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[Changeling: The Dreaming | Ironsworn] Dunkelblaue Teestunde der Seele

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Nachdem mich mein Spiele-Projekt mit der Mischung aus Werewolf: The Apocalypse und den Ironsworn-Mechaniken so hervorragend amüsiert, habe ich kürzlich einen Versuch gestartet, dasselbe auch noch mit meinem anderen Lieblings-Setting aus der alten World of Darkness zu machen: Mit Changeling: The Dreaming! Die beiden Settings sind sich im Kern sehr ähnlich, und erzählen fast denselben Metaplot, aber mit anderen Stilmitteln. Also habe ich mir mal die dritte Edition von Changeling: The Dreaming (C:TD) von 2017 zugelegt, um eine parallele Solo-Play-Chronik damit zu spielen. Puh, eine Menge Lesestoff, ich eigne mir das mal nach und nach an, und spiele bis dahin nach bestem Wissen (aus meinen geliebten früheren Spielerfahrungen mit C:TD als Spieler) und Gewissen (alles ist erlaubt). Möglicherweise gibt’s sogar beizeiten mal ein Crossover mit den Werwölfen von nebenan, mal sehen!

Also dann, keine Angst vor Kinderkram und Sentimentalitäten, und los geht`s!

Hausregeln
Ich spiele nach den Regeln von C:TD, dritte Edition. Die oWoD-Regeln, so elegant sie auch sind, laden wie immer dazu ein, mit ihnen ein bißchen herumzutüfteln. Es kommen also folgende Hausregeln zum Einsatz:

Aspekte
Als erstes hätte ich gerne Vor- und Nachteile für meine Charaktere. Statt aber das optionale System für Merits & Flaws aus dem Changeling:TD-Grundregelwerk zu nehmen, definiere ich Vor- und Nachteile maßgeschneidert für alle Charaktere. Diese Logik übernehme ich aus Fate Core und The Pool RPG. Sogenannte ‚Aspekte‘ können, je nach Spielsituation, Vor- oder Nachteile sein.
Werte: Bei Charaktererschaffung verteile ich pro SC 5 Punkte unter diesen Aspekten. Mehr als fünf Aspekte können aufgeschrieben werden, aber nur solche, die auch einen Punktwert erhalten, können als Vorteile verwendet werden.
Boni oder Einser: Wenn diese im Spiel narrativ genau zur Situation passen und in diesem Moment einen Vorteil darstellen, geben sie Bonus-Würfel in Höhe ihres festgelegten Wertes. Wenn Aspekte genau zur Situation passen, aber nachteilig sind, werden Einser von den Erfolgen beim betreffenden Wurf abgezogen (‚Regel der Eins‘, siehe unten).
Wenn in einer Situation denkbar ist, dass der Aspekt sich sowohl vorteilhaft als auch nachteilig auswirkt, zählen für den Wurf sowohl die Bonus-Würfel als auch der Abzug durch Einser.
Auslösen von Aspekten: Pro Wurf kann nur höchstens ein Aspekt als vorteilig eingebracht werden, und auch nur höchstens ein Aspekt als nachteilig. Die Entscheidung, ob ein Aspekt in der Situation gelten soll, liegt immer beim betreffenden Spieler (immer vor einem Wurf entscheiden).
Wann immer ein nachteiliger Aspekt zum Tragen kommt und wenigstens eine Eins fällt, erhält der betreffende SC einen Punkt Willenskraft zurück, bis zu einmal pro Szene.
Hintergrund-Aspekte: Bei Changeling:TD haben die SCs sogenannte Hintergründe, die als Teil der Charaktererschaffung festgelegt werden. Anstelle davon, mich in die jeweiligen Sub-Systeme für magische Stätten, Gefährten, und Artefakte einzuarbeiten (die auch etwas unausgegoren sind), gebe ich diesen Hintergründen ebenfalls einfach eigene Aspekte. Diese können von den SCs genutzt werden, als wären solche zusätzlichen Aspekte ihre eigenen. Hierfür müssen sie natürlich mit ihrem jeweiligen Hintergrund interagieren. Hintergrund-Aspekte bekommen Boni in Höhe des dem zugehörigen Hintergrund zugewiesenen Punktwerts. Durch Steigerung des Wertes des Hintergrundes steigen dementsprechend auch seine Aspekte.

Wie genau das insgesamt mit den Aspekten in dieser Chronik funktionieren soll, wird dann weiter unten ersichtlich, ich playteste das im laufenden Spielbericht.

Erfahrungspunkte:
Charaktere bekommen nach jeder Session, an der sie beteiligt waren, pauschal drei EXP.
Abgeschlossene Questen: Nach Abschluss von dem Ironsworn-Move namens Undertake a Journey, oder einem Delve (Erklärung zu Moves siehe unten) bekommen sie einen zusätzlichen EXP. Nach Abschluss von Questen bekommen sie ebenfalls zusätzliche EXP, und zwar einen, plus weitere in Höhe der gewählten Schwierigkeitsstufe der jeweiligen Queste (also Unliebsam = 2, Gefahrvoll = 3, Formidabel = 4, Extrem = 5, Episch = 6).
Hintergründe und Aspekte kaufen: Charaktere dürfen in dieser Chronik auch Punkte in Hintergründen für EXP kaufen (basierend auf der Regel im Tribebook: Bone Gnawers Revised von Werewolf:TA); Hintergründe und Aspekte kosten ihren derzeitigen Punktwert x2, um sie um ein Level zu erweitern, und je drei EXP, um das erste Level darin zu erhalten.

Moves:
Wo inhaltlich passend machen Charaktere in dieser Chronik Moves aus dem Ironsworn-Regelwerk und der Erweiterung Delve. Allem voran sind die Mechaniken der Eide nützlich (der Move namens Swear an Iron Vow, und die Moves die damit zusammenhängen), sowie für Reisen (der Move namens Undertake a Journey, und die damit zusammenhängenden Moves).
Fertigkeitswürfe für Moves: Statt einen Eigenschafts-Wurf nach Ironsworn-Regeln zu machen (W6+Boni), machen die SCs hier natürlich Fertigkeits-Würfe wie im regulären Changeling-Regelwerk beschrieben für den jeweiligen Move. Ein SC muss einen zur Herangehensweise passenden Fertigkeitswurf machen; dies darf normalerweise auch ein Teamwork-Wurf sein zusammen mit einem anderen Charakter, oder eine Extended Action mit zwei aufeinander folgenden Würfen selber Art. Die Schwierigkeit dafür ist sieben. Die Anzahl der erzielten Erfolge wird verwendet, um sie mit den Challenge Dice (2W10) zu vergleichen wie bei Ironsworn üblich (um einen Strong Hit, Weak Hit, oder Fehlschlag zu ermitteln). Hat einer der an den Fertigkeitswürfen für den Move beteiligten Charaktere einen Patzer, scheitert der Move automatisch.
Moves mit Situations-Bonus: Manchmal geben Ironsworn-Spielregeln an, dass ein Situations-Bonus für einen bestimmten Move gilt (wie zum Beispiel Reise-Etappen nach dem Verlassen einer befreundeten Siedlung). In solchen Fällen sinkt die Schwierigkeit für den Fertigkeitswurf um eins.
Moves mit einfachem Wurf: Die Ausnahme zur obigen Spielregel sind die Moves namens Endure Stress und Swear an Iron Vow. Bei denen macht es narrativ keinen Sinn, eine Extended Action oder Teamwork zu verwenden, sondern sie müssen durch einzelne Willenskraft-Würfe der betreffenden SCs dargestellt werden. In der Spielhandlung geschehen diese Moves ja binnen weniger Momente, nicht binnen einer ganzen Szene. Daher wird nur einmal gewürfelt (Willenskraft+passender Aspekt), aber nur gegen eine Schwierigkeit von vier statt sieben.
Moves und Albtraum-Punkte: Wann immer Moves Negativkonsequenzen haben können wie den Folge-Move namens Endure Stress, darf dies das Hinzufügen eine Albtraum-Punktes sein (C:TD S. 274). Dies geschieht laut Grundregelwerk an sich nur bei Zaubern, aber kommt mir hierfür ebenfalls stimmig vor.

Regel der Eins:
Einser-Ergebnisse bei Wurfresultaten ziehen in dieser Chronik keine Erfolge vom Wurf ab. Die einzige Ausnahme dazu sind nachteilige Aspekte, die je nach Situation zum Tragen kommen, siehe oben. Patzer (Einser, aber keine Erfolge) funktionieren nach normalen Regeln. Zum Ausgleich ist die Grundschwierigkeit bei allen Würfen um eins erhöht (also normalerweise standartmäßig sieben).

Schadenswürfe:
Überschüssige Erfolge beim Trefferwurf sind normalerweise laut Regelwerk Bonus-Schadenswürfel für den darauffolgenden Schadenswurf. Das führt in meiner Erfahrung mit dem Regelsystem leider oft zu der absurden Situation, dass ein offensichtlich meisterlicher Angriff mit sehr vielen Erfolgen dennoch zu einem sehr schlechten Schadenswurf führt (die dann womöglich auch noch alle absorbiert werden). Das scheint mir seit langem bereits etwas frustrierend, und außerdem narrativ schwer erklärbar. Die Hausregel, die ich hier playtesten möchte, ist die folgende: Alle Erfolge beim Angriffswurf nach dem ersten (der benötigt wird, um überhaupt zu treffen), werden beiseite gelegt. Diese werden beim Schadenswurf nicht mehr mitgewürfelt — sie gelten bereits als Erfolge für diesen Schadenswurf.

Willenskraft:
Zusatz-Erfolge und Rerolls kaufen: Wie im Grundregelwerk beschrieben darf normalerweise ein Punkt Willenskraft ausgegeben werden, bevor ein Wurf gemacht wird, um im Voraus einen zusätzlichen Erfolg zu generieren. In dieser Chronik kann außerdem zusätzlich nach einem Wurf für einen Punkt Willenskraft so viele Resultate neu gewürfelt werden wie der Spieler möchte ('Reroll'). Einser dürfen auf diese Weise allerdings nicht neu gerollt werden. Nach einem Patzer (Einser, aber keine Erfolge) besteht diese Option gar nicht, der Wurf muss ein Misserfolg oder Erfolg sein damit ein Reroll gekauft werden darf.
Stress: Stressituationen kosten die Charaktere oft einen Punkt temporäre Willenskraft, besonders durch den Ironsworn-Move namens Endure Stress.


Setting-Anpassungen
Meine Changeling-Chronik braucht nur minimale Anpassungen, abweichend vom Original-Setting:

Fabelhafte Pooka:
Eine der kleinen Setting-Veränderungen die ich machen möchte, betrifft eine meiner absoluten Lieblings-Charakteroptionen bei Changeling:TD, die Feenspezies der Pooka. Die ersten SCs, die in der Chronik vorkommen sollen, sind daher solche Tier-Feen. Im Originalspiel hat jedes Pooka eine Affinität zu einem einzelnen, festen Tier. Inspiriert von der Darstellung des Pooka in Holly Blacks ‚Spiderwick‘-Geschichten, und von den Lunars in White Wolfs Parallelwelt-Setting ‚Exalted’ sollen die Pooka in dieser Chronik gemischte Affinitäten haben. Ein Lurch-Pooka kann also gleichzeitig auch noch Fledermausflügel haben, oder ein Eichhörnchen-Pooka ein Äffchen-Gesicht oder Widderhörner. Die Verwandlung in die Tiergestalt ist dennoch auf die Spezies festgelegt, zu der die Hauptaffinität besteht (aber mit der Kunst Metamorphosis kann der Charakter natürlich nachhelfen, und sich auch in die Gestalten seiner anderen Tieranteile verwandeln).
Die Tiermerkmale bekommen geringfügige Sonderregeln, welche ich ebenfalls über die jeweiligen Aspekte der SCs festlege. Wie das im Einzelnen aussehen soll, ist unten ersichtlich, bei den Charakter-Profilen.


Ich bin wie sonst stubenhocker-mäßig drauf, also ist das Ganze ein Solo-Play-Projekt. Ich würfel' also introvertiert vor mich hin und schreibe mit dem Tablet nebenher alles mit. Ich mache das wie bei meinen Solo-Kampagnen bei beispielsweise Werewolf: The Apocalypse, Werewolf: The Dark Ages, Deadlands, Ghostbusters, und Fading Suns.

Im Spielbericht sind Textpassagen, wo's um die Solo-Play-Spielmechaniken geht, kursiv geschrieben, um das besser vom restlichen Text trennen zu können.
Ich verwende der Übersicht halber die alten Übersetzungen vom Verlag Feder & Schwert, wo es Sinn macht. Die Fertigkeit Kenning übersetze ich allerdings in dieser Chronik lieber mit 'Gewahren' (statt dem von Feder & Schwert verwendeten Wort 'Erkennen'). Die Magieregeln von C:TD haben sich seit dieser deutschen Edition deutlich geändert (und sind dadurch nun endlich richtig stimmig), deren Begriffe lasse ich im Text daher Englisch. Abstraktere Spielbegriffe aus Ironsworn lass' ich ebenfalls Englisch, die werden immer in kursiv angegeben, um sie vom Rest des Textes abzuheben.

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Start-Charakter
Wahrscheinlich wird das eine Art Pooka-Chronik, mal sehen. Habe schon eine Menge Ideen dafür. Praktisch: Hier ist deren Hintergrund-Kithbook von damals online zu finden.
Einer von ihnen macht den Anfang in der Handlung:



Til Haselberger
Alter: 32; Kith: Pooka (Hase/Löwe); Hof: Licht; Erben: Eremit/Schelm; Schein: Wildling
Attribute: Geschick 3, Konstitution 2, Stärke 3, Charisma 3, Erscheinungsbild 2, Manipulation 1, Geistesschärfe 3, Intelligenz 3, Wahrnehmung (Hasen-Ohren) 4
Fertigkeiten: Athletik 3, Aufmerksamkeit 3, Ausdruck 2, Empathie 2, Gewahren 2, Überzeugen 3; Etikette 1, Handwerk 1, Heimlichkeit 2, Überleben 1, Tierkunde 3; Computer 1, Enigmas 1, Geisteswissenschaft 2, Gesetz 2, Gremayre 1, Linguistik 2, Politik 3, Nachforschung 2
Hintergründe:
 • Freistatt (Taschenrealität in Vogelhäuschen) 2
 • Ressourcen (Doppelhaushälfte, Grundstück, und Job) 2
 • Schimäre (Die Kleinen Bunnies) 3
Aspekte:
 • Hat jahrelang als Aktivist versucht, seine Nachbarschaft zu retten +1
 • Kann nicht loslassen +1
 • Sein Kopf verwandelt sich in den eines Hasen, wenn er melancholisch ist +1
 • Löwen-Schwanz mit Quaste hilft beim Balancieren +1
 • Abgeklärt, wünscht allen Leuten insgeheim Gutes +1
 • Sinnkrise
 • Überzeugter Pazifist
Künste: Metamorphosis 2, Oneiromancy 1, Wayfare 1
Reiche: Actor 3, Fae 2
Glamour: 4
Willenskraft: 5

Die jeweiligen Aspekte seiner Hintergründe werden aufgelistet, wenn diese im Spiel etabliert worden sind. Bisher ist Til nämlich zwar schon Erwacht, hat aber leider keine Ahnung, was los ist, und was seine eigentlichen Fähigkeiten sind.

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Nimm' Dir eine schöne Tasse Tee und vielleicht etwas Möhrenkuchen, wir fangen an:




Hinter der Wand der Doppelhaushälfte kommt der Gesang einer Opernsängerin hervor, sehr klassisch. Die Nachbarn haben den Fernseher wieder laut gedreht. Tagsüber ist es oft nur 50er-Jahre-Jazz oder Oldies, das kann manchmal ganz behaglich sein. Früher ist das Til nie aufgefallen, dass die Musik durch die Wand dringt. Er bemerkt es erst in letzter Zeit, es ist dann ein wenig, als wäre jemand im Nebenzimmer, als wäre gerade irgendein Besuch da — irgendwelche Gäste seiner Eltern vielleicht, wie früher in der Kindheit. Geräusche, die einen ein bisschen ablenken, die einen aber auch einlullen, irgendwie behaglich eben.

Soundtrack: Pascal Schumacher, Prelude to Robert M
https://www.youtube.com/watch?v=8qxkJJFY9bU

Til sitzt auf dem Korbstuhl in dem Raum direkt neben der Veranda. Auf der Veranda selbst ist es jetzt im Januar natürlich zu kalt, aber er guckt trotzdem gerne raus, durch das große Fenster auf den abendlichen Garten. Seine Straße wird von gelblichem Straßenlaternenlicht beleuchtet, nur vereinzelt kommen Leute vorbei. Sein Buch liegt bereit auf seinem Schoss, aber er schlägt es nicht auf. Er schaut auf das Buchcover, und dann herab an seinen Füßen, die etwas zu lang und zu schmal sind für die Socken. Und natürlich sind die bedeckt von weißem Fell. Die Pfotenpolster sind aber praktisch, durch die fühlt man die Kühle des Dielenbodens kaum. An den Handflächen und Fingerspitzen hat er sowas auch, er hat sich längst dran gewöhnt.

Zu allem Überfluss bemerkt er, dass außerdem der Hasenkopf zurück ist. Das muss wohl mit seiner Gemütslage zusammenhängen, oder mit der Feierabend-Zeit, oder damit, dass es draußen schon dunkel ist. … Ehrlich gesagt hat er noch nicht kapiert, was genau es ist, das das in ihm auslöst. Früher hatte er manchmal Angst, dass das tagsüber bei der Arbeit in der Volkshochschule passieren könnte, vor seinen Zuhörern. Ist aber nie passiert. Und das Fell und den Löwenschweif beachtet ja glücklicherweise niemand. Davon bekommt man nicht so viel zu sehen, scheinbar reicht das, um im Alltag über sein absurdes Aussehen hinwegzutäuschen.

Er stellt seine Hasenohren auf, und hört sogleich die Opernsängerin noch deutlicher, und auch die Geräusche von der Straße. Vor allem schnauzen sich dort draußen gerade Fußgänger gegenseitig an, ein Angeberauto lässt großspurig seinen Motor aufheulen, ein Hund kläfft wie verrückt. Irgendeine der allabendlichen Streitereien scheint sich dort entsponnen zu haben. Til schließt die Augen und kneift sich genervt in die Nasenwurzel. (Seine Nasenwurzel liegt jetzt natürlich wieder woanders und ist breiter als vorher, die Stelle über der haarlosen Hasennase.) Vielleicht sollte er raus ins Kalte gehen und nach dem Rechten sehen, die Streiterei der Leute in Vährwerder ist ihm zuwider … aber Sich-Einmischen ist ihm leider nicht weniger zuwider.

Aus dem Augenwinkel meint Til plötzlich, etwas Helles gesehen zu haben, das über den Rasen gehuscht ist. Schon wieder. Das passiert alle paar Abende! Diese Tierchen sind aber immer zu schnell als dass er erkennen könnte, was das ist! Eichhörnchen und Bisamratten haben ja nicht so ein helles Fell.

Er fühlt sich versucht, aufzustehen und in die Küche zu gehen, vielleicht kann er den hellen Schemen durch das Fenster dort noch einmal entdecken? Seine Hasenlöffel registrieren in dem Moment leise Geräusche … das feine Klappern eines Glasbehälters, der sich millimeterweise auf den Kacheln der Anrichte bewegt, während sein Holzdeckel abgehoben wird …
Es ist das Keksglas.
Als Til befremdet in Richtung der Küche geht, bildet er sich wieder ein, einen weißen Schemen zu sehen, diesmal aber hinter sich auf dem Flur, in Bodennähe. Er dreht sich jäh um, aber in diesem Moment ist da nichts mehr. Er hört irgendwo hinter sich ein Kichern, ganz leise, durch und durch vergnügt … so wie diese Stimme klingt doch kein Erwachsener, und eigentlich auch kein Kind …

Die Ironsworn-Regeln geben vor, dass man einen Inciting Incident inszenieren soll, also ein Auslösendes Ereignis für den Charakter. Dieses führt dann automatisch zur ersten Queste. Wie soll der Inciting Incident für Til denn geschehen, der Auslöser für sein Abenteurerleben? Das weiß ich noch nicht. Vielleicht mal eine Tarotkarte ziehen! Das Orakel ist ‚die Welt‘, sehr passend zum Auftakt der Chronik. Aber was bedeutet die Karte für diesen ereignislosen Feierabend? ‚Sicherer Erfolg, Reise, oder Umgebungswechsel‘, ist die Interpretation der Karte. Das bestätigt mich darin, was ich langfristig sowieso inszenieren wollte, dann machen wir das eben gleich jetzt:

Til findet sich in seinen Pantoffeln und in seinem blau gestreiften Pyjama in den Straßen von Hamburg-Vährwerder, durch die er wandert, und er sieht sich staunend um. Er weiß mit einem Mal überhaupt nicht mehr, wie er hierher kam! Er ist doch nicht einfach aus dem Haus gegangen, denn warum hätte er das denn in Hausschuhen und Schlafanzug machen sollen. Und überhaupt ist es sommerlich warm, und es ist ja auch noch gar nicht dunkel! Ein goldenes Nachmittagslicht erfüllt die Straßen. Die beiden Cafés, die während der Pandemie bankrott gegangen sind, haben auf mysteriöse Weise heute plötzlich wieder geöffnet. Blumen und Efeu schmücken die Eingänge. Leute sitzen an kleinen Cafétischen davor und unterhalten sich miteinander, und amüsieren sich offensichtlich prächtig. Als wäre es immer so gewesen; als wären die Läden nie weg gewesen. Nachbarn treffen sich auf der Straße, und einer begrüßt einen anderen mit freundschaftlichem Schlag auf die Schulter. Tils früherer Nachbar Günther ist auch hier, der alte Knabe, er müht sich ab mit einer schwer beladenen Schubkarre mit Erde vom Gartenumgraben. Obwohl Til nur im Schlafanzug ist, hilft er Günther sofort, bevor er noch umkippt, und gemeinsam leeren sie die Schubkarre schließlich aus, und der Alte bedankt sich strahlend, richtig glücklich über die nachbarschaftliche Hilfe, und offensichtlich auch glücklich über seine eigene Gartenarbeit. Ein kleines Kind fährt ein neues, rotes Fahrrad auf dem Bürgersteig und klingelt ausgelassen immer wieder, der Ton ist aber nicht enervierend — er ist wie Musik.
Til wird schlagartig klar, was dies für ein Gefühl ist, das er hat: Ein ganz starkes Gefühl von Zugehörigkeit, von Zuhausesein.
„… Wo ich schon hier bin, kann ich auch gleich mal schauen, ob die Bäckerei noch auf hat“, sagt er vergnügt zu sich selbst, dann hat er nach seinem unerwarteten Ausflug im Pyjama wieder Brot im Haus.
Die eine Gasse erkennt er wieder, das war früher immer seine geheime Abkürzung zu der Bäckerei. Wenn man durch die geht, spart man locker zwei Minuten (im Vergleich zu seinen Eltern, die den normalen Weg gehen). Hier ist er ja schon seit Jahren nicht durchgegangen! Er bildet sich ein, den Duft von Frischgebackenem schon erschnuppern zu können.

Die Gasse macht unerwartet jedoch allmählich einen Bogen nach links, und wird immer schmaler, und scheinbar auch immer länger. Seine Erinnerung daran, dass man hier direkt zur Bäckerei kommt, scheint Til zu trügen …! Das ist wohl die einzig mögliche Erklärung. Die werden diese Gasse und den Häuserblock ja wohl kaum einfach umgebaut haben, seit er zum letzten Mal hier durchgegangen ist.
Er hält inne und schnuppert die Luft, in einer tierhaften Geste, wie ein Hase eben. Unter die wohligen, altbekannten Gerüche des Stadtteils hat sich mittlerweile ein anderer, neuer Geruch gemischt, wie er bemerkt: Ein Waldduft, es riecht ganz leicht nach moosigem, feuchten Boden und Tannennadeln. Seine Nase bebt und seine Löffel stellen sich auf. Da die gewundene Gasse dem Waldgeruch entgegen führt, kann er genauso gut einen kurzen Abstecher dorthin machen. Er kann sich nicht entsinnen, dass der kleine Hölznerforst am Rand von Vährwerder je so intensiv gerochen hat …
Irgendwie aufregend. Seine Schritte tragen ihn unwillkürlich schneller.

Während er die viel zu lange, viel zu schmale Gasse entlang läuft, wird der Geruch der Wildnis stärker, und seine Löffel registrieren Vogelgezwitscher. Die Geräusche seiner Nachbarschaft weichen den Klängen der Natur.

Seine Pantoffeln setzen auf dichtem, weichen Moos auf. Er schüttelt sie von den Füßen, und geht barfuß weiter, spürt das Moos unter den Fußballen. Das Licht hat nun eine grünliche Qualität, wird zu Zwielicht unter den mächtigen Baumkronen. Til schaut sich mit offenem Mund um, dreht sich im Gehen um sich selbst. Wild gemusterte Nachtfalter und Glühwürmchen umschweben ihn. Eins setzt sich auf seine Nase, als Zwischenhalt, bevor es weiterfliegt. Der Abendwind wispert in den Zweigen, und aus den dichten Farnen im Unterholz dringt wieder das Kichern, das er sich auf dem Flur seines Hauses eingebildet hat.

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Das Orakel soll uns mal ein Stichwort geben zu dem, was im Wald passiert, hier ist schließlich so ziemlich alles möglich: Diesmal ziehe ich keine feierliche Tarotkarte, sondern rolle einfach die Orakelwürfel wie normalerweise bei Ironsworn üblich. Defend Prize, ist das Ergebnis. Ui, das klingt als wolle ein Einheimischer seine Beute gegen den dahergelaufenen Eindringling verteidigen. Die Orakelwürfel bestätigen diese Vermutung nicht nur, sie zeigen eine 100, das ist auch ein Pasch, daher ein sogenanntes ‚extremes Resultat‘. Dies scheint eine bedeutsame Begegnung zu sein, wahrscheinlich ist dieser Gegner eine Art persönliche Nemesis. Für die Identität des Wesens würfele ich auf den Tabellen Descriptor, Role, und Goal, und bekomme Manipulative Forrester who wants to Restore a Relationship. Aber was ist die oben erwähnte Beute, die er verteidigen will? Das Themen-Orakel sagt, Humanity. Melodramatisch, die ganze Menschheit … oder ist seine eigene Menschlichkeit gemeint …?

Auf einem Steinhügel steht eine ziemlich grotesk aussehende Holzfigur, ein vogelscheuchenhaftes Gestell aus langen Stöckern und Knochen, mit einem Hirschschädel als Kopf. Til zuckt zusammen und legt die Ohren an, als es hinter den Baumstämmen in Sicht kommt. Die Figur scheint eine Art Grenzmarkierung zu sein, oder eine heidnische Kultstätte zu kennzeichnen. Aber niemand ist hier. Er entspannt sich ein wenig. Eine Weile mustert er das primitive Gestell.
„Hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Du“, sagt er halblaut.

Ich mache den Ironsworn-Move namens Gather Information und lasse meinen SC durch die Betrachtung Intelligenz+Gremayre würfeln. (Bei Changeling:TD ist Gremayre die Entsprechung der Fertigkeit Okkultismus.) Vielleicht erinnert er sich an eine folkloristische Legende, die ihn auf die Natur dieses Konstruktes kommen lässt. Um reelle Chancen zu haben, müsste ich zwei Würfe machen für meinen Move, da brauche ich entweder einen weiteren Charakter zur Unterstützung, oder viel Zeit für eine Extended Action. Beides habe ich nicht, also läuft's auf nur zwei Erfolge heraus. Ich würfle die Challenge Dice gegen zwei, und erhalte einen Neuner-Pasch. Da beide Challenge Dice höher sind als die Anzahl meiner Erfolge, ist das ein Fehlschlag, und durch den Pasch ein extremer Fehlschlag noch dazu. Bei Gather Information bedeutet ein Misserfolg, dass die Erforschung statt Hinweisen eine unerwartete Bedrohung zutage fördert!

Til erinnert sich also durchaus an ein solches mythologisches Motiv, von dem er mal gelesen hat — Bryndrick, der Baumborken-Wächter! Diese Schreckensgestalt ist im Druidentum des alten Europa aufgestellt worden an Orten der Greuel, und er glaubt, gelesen zu haben, dass dem Bryndrick auch eigene Missetaten zugeschrieben waren, wie das Bringen von Albträumen und Säen von Zwietracht!
Das ist das Negativ-Resultat seines Misserfolgs, er glaubt nun an diese Spukgeschichte, weil er sich an sie erinnert, als sei es ein Fakt.

Deswegen ist es umso schlimmer, als die Holzfigur plötzlich den Kopf mit dem morschen Hirschgeweih schief legt, und die übergroße Hand hebt! Ein leises Knarren untermalt ihre Bewegungen!



Der druidische Bryndrick


Soundtrack: Bryce Dessner & Kronos Quartet, Aheym
https://www.youtube.com/watch?v=7m4kE-agpM8

Da würfeln wir mal Willenskraft für unseren Helden. Zwei Erfolge, das reicht immerhin, um nicht Reißaus zu nehmen. Mit schlotternden Knien weicht Til jedoch zurück.
Mit einer beinahe eleganten Bewegung verlagert die Holzkonstruktion ihr Gewicht von einem Stelzenbein auf das andere. Dabei klappert ein großer Schlüsselbund an ihrer Hüfte. Merkwürdigerweise ist dies das einzige an ihm, das nicht krude aus Naturmaterialien gemacht ist.
„Go dtuga Dia síocháin agus rath leat“, tönt eine leise Stimme, „Der Baumborken-Wächter hat lange keinen Kithain mehr gesehen. Schon gar nicht hier, so nah am Waldrand.“
Es klingt, als würden keine Stimmbänder die Worte erzeugen, sondern im Wind ächzende Zweige!

Das ist zuviel, der mythologische Bryndrick will ihm ans Leder, denkt Til entsetzt!
Er wirbelt herum, und rennt weg so schnell ihn seine langen Hasenbeine tragen! Zweige peitschen gegen seine Schultern, er legt erneut die Löffel an im Rennen, taumelt beinahe im Unterholz, setzt mit großen Sprüngen über ein paar bemooste Felsen und Baumstämme hinweg. Sein Nackenfell und die Quaste seines Löwenschweifs haben sich wild gesträubt. Nach ein paar Minuten sieht er sich mit vor Angst gefletschten Zähnen über die Schulter um. Ist das Ungeheuer hinter ihm her?!

Neben dem falschen Schluss, den mein SC gerade gezogen hat, muss außerdem auf der Tabelle des Folge-Move Pay the Price gewürfelt werden. Das Resultat ist, dass er Schaden hinnimmt. Kein Wunder bei der kopflosen Flucht!

Als er sich also im Wegrennen umdreht, stolpert er über ein paar Wackersteine und Baumwurzeln im Halbdunkel des Waldes, und kullert eine erdige Böschung herab!

Den Ironsworn-Move namens Endure Harm brauche ich nicht zu machen, die Changeling-Regeln haben ja ein eigenes System für Schaden. Ich ermittle eine zufällige Zahl Wundlevel und würfle zum Absorbieren dagegen, es bleibt eines.

Til landet desorientiert in den Farnen am Fuß der Böschung, voller blauer Flecken und Abschürfungen, sein Pyjama voller Erde und Baumgrün. Japsend und mit ängstlich aufgestellten Hasenohren sieht er sich um, lauscht panisch in die Dunkelheit.

Das ist doch alles nicht schlecht als Auslösendes Ereignis für die Abenteurerlaufbahn, jetzt fällt mir auch ein gute Queste für Til ein: Vorerst muss es ihm nur gelingen, nach Hause zurück zu kommen. Das machen wir mit der
Queste (Gefahrvoll): Den Schlüssel von Bryndrick erlangen, um zur Freistatt zurückzukehren, und zurück nach Hause in die Wachwelt zu gelangen.
Was genau das heißen soll, wird sich im weiteren klären:

„Wo bin ich hier …?“, wispert Til zu sich selbst, „Wie komme ich jetzt zurück?!“
Ihm fällt auf, dass er die Orientierung verloren hat. Er könnte nicht mal sagen, in welcher Richtung der Waldrand lag! Und noch viel schlimmer: Es dringt jetzt in sein Bewußtsein, dass er ein leises Scheppern und Klicken gehört hat, als er eben die mysteriöse Gasse verlassen hat, die aus seiner sonnigen Nachbarschaft hinaus geführt hat, und in den duftenden Wald hinein. … Wenn er jetzt darüber nachdenkt, klang es wie eine Tür … die hinter ihm ins Schloss gefallen war!
„Aber natürlich ist das hier alles ein Traum!“, sagt er laut zu sich selbst, laut genug, um seine Angst zu übertönen, und das Trommeln seines Herzschlags.
„Ich muss nur wieder aufwachen!“, fügt er entschlossen hinzu.
Das Rauschen des Waldes wird lauter, bedrohlicher, als eine Windböe die nächtlichen Wipfel schwanken lässt.
Til sinkt noch etwas weiter in sich zusammen und zieht die Mundwinkel seiner Hasenschnauze herunter, sieht kurz so aus als wolle er versuchen, seinen Hasenkopf in seinen Pyjamakragen einzuziehen. Da sitzt er im Ginster, ein Häuflein Elend, wie ein verschrecktes Karnickel.

Was ist unser nächstes Stichwort? Die Orakelwürfel sagen poetisch, Construct Dream. Da wir ja hier schon im Traum-Reich sind, kann das nur bedeuten, dass ein weiterer, anderer Traum an dieser Stelle entsteht. Ist das ein Bauwerk innerhalb des Waldes? Das verneint das Orakel. Die Würfel bestätigen stattdessen, dass es ein anderer Teil des Waldes ist, also womöglich eine angrenzende, verwandte Traum-Realität.

Soundtrack: Philip Glass, Prelude to Endgame
(Leider auf YouTube nicht wirklich am Start, gibt's aber auf Spotify.)

„Ich bin einfach nur ein bisschen schizophren, das ist alles!“, sagt Til halblaut zu sich selbst, als er sich endlich aufrappelt, und versucht, dabei entschlossen zu klingen, „Das kommt, weil ich vorhin noch so lange bei der Arbeit Datensätze sortiert habe und sowas; das ist Kleckerkram, das hätte ich einfach mal den Praktikanten überlassen sollen! Morgen wäre auch noch rechtzeitig gewesen! Ja, das rächt sich dann, dann ist man eben nach Feierabend total überspannt!“
Er sieht sich um, und nickt wie zur Bestätigung, „Genau, das bin ich doch, überspannt! Ich brauche mehr Schlaf, mehr Regelmäßigkeit, mehr Routine! … Elektrolyte ist auch wichtig ...“
Er hält kurz wieder die Schnauze, und lauscht in den Wind, das Blätterrauschen und die Tiergeräusche sind überwältigend, insbesondere durch ihre Eindringlichkeit, sie wirken unleugbar real.
„Ein lebendiger Bryndrick, dass ich nicht lache!“, ermuntert er sich, halblaut, „… Also dann: Aufwachen!“
Er konzentriert sich darauf.
„Aufwachen.“
Das Waldesrauschen und Windbrausen werden nicht im geringsten leiser. Die tiefen, urtümlichen Düfte der Wildnis an Tils Nase sind betörend. Der auffrischende Wind trägt nur noch weitere heran.
„Na los, jetzt aber: Aufwachen! Streng' Dich an, Haselberger!“
Er reißt schlagartig wieder die Augen auf, und sieht den dunklen Wald. Angefüllt mit ominösen, samtenen Halbschatten. Unverändert.
Irgendwas scheint sich zu nähern, im Gebüsch, zwischen den dicht stehenden Stämmen … vielleicht schleicht ein Tier sich an. Vielleicht eine ganze Meute. Und er steht hier hoch aufgerichtet herum, auch noch bedeckt mit schneeweißem Fell, das einem in der Dunkelheit als einfaches Ziel ins Auge springen kann …!
Seine Schrunden und blauen Flecken ignorierend rennt Til weiter …

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Dabei gerät er unweigerlich tiefer in den dunklen Märchenwald. Da das Orakel die Konstruktion eines anderen Traums vorausgesagt hatte, schicken wir ihn in neuentstehende Grenzgebiete des legendären Tulgee-Wald herüber, ursprünglich aus der Feder vom großen Lewis Carrol, wem auch sonst!

„Aufwachen … aufwachen … einfach mal: Aufwachen!“, keucht Til vor sich hin, während er durch das Nachtdunkel hastet. Ein bisschen manisch wirkt das.
Um ihn herum explodieren kugelrunde Rhododendronbüsche mit freudigem Blätterrascheln aus dem dunklen Nichts in neue Existenz. Es werden immer mehr, spontane Buschwerk-Genesis. Ihre Blätter sind betörend violett. Ein ganzes, neues Ökosystem pufft nach und nach herbei.
Da endlich, zwischen dem neuentstandenen Bewuchs: Ein einzelnes Zeichen von Zivilisation! An einem lavendelfarbenen Baumstamm prangt ein großes Schild, in Form eines Pfeils, beinahe wie ein Wegweiser. ‚Attention please!‘, steht dort, in großen Lettern eingedrechselt.
„Achtung bitte, genau“, sagt Til nervös zu sich selbst, „Achtung, das ist gut. Alle Achtung. Da geht’s endlich raus aus dem Unterholz, ganz bestimmt.“
Kurz hinter dem Schild sieht er in einem unerklärlichen Ambiente-Licht auch einen gewundenen Pfad, bestehend aus so etwas wie goldgelbem Sand, der zwischen den Stämmen hindurch führt. Til kichert überdreht, als er seine Hasenfüße auf den Sandweg setzt, er fühlt sich ein kleines bisschen erleichtert, aber nicht wegen dem gefundenen Weg: Das Aberwitzige der Umgebung ist der eigentliche Anlass dafür. Er kommt noch nicht darauf, an was ihn dies hier erinnert, aber es ist so ungemein drollig, und eben auch trippy, weil es eben völlig real erscheint.

Natürlich gabelt sich der Weg bald. Til versucht verzweifelt, sich zurechtzufinden, und eine Route einzuschlagen, die ihn in die Zivilisation zurück führt, oder zumindest zurück zum Waldrand vorhin!

Ich mache für das ausgiebige Absuchen eine Extended Action, mit zwei aufeinander folgenden Würfen auf Wahrnehmung+Überleben. Damit mache ich den Move Gather Information, vielleicht findet sich hier irgendwo eine hilfsbereite Siedlung. Leider wird ein Fehlschlag dabei ermittelt. Also wieder ein Wurf auf der Tabelle vom Move Pay the Price: ‚Eine überraschende Entwicklung verkompliziert Deine Queste‘, sagt diese.

Also Momratzen! Momratzen auf den Pfaden, Momratzen im Unterholz, Momratzen bedecken die Baumstämme. Normalerweise marschieren sie nur in Gruppen von wenigen hundert, wie bewegte Teppiche. Hier aber hat irgendetwas sie aufgescheucht, und in Massen hierher getrieben!



Die alte Regel aus Kindertagen gilt auch hier: Tritt' nicht auf die Momratzen!


Und was steckt hinter dieser vorhergesagten ‚überraschenden Entwicklung‘? Dafür ziehe ich wieder eine Tarotkarte, und bekomme den Herrscher. Der steht für Tradition, institutionelle Weisungen, und Konformität. Interessant, denn das ist so ziemlich die Antithese von allem, was dem typischen, Carrol'schen Wunderland-Bewohner im Sinn steht! („We're all mad here!“) Also ist hier wohl ein Grenzkonflikt am Laufen …

… Und hinter der Biegung des Pfades bewegen sich große, bedrohliche Schemen: Jedes Mal, wenn einer der mächtigen, stählernen Füße sich auf dem Sand aufsetzt, gibt es ein gedämpftes Stampfen. Til reißt seinen fassungslosen Blick von den wimmelnden Flächen aus Momratzen los, und heftet ihn auf das Trio aus Hünen. Jeder von denen ist zweieinhalb Meter hoch, und sie sind von schwarz glänzenden Rüstungen bedeckt. Die vielen einzelnen Rüstungsteile lösen sich bei jeder Bewegung, stehen ab wie aufgestellte Käferflügel, und schnappen wieder fest aneinander, wenn ein Schritt gemacht ist und die Stiefel aufsetzen …! Es ist ein unglaublicher Anblick, wenn man Sehgewohnheiten hat wie Til aus dem normalen Alltagsleben. Die Momratzen wuseln vor den Geharnischten her, und scheinen Angst zu haben, zertreten zu werden. Die schwarzen Ritter bewegen sich schwerfällig, ohne jede Hast.

Diese Erscheinungen sind beinahe so schrecklich wie der heidnische Bryndrick vorhin. Til hechtet ins Buschwerk, und kauert sich zusammen.

Hier sind schon mal Spielwerte für diese Schimären, für später:


Grimgoriminatori
Attribute: Geschick 2, Konstitution 5, Stärke 7, Charisma 3, Erscheinungsbild 0, Manipulation 2, Geistesschärfe 2, Intelligenz 2, Wahrnehmung 2
Fertigkeiten: Athletik 2, Aufmerksamkeit 2, Ausdruck 3, Einschüchtern 5, Empathie 1, Überzeugen 1; Bogenschießen 3, Etikette 4, Heimlichkeit 1; Gesetz 4, Gremayre 2, Nachforschung 2
Aspekte:
• Gnadenlose Hüter der Gesetze +4
• Schwer gepanzert +5
• Langsam und schwerfällig
• Unspontan
Willenskraft: 7
Ausrüstung: Streitkolben oder Schwerter, Schilde; manche haben Pfeil und Bogen; Gesetzestexte in Buchwälzern und Schriftrollen, Verträge, alles in fremdartiger Runenschrift, Siegelwachs, Siegelringe, und amtliche Stempel.


Tils überaus scharfe Ohren hören ein leises Schluchzen über das Stampfen der Harnischstiefel, das Brausen des Nachtwinds, und das Rascheln der flüchtenden Momratzen. Er sieht sich ängstlich um. Jemand kauert nicht weit von ihm ebenfalls in einem der violetten Büsche, er sieht die Gestalt zwischen den Zweigen hocken. Sie gibt ein mattes Licht ab, vor allem ihre Haare und die Insektenflügel auf ihrem Rücken. Es ist ein kleines Mädchen, offensichtlich gebannt vor Schrecken, sie unterdrückt ihr Schluchzen so gut sie kann.

Tils Mitleid überwiegt seine Angst vor den nahenden Geharnischten. Er will versuchen, zu dem Kind herüber zu gelangen, ohne gesehen zu werden. Dabei darf er natürlich außerdem nicht auf vereinzelte Momratzen treten!

Dafür mache ich den Move namens Face Danger. Die beiden Charaktere können hierbei zusammenarbeiten. Für Til würfele ich Geschick+Heimlichkeit, für das kleine Mädchen Wahrnehmung+Aufmerksamkeit. … Nice, acht Erfolge kommen dabei zusammen. Die Challenge Dice zeigen leider eine Neun, aber glücklicherweise auch eine Eins, also immerhin ein Weak Hit. Beim Move Face Danger heißt das, ich muss ein Negativ-Resultat aus einer Liste aussuchen, da nehme ich das Erbebnis ‚stressig’. Der SC verliert dabei bei den Original-Regeln Punkte von Ironsworns Spielwert namens Spirit; für meine Charaktere nach WoD-Regeln heißt das stattdessen entsprechend, einfach einen temporären Willenskraft-Punkt einbüßen.

Til huscht in weiten Sprüngen von Deckung zu Deckung, die ängstlich dahin wuselnden Momratzen im hohen Gras meidend, und wird dabei den drei gepanzerten Hünen näher ansichtig. Hinter ihnen kommen noch weitere den Waldweg entlang! Einer trägt sogar eine düstere Fahne an einer Lanze. Sie sehen aus wie eine Grenzpatrouillie oder die Vorhut einer Besatzerstreitmacht. Entsetzen erfüllt ihn, besonders wegen der schauderlichen Größe der Ritter. Menschen sind das nicht! Er achtet auf die Mimik des flennenden Mädchens, das offensichtlich begriffen hat, dass er ihr helfen und zu ihr rüberschleichen will. Sie schüttelt hektisch den Kopf, wann immer er aus einer seiner Deckungen herausspringen will, aber die Luft gerade nicht rein ist. Dadurch hilft sie ihm, sein Schleichen zu koordinieren, sozusagen als Ausguck.

Mit heftig klopfendem Herzen kommt Til neben dem Mädchen an, und kauert sich im Schutz des Busches zusammen, in dem auch sie hockt. Sie hat tapfer mittlerweile aufgehört zu weinen, und guckt ihn aus großen Augen an. Sie ist wahrscheinlich acht oder neun, mit langen, dünnen Haaren, einer Stupsnase, und leuchtend smaragdenen Pupillen. Sie ist bildschön. Ihr schmuddeliges Nachthemd ist hinten aufgerissen, damit die beiden kleinen, grünlich schillernden Insektenflügel herausschauen können. Ihre Ohren laufen spitz zu.



Ein Kind hat sich im Tulgee-Wald verlaufen


„Nicht weinen, ich bin ja da!“, keucht Til, aber seine Stimme klingt alles andere als selbstsicher.
„Jak masz na imie?“, haucht ihre brüchige Stimme.
„Sprichst Du Deutsch?“, flüstert Til überfordert, und auf Englisch ergänzt er, „Kannst Du Englisch?“
„Tak, troche“, sagt sie, und fügt hinzu, dann auf Englisch, „bisschen Englisch versteh' ich.“
„Sehr gut!“, raunt Til, in derselben Sprache, „Was ist hier los? Wer sind die?!“
„Wunderland hat sich eben größer gemacht“, wispert das brüchige Stimmchen, „wächst an Märchenwald heran. Hat sich neue Wege gemacht, rozumiesz? Die da kommen, um neue Grenze zu erobern.“
„Verstehe ich nicht! Und wer sind die?!“
„Urojenie! Ritter von Alleinherrscher!“
„Von wem?!“
„Alleinherrscher. Urojenie-König, weißt Du das denn nicht?!“
„Ich bin hier völlig fremd! Und außerdem ist das hier sowieso ein Traum!“, zischt Til.
„Aber Du weißt das doch … Du bist Freund von Niedzwiedz. Du bist doch Zajaczek …“
„Ich bin Til Haselberger!“
Das Mädchen schweigt verunsichert.
„Was soll das heißen, Uroje-Dingens-König? Wer ist das? Warum schickt der Truppen hierher?“
„König von Grimgoromn! Frieden zwischen Herzkönigin und Grimgoromn bedroht! Grimgoromn greift nach Tulgee-Wald.“
„Tulgee-Wald …“, wispert Til gebannt.

Jetzt schaltet er vielleicht, Kinderbuch-Motive sind normalerweise voll sein Ding. Der Begriff Tulgee-Wald ist das einzige von den vielen fremden Wörtern, das er schon mal gehört hat. (Er kann schließlich kein Polnisch.) Wir lassen ihn mal Intelligenz+Gremayre würfeln. Keine Erfolge, aber Einser: Ein Patzer! Unser Held zieht einen völlig falschen Schluss, wie bereits beim Bryndrick:

„Tulgee-Wald! Na klar, dieser Ort in der Bibel! Buch soundsoviel, Vers … was weiß ich. Dieser Traum hier … bedient sich biblischer Motive.“
Das geflügelte Mädchen schüttelt verwirrt den Kopf.
„Dann ist Grimgoromn auch etwas Biblisches, ja? So wie Megiddo, oder Golgatha!“
„Bist Du Glupi geworden, Zajaczek?“
„Du musst bitte aufhören, halb in Fremdsprachen zu reden! Ich kann Dir überhaupt nicht folgen!“
„Ein Glupi! Einer, der nicht gescheit ist!“, und auf ihr verweintes Gesicht beginnt sich sogar ein Lächeln zu schleichen.
„Werd' bloss nicht frech! So, genug davon. Wir hauen jetzt hier ab!“
„Wie? Kann nicht mit, wenn Du Dich in Hasen verwandelst. Du zu schnell.“
„Ich kann mich nicht noch mehr in einen Hasen verwandeln! Wie ich aussehe ist schon schlimm genug.“
„Schlimm …?“
„Na, das Fell, und der Schweif, und heute Abend ist auch schon wieder der Kopf dazugekommen. Die Menschen müssen schon all ihre Höflichkeit zusammennehmen, um darüber hinweg zu sehen.“
„… Als richtiger Hase, Du zu schnell. Ich kann nicht hinterher.“
„Okay, okay. Es ist ein Traum, was? Schon klar. Da kann sowieso alles passieren. … Nee, ich verwandle mich schon nicht noch weiter, keine Sorge. Komm' auf meinen Arm, ich trag' Dich.“
„Wir müssen weg aus Tulgee-Wald! Zu gefährlich!“, sagt das Kind, als es auf Tils Arme klettert, und sich in seinem Fell festklammert.
„Ja, okay. Ich komme aus der anderen Richtung, dahin gehen wir. Da ist der Wald nicht violett, sondern dunkelgrün.“
„Ist der grüne Märchenwald. Geht jetzt nicht mehr. Jetzt überall Momratzen, und Urojenie-Ritter, ganz bestimmt.“

Til darf wieder Intelligenz+Gremayre würfeln, und diesmal kapiert er zumindest endlich eine Sache:

„Violetter Tulgee-Wald und grüner Märchenwald! Schon klar, alles klaro … das ist, als würde ein Traum in einen anderen Traum übergehen, dort an dieser Stelle …! In gewissem Sinne logisch. … Traum-Logik eben!“
Das kleine Mädchen schweigt und klammert sich an ihm fest, seine Gegenwart scheint sie schlagartig zu beruhigen. Immerhin etwas, denkt sich Til. Er späht hinaus auf den Waldweg. Die Grimgoromn-Ritter marschieren schwerfällig dort entlang, sie sind noch nicht weit gekommen, und wirken sehr aufmerksam, drehen im Laufen ihre Visiere nach links und rechts. Ein Schauder läuft Til über den Rücken. Er wird rennen müssen als sei der Teufel hinter ihm her.

Wir machen denselben Move wie eben, Face Danger, diesmal, um schnell und ungesehen wegzukommen. Das Kind schaut über Tils Schulter nach hinten zu den Verfolgern, und der Hase tut das, was Hasen so gut können, und rennt wie bekloppt weg! Acht Erfolge bekommen die beiden zusammen. Die Challenge Dice rollen, und eine Acht ist leider dabei, also nur ein Weak Hit. Das bedeutet, dass wir entkommen, aber nur mit einer Negativkonsequenz: Das kündigt hier eine neuerliche Gefahr an. Da fällt mir direkt was zu ein:

In seinem wahnwitzigem Sprint dringt etwas an Tils Hasenohren, das ihn instinktiv einen Haken schlagen lässt. Er presst seinen Rücken an einen Baumstamm, in Deckung.
„Co jest nie tak?!“, wimmert das geflügelte Mädchen.
„Oh nein, oh nein“, raunt Til, drückt sie noch fester an sich, und linst vorsichtig um den Baum herum, in die Richtung, in die er eben noch gerannt war. Und seine scharfen Ohren haben ihn nicht getrogen: Zum Knarren der lavendelfarbenen Bäume im Tulgee-Wald hat sich ein anderes Knarren dazu gemischt … feiner, umher wandernd. An seiner Hüfte klimpern die vielen Schlüssel leise.
„Der Bryndrick!“, presst Til hervor.

Die Schimäre verfolgt ihn offensichtlich. Logischerweise ist das dann aber sogar ein Milestone auf Tils Queste, denn er muss ja den richtigen Schlüssel von dieser Schimäre ergattern, um seine Aufgabe zu erfüllen. Das weiß er nur noch nicht! Damit steigt jedenfalls der Fortschritt auf zwei (jeder Milestone gibt bei einer Gefahrvollen Queste zwei Fortschritt-Punkte, von bis zu zehn möglichen). Da der Bryndrick jedoch aufgrund einer Negativ-Konsequenz erschienen ist, und der arme Til ihn sowieso zu meiden versucht, kann er jetzt nicht gezielt mit ihm interagieren, um noch einen Meilenstein zu erreichen. Im Gegenteil, er muss Reißaus nehmen!

Das Holzkonstrukt stakst auf seinen geschickten Stelzenbeinen umher, sein breites Hirschgeweih bewegt sich hin und her, während sein Schädel nach seinem Ziel späht! Es bewegt sich mit absurder Eleganz und Leichtigkeit, in Anbetracht seiner Größe, und der Tatsache, dass es nur aus alten Stöckern zusammengebaut ist!
„Der ist nicht mir auf den Fersen, nee nee, keine Sorge! Der vertritt sich nur die Beine!“, lügt Til in gedämpfter Stimme.
„Wird auch angelockt, von Urojenie-Rittern!“, wispert das Mädchen.
„Ja, könnte sein. Genug Lärm machen sie ja. Nicht unsere Sorge, alles kein Ding!“
„Du lügst, Zajaczek!“, flüstert das Mädchen furchtsam, „Du sein wie Niedzwiedz! Darfst nicht lügen!“
„Nein nein, keine Bange. Wir sind sicher vor dem. Wir machen jetzt weiter die Biege!“

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