Für mich ist die Frage, wann ein Charakter sich kompetent anfühlt, einer der zentralen Punkte der Charakterphantasie im Rollenspiel überhaupt.
Ganz allgemein gilt für mich im Rollenspiel das gleiche Maß wie in klassischen Medien auch. Eine Figur ist dann kompetent, wenn sie die ihr zugeschriebene Rolle unter für diese Rolle normalen Umständen problemlos bewältigen kann. Ein Duellist gewinnt die meisten Duelle gegen unterlegene Gegner, weil es die Charakterfantasie eines Duellisten ist, dass er besser ist als die meisten. Ein Hacker der an einem Heist teilnimmt, kann fast alle Computersysteme knacken, mit denen es Hacker für gewöhnlich zu tun bekommen. Ein Jagdpilot qualifiziert als Fliegerass und kann normale Feindpiloten auch dann abschießen, wenn er zahlenmäßig unterlegen ist.
Die Herausforderung, und damit der regelmechanisch spannende Part, ist ja nicht die Chance in gewöhnlichen Situationen zu versagen. Es ist die Frage, was es einer Figur abverlangt in außergewöhnlichen Situationen Erfolg zu haben. Auch dann ist aber nicht so sehr die Frage entscheidend OB die Figur die besondere Situation meistern kann, sondern wie oft ihr das unter Druck gelingt. Das zugrundeliegende System sollte aber statistisch überwiegend Erfolg garantieren, wann immer keine besonderen Umstände vorliegen. Nicht das Scheitern ist dann eine Frage kurzfristiger Spannung. Das führt nur zu Versagensmaschinen wie viele Systeme sie erzeugen. Welche Entscheidungen müssen die Spieler treffen, welche Abwägungen vornehmen und welchen Einsatz einbringen, um dann zu glänzen, wenn es drauf ankommt.
Das entscheidet über Kompetenz einer Figur, oder Inkompetenz.
Allerdings gehe ich nie davon aus, dass man irgendwelche Ottonormalverbraucher spielt. Man muss keinen Helden spielen, keinen Übermenschen. Was man aber im Rollenspiel immer tun sollte, ist einen Protagonisten zu verkörpern. Die Simulation der Normalität produziert nur wenig Spannung, vor allem aber kaum gute Geschichten. Normalen Menschen passieren nur wenige spannende Dinge im Leben und mitunter versagen sie in völlig banalen und langweiligen Situationen. Es gab schon Spitzensportler, die sich schwer verletzten beim Versuch eine Glühbirne zu wechseln. Sogar Elektriker kamen dabei bereits zu Tode. Aber die waren dann ja auch nicht die Protagonisten einer spannenden Geschichte mit mehreren anderen Protagonisten. Ihre Geschichte nachzuspielen wäre mitunter überraschend, aber in der statistischen Mehrheit aller Fälle alles andere als interessant. Zumal die meisten Systeme einen sehr schnell in einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale gefangensetzen. Selbst Kompetenz hilft dann nicht mehr viel.
Ein kompetenter Charakter sollte daher auch dann kompetent sein, wenn er nicht mit seiner optimalen Ausrüstung agiert. Die ermöglicht ihm übermenschliches zu leisten, aber wenn der Barbarenkrieger ohne seine Axt, seinen Helm und seine Rüstung in einer einfachen Kneipenschlägerei mit drei Stallknechten und einem betrunkenen Wachmann verdroschen wird, dann wirkt er auf einmal inkompetent, auch wenn er mit seiner Ausrüstung am Vortag zehn Oger zerhackt hat. Ausrüstungsabhängigkeit finde ich daher immer etwas schwierig, für die Beurteilung von Charakterkompetenz. In manchen Genres brauchen bestimmte Figuren bestimmte Objekte zwingend. Ein Cyberpunk Netrunner kann nicht netrunnen ohne sein Cyberdeck. Aber er sollte trotzdem noch ein kompetenter Techniker und Computerfachmann sein.
Daher ist es auch wichtig, dass Systeme nicht dazu zwingen (oder übermäßig verleiten) alle Eier in einen Korb zu legen. Da wird es dann oft spannend im Rollenspiel, weil auch das Gruppendesign und das Storydesign dabei Hand in Hand gehen. Gerade überlappende Fachbereiche können dazu führen, dass eine Figur auf einmal weniger kompetent wirkt, wenn jemand anderes ihr Fachgebiet als Nebengebiet fast genauso gut kann, oder gerade so gut, dass sie genau dann immer erfolgreich ist, wenn der Spezialist aufgrund der Würfel versagt. Das kann für die Person am Spieltisch sogar regelrecht demütigend sein und hat das Potential die Charakterfantasie zu demontieren, wenn es zu oft passiert. Je nach System kann man da allerdings mit Spezialfähigkeiten Abhilfe schaffen, die manche Figuren schlicht nicht besitzen und die dann einen erweiterten Aspekt der Kompetenz bilden.