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[Ich erzähle von] Eat The Reich

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Hotzenplot:
Oh, ein ETR Thread, sehr schön :)


Ich habe ETR inzwischen 2x geleitet, jeweils auf Rollenspieltreffen (also nicht mit einer "festen" Runde). Beides Mal wurde die Runde aber in einem Forum (einmal davon hier im Tanelorn für das Tanelorn-Treffen) vorab angekündigt und die Besetzung der Spieler*innen geklärt. Beim Tanelorn-Treffen kannte ich aber alle Spieler gut genug, und habe keine großen Worte zum Spiel verloren. Beim ersten Mal, als ich nur einen von den Spielern überhaupt kannte, habe ich das aber schon gemacht. Auch da kannten sich die Leute untereinander aber relativ gut. Aufgrund der politischen Aussage ist das Spiel meiner Meinung nach nur bedingt geeignet, es sozusagen ohne Vorwarnung auf einer Con oder so zu leiten.

Ich kaufe eigentlich nicht mehr viele Rollenspiele, aber mit der Prämisse, durchgeknallte Vampire auf der Mission, Hitlers Blut zu trinken zu spielen, hatten mich die Macher sofort. Allgemein stehe ich auf Nazi-Killer Pulp, man musste mich also nicht groß überzeugen.

Wie es aussieht
Mir gefällt das Layout und Design außerordentlich gut - auch wenn das Buch dadurch schwer lesbar ist. Zum Glück war im Kickstarter eine Nur-Text-pdf dabei, was es Menschen mit Farbenblindheit (so einen hatte ich jetzt am Wochenende am Tisch) extrem erleichtert.
Per Online-Zugang kann man noch auf allen möglichen hilfreichen Kram zugreifen (auf der Website gibt es dann Items, NSC, Grafiken und Soundeffekte). Davon habe ich am Wochenende nur die Soundeffekte benutzt, der Rest sah aber auch gut aus.

Die ethische Haltung
Die politische Aussage in dem Spiel ist sehr deutlich.

--- Zitat ---This game is not, in and of itself, an act of resistance; it is an act of creativity which reflects our frustration with the real world’s ongoing nazi problem.
--- Ende Zitat ---
Ich empfehle niemandem, das Buch zu lesen, der nicht eine deutliche anti-faschistische Haltung hat. Was nicht heißt, dass jeder, der sich darunter subsumiert, dieses Buch mögen muss.
Die Autoren nehmen sich jedenfalls hinreichend Zeit bzw. Platz einige Dinge zu klären. Playing Safe (X-Card etc.), aber auch der Umgang mit gespielter Diskriminierung (bzw. eben diese wegzulassen und nicht zu sagen "ich spiele ja nur einen Nazi-NSC!"). Es gibt eine "Evil Calibration Checklist", bei der man sich mit der Spielrunde aussuchen kann, wie man es spielen kann (gibt es zum Beispiel zivile Opfer und wie ist es mit der Übermenschlichkeit der Vampire?).
Das Besprechen von Diskriminierung am Spieltisch in so einem "historischen" Setting gefällt mir gut (hat mir auch schon sehr gut bei Harlem Unbound gefallen (Umgang mit dem N-Wort)) und diesen Abschnitt würde ich auch völlig unabhängig von ETR empfehlen.

Das System
Sie nennen es Havoc Engine. Ich kannte das System vorher nicht, aber es ist eigentlich bei dem ganzen Teil die größte Überraschung für mich. Ich habe das Spiel nicht gebackt (bzw. backen lassen ;)), weil ich ein tolles neues System haben wollte, aber genau das habe ich bekommen. Es funktioniert erstaunlich gut. Die Havoc Engine ist ein kleines Storysystem für actiongeladenes Spiel.
Es ist Pool-System mit einigen Stats, Abilities, Advances und Equipment, dazu kommt dann noch ein Blood-Level. Es gibt 6 einzigartige Pregens, die alle großartig "gebaut" sind und meiner Meinung nach sehr gut das wiedergeben, wonach sie im ersten Eindruck aussehen.
Der Fokus liegt hier wirklich auf der Action und auf Blutvergießen. Aber genau dafür kann ich mir vorstellen, das System auch anderweitig zu verwenden.
Ich bin beim letzten Mal leiten auf das Phänomen gestoßen, dass einer der Pregens (Cosgrave) durchaus sowas wie soziale Skills hat bzw. Möglichkeiten "magischer" Einflussnahme, es aber eigentlich keine Regelung innerhalb des Systems gibt, wie damit verfahren wird. Ich habe es dann einfach gelingen lassen, dass Cosgrave den Übermenschen Stahlsoldat zu einem Minion der Vampire gemacht hat (Stahlsoldat wurde regeltechnisch dann einfach zum Equipment von Cosgrave). Vielleicht hätte ich das Unterwerfen Stahlsoldats als second objective mit einem Rating versehen sollen und den Spieler dann 1-2 Runden Zeit gegeben, das hinzubekommen.

Für ETR braucht man Spieler*innen, die Spaß an Blutbädern haben, schnelle kreative Lösungen bringen und eine hohe Dynamik an den Tag legen.

Der Plot
Es gibt einen ausgearbeiteten Plot - wenn man das so nennen kann - und ein paar Stichpunkte zu weiteren. Die Hauptmission für die F. A. N. G. Vampire lautet bekanntermaßen: Hitler finden und all sein Blut trinken. Das Ganze wird auf ungefähr 15 Seiten knapp präsentiert. Mir gefällt - wie im ganzen Buch - der verwendete Sprachstil sehr gut.
Paris ist in drei Sektoren aufgeteilt, wobei das Ziel, Hitlers Zeppelin, am Eiffelturm hängt. Die Herausforderungen werden von Sektor zu Sektor schwieriger. Es ist nicht gedacht, alle Sektoren zu spielen. In den Oneshots, die ich geleitet habe (die beiden eigentlich zu kurz waren), habe ich von 5 Stationen verwendet.
Passend zu Spielen dieser Art werden die einzelnen Stationen prägnant umrissen. Dazu gibt es dann objectives und enemies (normale Gegner wie Kradeinheiten oder Sniper und besondere Gegner, die sogenannten Übermenschen, darunter z. b. ein 1943er Nazi Robocop namens Stahlsoldat).
Manchmal ist Loot explizit genannt, manchmal nur beschrieben (man kann sein eigenes Equipment mit neuem Loot ersetzen).

Katharina:
Danke für deine Einschätzungen, Hotzenplot! Darf ich noch nachfragen, was genau dir an dem Havoc-System besonders gefällt? Und: Verstehe ich dich richtig, dass du das System künftig auch für andere Settings verwenden möchtest?

Wie habt ihr eingentlich die Stationen ausgewählt? Ich habe den Plan auf den Tisch gelegt und die Spieler:innen selbst wählen lassen, wo sie hinmöchten und wie sie ihren Weg zum Eiffelturm anlegen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es für das Pacing nicht besser wäre, ohne Plan zu spielen und stattdessen immer 2-3 Stationen zur Auswahl zu geben  :think:

Dieses Wochenende werde ich Eat The Reich übrgens nochmals spielen, diesmal mit einer erzählspielaffinen Gruppe. Ich bin schon gespannt, wie das läuft und ob sich meine Einschätzungen dadurch ändern  :)

KWÜTEG GRÄÜWÖLF:
Wiiiiiieeee? Eat the Reich ist antifantisch? Verdammt, ich dachte, es ginge dem Titel nach darum, das Deutsche Reich zu verinnerlichen - aber so kann ich das den Kamerrraden von der Saarland-Sturmbrigade um die Ecke kaum anbieten. Mist.  ^-^

Klingt insgesamt nach genau meinem Humor, ob ich mir das kaufe, steht zwar angesichts meines abzuarbeitenden RPG-Stapels noch dahin, aber bei irgendwelchen Runden wäre ich dann doch mal dabei. Hint hint, ich will nächstes Jahr endlich mal wieder aufs Treffen, wenn ich schon das Versenken der TSS Hessenstein verpasst habe  :'(

Ninkasi:
Danke für eure Einblicke in das Produkt. 8)

Jiba:
Dieses Spiel bekommt auch von mir das Prädikat "Arschgeil!"... und ich bin jemand hier im Forum, der eigentlich maximale Bauchschmerzen beim Thema Pulp-Nazis hat. Aber ich habe durch Hotzenplotzes Einführung am Wochenende halt klar gesehen, dass die Autoren nicht einfach Nazis reinwerfen, weil Nazis halt, sondern behutsame Setzungen vornehmen, die typische Fallstricke vermeiden. Dazu zähle ich u.a. die Ansage, die man im Spiel machen soll, dass alle Nazis in Paris grundsätzlich aus Überzeugung handeln und auch der antiklimatische Umgang mit Hitler am Ende... der sich vor Angst einscheißt und keinen dicken Showdownkampf oder Evil-Villain-Monolog kriegt oder sowas.

Das habe ich in anderen Spielen dieser Art schon anders erlebt – sei es "Pulp Cthulhu", das sich selbst beim Verbiegen zwischen Realhistorie und Nazi-Mythos-Archäologie das Rückgrat bricht (der Abschnitt zu Nazideutschland war fürchterlich tone deaf), oder "Hollow Earth Expedition", das zwar die Nazis noch stärker pulpifiziert, aber sich zu ihren Verbrechen dann doch irgendwie nicht verhalten will, oder gar das unsägliche "Scion: Companion" der ersten Edition, bei dem die Darstellung der nordischen-Götter-Nazis sogar noch in die Glorifizierung reinrutscht.

"Eat the Reich" macht das alles richtig: Die Autoren haben eine messerscharfe Vorstellung von Nazi-Pulp, der Spielfokus ist eingeschränkt genug, dass man auch nicht breiter werden muss, das Spiel versagt den Nazis sämtliche Ansatzpunkte zur Glorifizierung. Gut, zugegeben, vielleicht hatte ich auch einfach eine gute Gruppe und ich will es halt mögen, weil die Ästhetik so abgefahren ist.

Aber ich persönlich muss sagen, dass "Eat the Reich" die gelungenste Umsetzung dieses Themenbereichs im rollenspielerischen Kontext ist, die ich bisher kenne.

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