Es gibt einen sehr niedrigen, kleinen Teetisch in einer der Ecken, mit kleinen Holzstühlen darum. Eine große, alte Teekanne steht dort bereits dampfend bereit, und Teetassen. Sieben freudige Bunnies hüpfen auf den Tisch, und sehen sich interessiert schnuppernd nach Leckereien um.

„Tut mir jedenfalls leid, dass wir Dich und Fuchur da mit reingezogen haben, Atréju“, sagt Til besorgt, „... In dieses Märchen hier, meine ich. Hätte ich mir denken können, dass Dich das wütend macht, wie der Fürst spricht. Du bist in Deiner Heimat immerhin ein Held.“
„Ein Held?!“, sagt Atréju, beinahe aufbrausend, beinahe etwas verächtlich, „Wohl kaum, Til Haselberger!“
Marlies platzt heraus, „Ja, aber
wohl! Du kommst von den tapferen Grünhäuten, und Du hast das Zeichen der Kindlichen Kaiserin getragen, und Du hast Fuchur aus dem großen Spinnennetz gerettet, und ganz Phantásien zählt auf Dich!“
„Phántasien braucht mich nicht für seine Rettung, und ganz bestimmt bin ich auch kein Held.“
„Warum seid Ihr eigentlich abgehauen?“, fragt Til den Jungen.
„Ich sagte Dir bereits, dass das meine Sache ist, Til Haselberger. Reden wir nicht weiter davon. Konzentrieren wir uns auf die unmittelbaren Angelegenheiten. Du sagtest, die Eremitin könne mir und Fuchur vielleicht raten?“
Eline Girardin erscheint plötzlich am Teetisch, und zwar aus der entgegengesetzten Richtung zu der, aus der man sie erwartet hat. Vielleicht hat sie sich als Nerz ungesehen durch den halbdunklen Raum bewegt!
„So wie meine Schwester die Vergangenheit erinnert, blicke ich in die Zukunft, Atréju aus dem Gräsernen Meer“, sagt sie halblaut, aber auf Gälisch, und beginnt allen Tee einzuschenken, „so wie die verborgene Natur aller Dinge, die das
Dán ausmachen.“
„Was ist das?“, fragt Til neugierig, um für Atréju ins Deutsche übersetzen zu können, der nur fragend dreinblickt.
„Das
Dán ist das Schicksal der Welt, mit dem wir alle verwoben sind. Wir Wechselbälger sind ebenso Teil davon, Inkarnation für Inkarnation, wie die Sterblichen, und wie auch Wesen wie Atréju und Fuchur.“
„Meine Zusje weiß alles über die Macht des
Dán!“, sagt Marlies stolz.
„Und … diese Kraft ist es auch, die uns aneinander bindet?“, fragt Til in vorsichtigem Ton.
„Wer weiß!“, sagt Eline vage, und füllt andächtig die nächste Teetasse.
„Aber ich dachte,
Du weißt das …?“, sagt Til verwirrt.
„Weiß sie ja auch!“, beteuert Marlies.
„Wir haben uns schon in vielen Vorleben getroffen“, sagt Eline, scheinbar auf das Einschenken von Tee konzentriert, „Marlies hat Dir, Til Haselberger, schon alles darüber berichtet, drunten in Cyenwen.“
„Gar nicht wahr, nur Andeutungen hat sie gemacht“, murmelt Til, „Und ein paar Anekdoten aus dem alten Rom hat sie eingestreut.“
Marlies kichert, die Idee mit dem alten Rom gefällt ihr, und die Bunnies kichern auch.
„Jedenfalls kannst Du auch Gälisch!“, stellt Til fest.
„Ist ja auch eine sehr schöne Sprache! Kurios, und dadurch wertvoll!“, nickt der Dodo verständig, auf derselben Sprache, um auch mal was beigetragen zu haben.
Marlies sagt freudestrahlend, „Das haben wir
alle gelernt!“
Til nickt, leicht befremdet, „Ich habe als Teenie angefangen, mich dafür zu interessieren. Ich hab’ damals meine Eltern so lange genervt, bis sie mich zu einem Gälisch-Kurs geschickt haben. An meiner Schule gab’s das natürlich nicht als Wahlfach! … Es ist, als hätte ich das Gälische gelernt, um mich mit Euch zu verständigen, jetzt, wo wir aufeinander getroffen sind. Ich hatte in meinem bisherigen Leben nie so genau gewusst, warum mich diese Sprache so interessiert! An der Volkshochschule biete ich manchmal Sprachkurse dafür an, aber die werden fast nie voll! Zu speziell, diese Sprache!“
Marlies erklärt eifrig, „Du
hast das ja auch gelernt, um Dich mit uns zu verständigen! Das ist doch unsere Geheimsprache! Letztes Mal haben wir die auch verwendet.“
„Letztes Mal, Du meinst, als wir beide uns in Cyenwen getroffen haben?“
„Nein, da haben wir doch die meiste Zeit über Chinesisch miteinander geredet!“, lügt Marlies übermütig, aber erklärt dann, „Nein, Til, in unserem letzten Leben!“
Til atmet tief durch, und sagt dann zögerlich, „Ihr wollt wirklich sagen, dass wir uns in jedem Leben erneut treffen?“
Eline schüttelt leicht den Kopf und raunt, „Es gelingt uns nicht, uns in jedem Leben zu treffen. Die Nebel sind verwirrend. Sie halten uns voneinander fern, wenn wir nicht genügend Glück und Verstand haben …“
Und in leiser Stimme zitiert sie,
„… Zo vreemd, in de mist te wandelen! / Eenzam is elke struik en steen / Geen boom ziet de andere / Ieder is alleen.“Til braucht einen Moment, dann erkennt er Herman Hesse („Seltsam im Nebel zu wandern / Einsam ist jeder Busch und Stein / Kein Baum sieht den andern / Jeder ist allein“).
„Wenn wir schon Absprachen getroffen haben, welche gemeinsame Sprache wir lernen wollen, warum haben wir uns dann nicht im selben Land verabredet? Am besten, in derselben Nachbarschaft! Das hätte doch Mühe gespart!“, vermutet Til, und fügt hinzu, „Ich erinnere mich vage daran, so etwas vorgeschlagen zu haben beim letzten Mal!“
„Gar nich‘ wahr“, rügt Marlies ihn.
„Und Du, Marlies,
Du weißt das noch?!“, fragt Til sie verdattert.
„Ich weiß alles noch!“, trumpft sie auf.
„Marlies ist unsere Chronistin, sie hütet und bewahrt die Vergangenheit“, erklärt Eline leise, „das war schon immer so. Ich wiederum bin die Mystikerin, und sehe unsere Zukunft voraus. Ich kann Dir sagen, was das
Dán in diesem Leben für uns bereithält.“
„Echt?“, fragt Til, „Was?“
„Warum willst Du es wissen?“, fragt Eline zurückhaltend.
„Du hast doch gerade gesagt, Du weißt es?“
„Streitet nicht schon wieder!“, ermahnt Marlies die beiden.
„Wieso schon wieder?!“, entfährt es Til, „Wir haben im Leben noch nie …“
„Ihr mit Eurer blöden Streiterei“, schmollt Marlies, „Ihr seid beide solche Rechthaber.“
„Schon gut, ich wollte ja nicht … äh …“, sagt Til, und ihm schwirrt ein wenig der Kopf.
„Wir streiten überhaupt nicht“, säuselt Eline begütigend, „Es fällt unserem Hasen-Löwen nur manchmal schwer, die Mächte des Voraussehung zu akzeptieren, das weißt Du doch, Schwesterchen.“
„Ja, ja. Til ist immer mit der Gegenwart beschäftigt“, murrt Marlies, und Eline fügt hinzu, „Oder mit den Teilen der Vergangenheit, denen er nachzuhängen pflegt. Hier, trinkt Euren Tee! Und die Kaninchen sehen so aus als wollten sie ein bisschen Gebäck!“
„Den Teilen der Vergangenheit … denen ich nachzuhängen pflege …?“, fragt Til nach, und ein eiskalter Schauder läuft ihm durch sein Rückenfell. Es kommt ihm kurz wirklich so vor, als sei er hier unter langjährigen Bekannten.
Die Bunnies wollen tatsächlich sehr gerne Gebäck, und Marlies und der Dodo sagen auch ganz bestimmt nicht nein dazu.
„Was macht Ihr beide denn dann in diesem Märchen?“, fragt Til gedankenvoll.
„Fürst Ūrohso passt auf uns auf!“, sagt Marlies stolz, „Er sagt, wir sind seine liebsten Gäste! Immerhin ist er auch ein Pooka, so wie wir, wie man ihm ja auch an seinen bezaubernden Tasthaaren ansieht!“ (Ūrohso hat zwar Hörner, aber keine Tasthaare.)
Eline fügt hinzu, „Derzeit sind wir hier, weil ich mich in dieses abgelegene Heiligtum zurück zu ziehen hatte. Marlies begleitet mich ins Träumen, und hat hoch und heilig geschworen, nicht noch einmal auszubüxen, beispielsweise nach Cyenwen herab.“
Marlies kichert vergnügt, sie scheint sehr stolz auf ihr Abenteuer im Unterreich, bei dem sie Til wiedergefunden hat.
Eline fährt fort, „Ja, nun. Wir beide brauchen Abstand von der heimischen Villa, wann immer möglich.“
„Und der Wunschring funktioniert nur einmal im Monat, richtig, Zusje?“, sagt Marlies.
„Er funktioniert
wann immer ich es möchte, aber ich ziehe es vor, ihn nur einmal monatlich einzusetzen“, antwortet Eline, aber das könnte eine Unwahrheit sein.
„Eine Villa! Ich wusste es, Ihr gehört quasi zur besseren Gesellschaft daheim in Belgien“, sagt Til, „Ihr redet auch beide so wohlerzogen daher und so.“
„... Aber Du findest uns nicht doof, weil wir reich sind, oder Til?“, fragt Marlies, plötzlich ganz kleinlaut, richtig besorgt guckt sie zu ihm auf.
„Geld hat in meinem Leben noch nie irgendeine Rolle gespielt!“, lügt Til, und lächelnd fügt er hinzu, „Ich mag Euch, egal was Ihr seid, kleine Dame!“, und widersteht dem Bedürfnis, Marlies liebevoll über den Kopf zu streicheln.
Sie schmunzelt ihn breit an.
„Dann fehlt uns nur noch der Vierte im Bunde“, sagt Eline in gedämpftem Ton, und pustet in den Dampf ihrer Teetasse.
„Ja, wusste ich’s doch“, sagt Til, „Das
war überhaupt kein Zufall, dass der Kleine auch Gälisch kann! Und es war dann vielleicht nicht mal Zufall, dass ich ihm schon über den Weg gelaufen bin? Ein Hase, zwei Nerze, und ein Bär, stimmt’s?“
„Und ein kleiner Pelikan!“, kichert Marlies.
„Genau, und ein Pelikan, genau wie in dem Teetrink-Winkel in Cyenwen verewigt. Und vielleicht ein Wolf?“
„Ja, auch so einer“, lügt der Kindling beschwingt.
„Aber ein Bär jedenfalls. Dieser kleine Strolch! Er hat mich voll verarscht! Oh, entschuldigt bitte …“
„Du hast verarscht gesagt!“, entfährt es Marlies, gleichsam bestürzt und begeistert.
„Marlies Lore, das streichst Du sofort wieder aus Deinem Wortschatz!“, ermahnt Eline (und klingt für diesen Moment weniger wie eine Mystikerin und mehr wie eine ganz normale größere Schwester).
Til stammelt, „Ja, äh, also genasführt hat der kleine Bengel mich jedenfalls. Von wegen, er heißt Lobo, und sein Wolfskumpel heißt Niedzwiedz! Wahrscheinlich hat er überhaupt keinen Kumpel, der ein Werwolf ist! Alles Flunkereien. Ich
hatte ihn schon! Ich hätte mich nicht so belabern lassen dürfen. Ich bin halt so überfordert von dem allen hier. Dabei hab‘ ich einen Eid geschworen, ihn zurückzuholen! Ich hab‘s versprochen!“
„Er ist der Vierte“, sagt Eline nickend, „Unser großer Bär.“
„Er war eigentlich ziemlich klein“, wirft Til ein, „Geradezu ein Dreikäsehoch!“
„Das
Dán wird uns vielleicht erneut mit ihm zusammenführen. Zumindest, wenn die Nebel es noch einmal zulassen.“
„Und … was wenn nicht?!“, fragt Til bestürzt.
„Dann hättest Du die einzige Chance verpasst, dafür, uns alle binnen dieser Inkarnation wieder zusammenzuführen, Til Haselberger“, sagt Eline, fast unterkühlt, „Und die Nebel werden uns zeitlebens trennen. In solchem Fall erhält unser Eid-Zirkel erst dann wieder Gelegenheit, sich neu zusammenzufinden nach unserer nächsten Wiedergeburt. Und erst dann könnten wir zu unserer gemeinsamen Aufgabe zurückkehren.“
„Gemeinsame Aufgabe …?“, haucht Til, „Was kann denn eine Aufgabe sein … die so groß ist, dass man für die immer neu wiedergeboren werden muss …?“