„Unsere Hausbibliothekare haben im Zusammenhang mit der Matherson-Familie die Geschichten des Elias Roves-With-The-Morning-Clouds entdeckt!“, sagt Novak.
„Mein
Großvater hieß Elias …“, sagt Zoe in dumpfer Stimme.
„Die Vermutung liegt nahe, dass da ein Zusammenhang besteht, Miss.“
Zoe schaut fragend den Galliard an, „Wirklich? Es ist wenig bekannt über Großvater! Genau genommen hat mein Dad etwa zehn Jahre damit verbracht, zu versuchen, zu rekonstruieren, wohin es ihn verschlagen hat, und warum. Das hat ihn eine Weile fast um den Verstand gebracht, Großvater war zeitlebens so eine Art Mysterium. Meine Eltern haben die Suche schließlich aufgegeben.“
Ein paar Sekunden schweigen sie.
„Oh, mein Gott“, sagt Zoe, und schlägt eine Hand vor den Mund, als es endlich klick macht.
„Es wäre in diesem Hause eher angebracht, stattdessen die Erdmutter anzurufen, oder die Totems“, kommentiert Chessa.
Zoe fährt fort: „Er hat sein Leben vor seinem Sohn und dessen Familie geheim gehalten, weil er …
hinter dem Schleier gelebt hat. So wie …
ich jetzt! Es ist so offensichtlich — warum ist mir das nicht sofort aufgefallen, nach meinem Ersten Wandel?!“
Novak zuckt lächelnd mit den Schultern, „Nun, wie wir gehört haben, hatten Sie äußerst dringliche Dinge zu tun, zu jenem Zeitpunkt, Miss! Wie dem Kampf ums Überleben.“
„Ich habe mein ganzes Leben mit der Gewissheit verbracht, dass Großvaters Geheimnisse einfach verloren bleiben würden, dass er sie mit ins Grab genommen hat. Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht.“
Der Galliard sagt, „Ich wünschte, wir könnten Ihnen da konkreter helfen! Aber die Geschichten von Roves-With-The-Morning-Clouds sind bei uns leider nicht erhalten. Sie müssen die Dreiviertelmond-Geborenen Ihres eigenen Stammes dazu befragen. Da Ihr Großvater wahrscheinlich einen hohen Rang hatte, wird man sich dort an ihn erinnern, definitiv.“
„Ich danke Ihnen, danke!“, platzt Zoe heraus, „Das war total hilfreich! Sie können sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, was das
bedeutet. Sie kennen meine Eltern nicht!“
Chessa grinst, und eröffnet, „Dann freut es Sie vielleicht umso mehr, dass wir noch etwas herausbekommen haben, Miss Matherson!“
Zoe guckt sie mit großen Augen an.
Diese zusätzliche Information ist dann die Dreingabe, aufgrund des spektakulären Paschs bei den Orakelwürfeln:Chessa fährt fort, „In den Schriftsammlungen unseres Hauses ist — gewissermaßen als Randnotiz — das Ziel seiner letzten Reise vermerkt.“
Zoe zuckt die Schultern, „Na ja, Skandinavien, das haben meine Eltern ihrerzeit schon klären können. Er hat es bis Finnland geschafft, und ist da verstorben.“
„Aber nach unseren Aufzeichnungen“, sagt Chessa, „war das nicht sein Ziel. Dort hat Ihr Großvater nur den Tod gefunden. Sein eigentliches Reiseziel aber war Casablanca. Seine Ankunft war für das letzte Quartal vor 19 Jahren geplant.“
„Das war sein Todesjahr.“
„Ja, er hat seine letzte Reise nie abgeschlossen.“
„Erzählen Sie mir mehr!“, sagt Zoe gebannt, und schaut zwischen den beiden Malgrimovs hin und her.
Novak gibt zu, „So Leid es mir tut, das war bereits das volle Ausmaß unserer Aufzeichnungen bezüglich Ihrer Familie. Die konnten unsere Bibliothekare einigen Notizensammlungen entnehmen; bloße Beiwerke zu unseren eigentlichen Stammbaum-Büchern. Das allermeiste Wissen wird bei uns Garou eben mündlich weitervermittelt. In Liedern.“
„Warum das denn? Niederschriften sind doch wohl praktischer!“
Chessa mischt sich ein: „Vor allem gefährlicher, Miss Matherson! Jedes entzifferbare Schriftzeugnis von unserer Kultur kann dazu führen, dass der Schleier gelüftet wird, wenn es in die falschen Hände fällt, die Hände von Sterblichen!“
Zoe sagt, „Moment, aber das bedeutet, dass es irgendwo in den USA sogenannte Galliards gibt, wie Sie, Mister Malgrimov, mit Elefantengedächtnissen, die alles weitere wissen? Ich muss nur herausfinden, zu welchem Stamm mein Großvater gehört hat?“
Novak bestätigt, „Gewiss.“
Dieses glückliche Würfelresultat und die dementsprechend erhaltenen Hinweise sollen den Move namens Reach a Milestone auslösen. Ich markiere den ersten vollen Fortschritt-Punkt bei Zoes Queste (die war ja eingangs als Formidabel definiert, also ist jeder Milestone ein einzelner Punkt Fortschritt).„Wow! Ich könnte … ich könnte in den Mond heulen vor Freude!“, bringt Zoe hervor.
„Diesem Begehr können wir umgehend nachgehen, Miss!“, strahlt Chessa, „Vom Dach des Hauses aus geht das besonders gut!“
Neugierig fragt Novak, „Aber stimmt es, dass Sie möglicherweise Blutsbande zu den Fenrir haben, Miss Matherson? Gibt es skandinavische oder deutsche Verwandte bei Ihnen?“
„Fenrir … hm, ich habe vorhin davon geträumt … komischer Zufall.“
„Das ist alles, aber
kein Zufall“, sagt Chessa bestimmt, „Glauben Sie nicht, dass die Vergangenheit selbst nicht fortwährend mit uns kommunizieren würde!“
Zoe erschaudert, und sieht das andere Mädchen an.
Novak erklärt, „Normalerweise werden die Neugeborenen von Garou mit einem Ritus gesegnet, der dafür sorgt, dass ein Geist sie behütet, eine sogenannte Amme. Wenn das Erwachen beginnt, fliegt die Amme los zu dem Stamm, der sie ursprünglich beschworen hat, und alarmiert die Garou. Bei Ihnen, Miss Matherson, hat das nicht funktioniert, wahrscheinlich haben Sie diesen Feuertaufe-Ritus nie erhalten. Vermutlich, weil Ihre Eltern normale Menschen sind, und Ihr Großvater damals bereits auf seiner großen Reise war. … Aber mein Herr Vater hat bereits in seinem Caern die Kunde von Ihrem Erwachen verbreiten lassen. Die Caerns sind miteinander vernetzt, über sogenannte Mondbrücken. Es gibt streunende Rudel, und es gibt den Stamm der Stillen Streicher, die dieses Mondbrücken-Netzwerk bereisen. Als Kuriere. Und darüber hinaus wurden auch einige Geister ausgesandt, um die Kunde zu verbreiten. Über kurz oder lang wird Ihr Stamm also seine Blutlinie nach Detroit zurückverfolgen, und sich hier melden. Die Knochenbeißer erhalten daraufhin ihre wohlverdiente Belohnung, und Sie, Miss, erhalten Ihren Aufnahmeritus.“
„Die Hälfte von dem, was Sie da sagen, Mister Malgrimov, glaube ich sogar verstanden zu haben!“, sagt Zoe unsicher, mit einem halben Lächeln.
„Besorgen Sie sich nicht, Miss Matherson“, sagt Chessa fürsorglich, „Alles ist bereits in die Wege geleitet, die Zeit arbeitet jetzt für Sie. Und so lange sind Sie hier in Sicherheit, wir geben gut auf Sie Acht.“
Das will ich meinen! Aber was ist denn das nächste Stichwort vom Orakel, womit geht diese Nacht weiter? Uuuh, der Orakelspruch ist, Share Secret! Eine der Lieblingsaktivitäten der Schattenherrscher, das Schachern um Geheimnisse! Aber worum geht’s denn bei diesem Geheimnis? Ich würfle ein zusätzliches Thema aus, und bekomme Time. Das passt ja durchaus zu Zoes jüngsten Traumvisionen, sowie auch zum Gesprächsstoff eben. Einer der Schattenherrscher in diesem Hause ist bereit, ein Geheimnis zu teilen über bestimmte Zeiten. Und (um das noch weiter einzugrenzen) wozu könnte das Kennen dieses Geheimnisses Zoe befähigen? Da sagen die Orakelwürfel kryptisch, Raid Weapon. Das ist ja eine harte Nuss. Ich würde sagen, das bedeutet, wer Chessas Geheimnis über die Zeit kennt, kann einen Überfall machen, um eine besondere Waffe zu erobern. Als dann:Der junge Diener Stoyan mit dem Anzug und dem putzigen Halsband kommt herein, und fragt, ob er den Tee servieren kann. Chessa bestätigt huldvoll, und schickt ihn, außerdem etwas Gebäck zu bringen. Dann bittet sie zuckersüß ihren Cousin, er möge statt die Schallplatte zu wenden lieber etwas auf seinem Cello vorspielen. Draußen hat es zu regnen begonnen, der Diener legt ein paar Holzscheite im Kamin nach. Mit ihren dampfenden Teetassen dirigiert Chessa schließlich Zoe, direkt mit ihr ans Feuer zu rücken, sie sitzen im Schneidersitz auf dem Fell davor, und lauschen eine Weile Novaks Cellospiel. Es klingt sehr gut, ein wenig kratzig, und etwas melancholisch, was natürlich zu diesem Ambiente genau passt.
„Ich muss Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, Miss Matherson!“, raunt schließlich Chessa Malgrimov an das Ohr der anderen.
Zwei Erfolge bei Wahrnehmung+Empathie verraten Zoe, dass das andere Mädchen diese Situation mit Cello und Tee so eingefädelt hat, um ihr genau diese Eröffnung zu machen! Die Schattenherrscherin ist gewieft, aber sie kann ihre Freude über die neue Gesellschaft von außerhalb nach wie vor nicht verbergen.
„Ähm, okay“, flüstert Zoe zurück.
„Natürlich müssen Sie im Gegenzug etwas für mich tun!“, haucht die Schattenherrscherin in unschuldigem Ton.
Zoe zögert nervös. Was könnte die wohlerzogene Chessa schon von ihr fordern? Na ja, sie ist eine Konspirateurin in einem etwas dubiosen Stamm mit Bräuchen, die Zoe noch unbekannt sind … und ganz nebenbei ein Monster in Menschengestalt … wobei, das zählt nicht, das ist Zoe selber ja auch, das wiegt sich wohl gegenseitig auf.
„Sie zögern, Miss Matherson?“, flüstert Chessa, ein wenig beleidigt.
„Äh, nein, nein. Natürlich tue ich auch etwas für Sie! Lassen Sie ruhig hören.“
Chessas Lippen nähern sich Zoes Ohr auf wenige Zentimeter. Sie wispert, „Ich bin Theurgin meines Stammes, müssen Sie wissen, unter dem Sichelmond geboren, wie mein Herr Onkel Jaromir! Wir sind jene, die mit den Geistern sprechen! Von dort habe ich seit Kurzem eine Ahnung, dass wir ... ähnliche Wurzeln haben, Miss Matherson, Sie und ich!“
Zoe sieht die Gastgeberin verwundert an, „Wie das?“
Sie registriert einen Seitenblick, den Novak ihnen zuwirft während er weiter musiziert. Wahrscheinlich will er wissen, was da geflüstert wird.
„Über unsere jeweiligen Familienbande! Sie sprachen doch von einem ominösen Traum vorhin? Vom Stamm des Großen Fenris!“
Zoe nickt unsicher.
„… Ich habe ähnliche Träume, Zoe! Die Schutzgeister meines Stammes … und die Seelen meiner Vorfahren … versuchen, mir Hinweise zu geben! Sie sorgen sich immens um die Zukunft! Und, Zoe … der jüngste Hinweis war über Sie!“
„Was hat das zu bedeuten?“
„Unsere Vorfahren kannten einander vielleicht! Irgendwann zwischen dem Wikingerzeitalter und dem Finsteren Mittelalter! Und wir beide sind nicht die einzigen, die Verbindungen zur Vorzeit haben. Oh nein! Direkt hier, am Rande des Geländes, wird derzeit ein streunender Werwolf geduldet. Mein Herr Onkel gewährt vorerst auch ihm Zuflucht. Er aber ist stammeslos und verbrecherisch, ein Landstreicher, ein Ronin! Wir Hausbewohner haben klare Weisung, uns vor ihm in Acht zu nehmen!“
„Was hat das mit mir zu tun?“
„Er, Miss Matherson, ist ein Spielball der Zeit geworden! Ein Werkzeug der Ahnen und uralten Geister! Was ihn eigentlich hierher getrieben hat, ob er selbst es weiß oder nicht, wird nämlich nicht der eigene Wille gewesen sein, sondern der Wille seines Fetischs. Dieses Objekt aus alter Zeit ist gestohlen vom Stamm der Fenrir!“
„Aber …“
„Wenn Sie eine vom Gezücht des Fenris sind, Miss Matherson, dann wird es ihnen ein Leichtes sein, den Stammeslosen zu konfrontieren, und das Erbe ihres Stammes zurückzuholen! Der Fetisch gehört in Ihre Hände, mehr als in die Klauen eines Diebs. Dies wird außerdem ehrenvoll erscheinen in Augen Ihrer Ältesten, sobald Sie mit ihrem Stamm in Kontakt stehen!“
Zoe schluckt.
„Reden wir jetzt nicht weiter darüber!“, flüstert Chessa, und sie wirft ihrem Cousin einen schnellen Blick zu, vielleicht entschuldigend, vielleicht misstrauisch.
Sie fügt hinzu, „Denken Sie darüber nach; wir nehmen das Thema in den nächsten Nächten wieder auf!“
☀
Jedenfalls ist Chessa Malgrimov Feuer und Flamme wegen ihrer Idee, Zoe mit auf einen nächtlichen Jagdausflug zu nehmen. Und zwar noch heute! Dafür würde sie erstmalig ihre volle Wolfsgestalt annehmen müssen, die sogenannte Lupus-Form. Aber das sei sowieso eine sinnvolle Übung für später, findet Chessa, spätestens bei ihrem Aufnahmeritus würde Zoe das alles können müssen, und auch unter Beweis stellen.
Für Mitternacht sind sie wieder verabredet. Das Wächter-Rudel aus dem Umland wird sich ebenfalls beteiligen.
Zoe steht nun in Gummistiefeln auf den Stufen des Eingangsportals des Herrenhauses, fröstelnd, lauscht auf die Geräusche des Waldes, und versucht, sich darauf zu konzentrieren, sich willentlich zu verwandeln. Das geht jetzt schon eine geschlagene halbe Stunde. Sie schließt minutenlang die Augen, versucht ihren Atem zu regulieren, versucht, sich als Wolf zu fühlen. Als Teil dieses wundersamen, urwüchsigen Herbstwaldes. Schließlich geht sie versuchsweise in die Hocke, auf alle Viere.
„Was treibst Du denn hier draußen vor dem Haus, in Unterwäsche, Zoe?“, hört sie plötzlich eine halblaute Stimme in vorwurfsvollem Ton, „Da kriegst Du noch 'nen Schnupfen!“
„Kylah! Du bist das!“, bringt Zoe freudig hervor, und läuft auf die andere zu, raus in den Nieselregen.
Die Punkerin kommt gerade einsam und allein die Kiesstraße hinauf gestapft, mit einem alten, ehrwürdig aussehenden, schwarzen Regenschirm. Den muss sie in der Herberge in Lowdale geborgt haben, oder heimlich gemopst.
„Wollte mal kurz nach Dir gucken. Hätte nicht gedacht, dass Du gerade eh vor dem Haus rumlungerst, noch dazu so luftig angezogen! Was is'n los, haben die Dich etwa des Gebäudes verwiesen, oder was? Musste draußen warten, bis Du Dich wieder benehmen kannst?“
Zoe muss lachen, „Ich glaube, bei meinem Nervenkostüm in letzter Zeit würden solche Maßnahmen auch nix bringen! … Nee, ich versuch' doch, das mit der Verwandlung zu wiederholen. Ich dachte, hier am Haupteingang guckt keiner, da bin ich ungestört. Da kann ich mich nicht so peinlich machen vor der Menschheit.“
„Die sind keine Menschen.“
„Stimmt … äh, ich muss das jedenfalls hinkriegen. Bisher hab' ich mich immer nur instinktiv verwandelt.“
„Wozu? Bisher schienst Du immer ziemlich happy, wann immer Du wieder in Deine Menschengestalt
zurück gefunden hattest!“
Zoe druckst herum, „Ja, äh, na ja. Tut auch bisher noch ziemlich weh, so mit Muskelzerren und so. Ist wie eine kontrollierte Panikattacke, schwer zu beschreiben. Aber … ich soll um Mitternacht mit auf die Jagd gehen, als Wolf!“
„Boah! Würd' ich gerne sehen. Wahrscheinlich siehst Du dann als Tier so ähnlich aus wie das große Wolfsmonster neulich, nur kleiner. So gelbbraun, mit weißem Bauch.“
„Ich hab' insgeheim Angst davor, Kylah. Dir kann ich’s ja sagen. Dieses Wolfsmonster, ja? Diese … Crinos-Form, die ist schon schlimm genug. Aber die ist zumindest noch halbwegs menschenähnlich. In der Gestalt eines richtigen Tieres … ich bilde mir irgendwie ein, da könnte ich Gefahr laufen, mich vollständig zu verlieren, in … in tierischen Empfindungen“, und mittlerweile wispert sie nur noch, „Meine Fresse, Kylah … Was, wenn ich diesmal nicht zurückfinde?“
„Aber Du darfst Chessa Malgrimov gegenüber keine Schwäche zeigen. Die
wittert das, und wer weiß, auf was für Ideen sie das wiederum bringt.“
„Die ist eigentlich ziemlich höflich zu mir. Ich glaub', die sind hier draußen nur ein wenig vereinsamt. Die sind total dankbar für jede Ablenkung.“
„Die sind
Schattenherrscher, Zoe! Lass' Dich ja auf nix ein mit denen! Die haben den Ruf, immer alles kompliziert zu machen, und andere über den Tisch ziehen zu wollen.“
„Ja, ein bisschen verschlagen wirken die alle …“
„Ja, verschlagen, aber sieh' bloß zu, dass Du denen gegenüber sowas nicht
sagst. Und auch nicht, was ich eben gesagt hab'! Die machen da'n großes Ding draus. Von wegen Ehrenhaftigkeit uns so. Du darfst über keinen lästern.“
„Okay, versprochen. Hm, vielleicht hast Du mit dem anderen auch Recht. Rein instinktiv hab' ich immer Angst, Schwäche zu zeigen … vor anderen, die das sind, was ich jetzt bin ... das war bei Simon und seinem Rudel schon so, auf dem Hinweg.“
Kylah seufzt, „Mit Euch ist das wie mit einem großen Gehege im Tierpark, mit verschiedenen Rudeln von Wölfen drin. Ihr mögt ja umherlaufen wie Menschen, aber Ihr habt halt diese ganzen Instinkte. Ständig wird die Rangordnung neu überprüft und all so'n Scheiß. Du musst Dich daran gewöhnen. Hey, vielleicht ist die Jagerei deshalb ja wirklich eine gute Übung für Dich!“
„Willst Du mitkommen nachher? Kannst zugucken!“
„Ach, Schwachsinn, die lassen mich doch nicht. Das ist schon frech genug, dass ich hier ungefragt zur Villa gelatscht komm'. Wir müssen warten, bis die 'ne förmliche Einladung aussprechen und was nicht alles.“
„Hm, schade. … Wie ist das denn da in Eurer Herberge?“
„Ganz gut. Ist ganz gemütlich, und wir haben neulich schon alles untereinander aufgeteilt, was unmittelbar zu machen ist. Rumtelefonieren, Termine absagen, ein paar Nummern abziehen, und so. Lowdale ist ganz nett, nur'n bisschen langweilig. Ist ein wenig wie Herbstferien außerhalb der Reihe.“
„Du musst ja eigentlich auch in die Schule zurück …“
„Ja, ja. Hab' bereits ein gefälschtes Attest.“
„Ihr seid ganz schön findig …“
„Müssen wir auch sein, Zoe, wir sind Knochenbeißer. So, ich schieb' jetzt mal wieder ab. Und Du siehst zu, dass Du reinkommst, Du erkältest Dir noch die Arschbacken.“
„Einen Versuch noch! Mir ist gar nicht sonderlich kalt, irgendwie ist meine Körpertemperatur letztlich immer genau richtig. Geh' nicht weg, es ist super-schön, mit Dir zu reden! Okay, Konzentration …“
Zoe soll mal Konstitution+Ur-Instinkt würfeln. Wir heben die Schwierigkeit für sie bis auf weiteres um eins an, weil sie noch ungeübt und ängstlich dabei ist.
Sie sinkt wieder auf alle Viere zurück, und spannt sich an. Drei Höchstzahlen fallen bei dem Wurf! Unter brennendem, wummerndem Schmerz, keuchend und würgend, aber dafür immerhin einigermaßen schnell, verwandelt sie sich, ihre Körpermasse nimmt schlagartig zu, sie wird bedeckt von hellbraunem Fell. In ihrer Hispo-Form schüttelt sie sich, und schaut dann auf in Kylahs blasses Gesicht, selbst verwundert. Sie wirft irritiert die Gummistiefel ab von ihren Hinterläufen.
„Ach Du Schreck, es hat geklappt!“, haucht Kylah, „einfach so!“
Zoe wimmert vor Muskelschmerz, will etwas erwidern, aber nur ein Jaulen ertönt.
„Du bist aber ein
großer Wolf! Du bist ja fast so groß wie ein Pony!“
Der Riesenwolf beschnüffelt Kylah, die reckt ihm zögerlich die Handflächen hin, wie einem fremden Hund. Zoe wird von Informationen überwältigt: Ihr Geruchssinn ist auf einmal so scharf, dass sie genau sagen könnte, was Kylah den ganzen letzten Tag über in Händen gehalten und gegessen hatte. Unter anderem Kartoffelchips, Oreo's, und Graubrot. Sie ist völlig geflasht davon. Tatsächlich ist ihr Verstand jetzt auch der eines Tieres, aber es ist nicht halb so schrecklich, wie sie bis eben noch befürchtet hätte. Sie schnüffelt interessiert an Kylahs Hosenbeinen, und schwelgt in der Fülle an Informationen, bis diese schließlich vor ihr in die Hocke geht, und ihr in die Augen schaut: „Zoe … Zoe, hör' zu. Ich muss jetzt zurück in das Dorf, okay? Die machen hier Stress, wenn die sehen, dass ich ungefragt länger hier rumhänge.“
Zoe legt den Kopf schief, die Worte, die sie hört, brauchen länger als sonst, um in ihren Verstand einzudringen. Sprache ist plötzlich so unnötig abstrakt. Sie fühlt eine unverfälschte, liebevolle Zugehörigkeit, und will ihrer Freundin als Sympathiebekundung über die Nase lecken. Aber sie begreift, dass das falsch wäre, auch, weil Kylah den Geruch nach Furcht ausströmt. Zoe macht sich klar, dass sie ein zentnerschwerer Riesenwolf ist, und winselt. Die Punkerin umarmt sie, sehr vorsichtig, raunt, „Bis bald!“, und macht sich dann auf den Rückweg.