den Weißen Mann heißt diese Zeit das Mittelalter. Alle Geister verstummten, nicht nur die Manitous der Reckoners, sondern auch die Geister der Erdmutter und unsere Totems. Die Magie verschwand beinahe von unserer Welt. So auch die Schrecken, die in altvorderer Zeit von den Reckoners über unsere Vorfahren gebracht wurden: Es herrschte Frieden."
Joycelyn fragt leise: "Und dieser Raven ... hat das alles ungeschehen gemacht, nur um Rache zu nehmen an den Weißen?"
Joseph Eyes-Like-Rain antwortet schwermütig, "Vielleicht muss man Raven verstehen: Er ist der Letzte seines Stammes, er hat womöglich gedacht, das Ende aller Dinge sei bereits erreicht, das Ende der Welt. Aber in seinem Zorn hat er sich geirrt. Jetzt, 13 Jahre später wissen wir: Das Ende der Welt kommt jetzt erst, als Folge seiner Taten. Das Gomorra Valley ist dabei nun von größter Bedeutung, es wird das Auge des Sturms sein."