Auszug aus "Legenden des Krieges, Legenden des Lichts"
Willow Lake ist der Name, unter dem sowohl ein kleines Städtchen als auch der nahe See bei den Bewohnern des Nordens bekannt sind. Vor hunderten von Jahren ist der See tatsächlich jedoch noch kein See gewesen, sondern ein Tal in den Ausläufern eines Gebirges. Der Name rührt vom alten elfischen Namen „Ouiuìleigh“ her, was so viel bedeutet wie „Wispernde Weiden“. Tatsächlich gibt es aber gar keine Weiden in Willow Lake. Bei den Bäumen des nahegelegenen Waldes handelt es sich in erster Linie um Ahornbäume und Eichen. Zu jener Zeit, als die Elfen noch im Tal von Ouiuìleigh lebten, wurden sie von einer wunderschönen Prinzessin namens Blàithnaid (elfisch für „Blumengekrönt“) angeführt, die im Umgang mit dem Schwert ebenso geschickt war wie mit der Magie. Blàithnaid war weise, mächtig und stolz, aber dennoch sanft und voller Liebe für ihr Volk, ihr aller Land und die Natur, mit der sie alle in Einklang lebten.
Dann kamen die Horden des Ewigen Totengeists, die Blàithnaids Elfenstein begehrte, ein Amulett von großer Macht. Der Totengeist wollte alle Völker des Tals entweder unterwerfen oder einfach auslöschen. Die Elfen von Ouiuìleigh, angeführt von Blàithnaid und unterstützt von den Zwergen aus den Bergen und den zurückgezogen lebenden Leuten aus dem Wald, den Waidern, bekämpften die Horden des Herrn der Untoten. Sie fochten wagemutig gegen Orks, Rotkappen, Trolle, Duergar und Vargr. Doch trotz des Mutes der Freien Völker sah der letzte Widerstand seinem Niedergang entgegen, war die Streitmacht des Totengeistes und seiner Magier doch zu stark. Im uralten Turm von Dùn Tùr, auf der Spitze eines felsigen Hügels im Norden des Tals von Ouiuìleigh, belagerten die feindlichen Horden schließlich die letzten verbliebenen Elfen, Zwerge und Menschen. Diese bereiteten sich dort auf ihre letzte Schlacht vor.
Dort kam Blàithnaid plötzlich eine Idee, wie sie die Belagerung brechen könnte. In der Nacht vor der letzten Schlacht setzte sie ihre Magie ein, um unbemerkt durch die Reihen der Belagerungsarmee zu schlüpfen und deren General, einen Schwarzmagier namens Sabeorth, zu verführen. Sie wusste, dass er ihr verfallen war, und versprach ihm sowohl den Elfenstein als auch sich selbst. Als Gegenleistung dafür verlangte sie von ihm, dass er die Leute von Ouiuìleigh gehen lassen sollte. Sabeorth gab vor, die Abmachung zu akzeptieren, jedoch mit dem Ziel, Blàithnaid zu verraten. Doch er selbst war es, der verraten wurde. Als Sabeorth im magischen Schlaf lag, trat der von Blàithnaid ersonnene Plan in Kraft. Dank der mächtigen Vereinigung der Magie der Elfen und der rituellen Anrufungen der Waider schmolzen die Eiskappen der Berggipfel und eine verheerende Lawine aus Schnee, Eis, Geröll und kaltem Wasser brach über das Tal hinein. Die Horden des Totengeistes wurden in den tosenden Lawinen augenblicklich vernichtet.
Dank ihrer Magie wurde Blàithnaids Leben verschont, doch der Plan war zu schnell gefasst und in die Tat umgesetzt worden, und die Schwere der Konsequenzen war so nicht bedacht gewesen. Alle hatten das Ausmaß der Naturkatastrophe unterschätzt, die das Tal treffen sollte. Massen eisigen, dunklen Wassers fluteten das Tal von Ouiuìleigh und töteten jeden in ihrem Weg, ob Mensch, Elf, Zwerg, Tier oder Diener des Totengeistes. Zehntausende fanden in jener Nacht ihren Tod im Schlaf. Das komplette Tal hörte auf zu existieren. An seiner Statt lag nun, nachdem die wirbelnden Wassermassen sich endlich beruhigt hatten, ein tiefer, dunkler und kalter See inmitten des Tals. Und im Zentrum dieses Sees ragte, als Insel, der Hügel mit dem stummen Turm von Dùn Tùr darauf aus dem Wasser empor.
Blàithnaid hatte zur selben Zeit Erlösung und Vernichtung über das Tal von Ouiuìleigh und seine Bewohner gebracht. Sie verlor das Vertrauen von Zwergen, Waidern und den übrigen Menschen. Sie zog sich in den alten Turm zurück und vertrieb all jene, die trotz allem zu ihr hielten und ihr nahe sein wollten. In ihrer Einsamkeit stieg sie hinab in die Verliese unterhalb des Turms und wurde niemals wieder gesehen. Bis heute weiß niemand, was aus der wunderschönen Elfenprinzessin geworden ist. In den folgenden Jahrhunderten behaupteten manche, sie in dunklen Nächten gesehen zu haben, wie sie von der Spitze des Turms am Ufer des Willow Lakes gestanden habe. Andere wollen um den See herum unheimliche Lichter gesehen und ein geheimnisvolles Wispern gehört haben. Und natürlich muss es aus dem Inneren des Turms gekommen sein.
Jene Sichtungen und Geräusche wurden in den Zeitaltern nach dem Verschwindens Blàithnaids zur Grundlage all der Legenden, welche unter den Bewohnern Willow Lakes die Runde machen. Die Ruinen des Turms von Dùn Tùr, die Insel und auch der See selbst gelten beim Großteil der Bevölkerung von Willow Lake und den umgebenden Ländereien und Wäldern als verflucht. Infolge der Katastrophe, welche das Tal zerstört hatte, veränderten sich die Beziehungen zwischen Elfen, Waidern und Menschen des Nordens drastisch: Die Waider zogen sich in die südlichen Wälder zurück und kamen immer seltener aus diesen hervor. Heutzutage mischen sie sich so gut wie nie unter die übrigen Völker. Die Elfen verloren ebenfalls das Interesse und taten es den Waidern gleich. Dazu schlossen sie ein Abkommen mit den anderen Völkern und traten ihnen die Rechte an den Ländereien um den See und den Wald herum ab, welche sie einst ihr Heim nannten. Im Gegenzug verlangten sie von den Menschen, über das Land zu wachen. Sie ernannten Ælfwin, den Anführer der Menschen, zum Hüter des Tals, und übertrugen ihm die Aufgabe, über die Heimstatt der versunkenen Königin zu wachen und Alarm zu schlagen, sollte die Finsternis jemals zurückkehren. Sie gaben ihm das Elfenmedaillon, welches als Schlüssel zum Turm von Dùn Tùr im Zentrum des Sees diente. Aus diesem Grund wählte Ælfwin den Hund als sein Wappentier – stets wachsam im Angesicht seiner Feinde.
Der Titel des Hüters des Tals hätte eigentlich von Generation zu Generation unter den Anführern der Menschen, welche das Tal bewohnten, weitergegeben werden sollen. Mit dem Rückzug der Elfen in den Wald fiel diese Anweisung jedoch dem kurzen Gedächtnis der Menschen zum Opfer. Die ersten Hüter erinnerten sich noch an diese Aufgabe, die ihnen zugedacht worden war, doch nach einigen weiteren Generationen verkam die Rolle des Hüters des Tals zu wenig mehr als einer belanglosen Tradition. Und doch hatte der Totengeist seitdem kein weiteres Mal versucht, das Tal von Willow Lake zu erobern, und die Leute dort lebten mehrere Jahrhunderte lang in relativem Frieden – und das ist auch heute noch so. In den jüngeren Jahren kamen Zwerge aus den Bergen herab, und Halblinge aus dem Süden siedelten im Tal. Diese leben nun Seite an Seite mit den Nachfahren jener Menschen, die den Elfen und Waidern dabei halfen, den Totengeist zu bekämpfen.