Pen & Paper - Rollenspiel > Pen & Paper - Spielberichte
[Unknown Armies] Road Movie
Bad Horse:
Was uns zum zweiten Teil der Geschichte führt:
Das zweite Tucson, Teil 2 - Bill Toge
Mir fällt jetzt auch wieder ein, warum mein Gedächtnis an diese Zeit so schwammig ist - es liegt daran, daß ich meistens ziemlich besoffen war. Irgendwie war ich auf den Gedanken gekommen, daß sich alles leichter ertragen läßt, wenn man es durch einen alkoholischen Nebel betrachtet. Lustig, wie man zu solchen Trugschlüssen kommt, nicht wahr? Letzten Endes hat das Saufen zu meinem Tod geführt, also hütet euch davor, Jungs und Mädels.
Aber das hat mit der Geschichte nur am Rande zu tun. Am Ende des letzten Kapitels befanden sich Sylvia und ich im Krankenhaus, weil wir beide einen Nervenzusammenbruch hatten, und Brian und Kim waren auch dort, allerdings mit Axtwunden.
Aufgewacht sind wir alle wieder in einem grünen, gepolsterten Raum - einer typischen Gummizelle, mit freundlichen, ebenfalls gepolsterten Bändern an niedrige Liegen gebunden. Wir mußten nicht allzu lange herumrätseln, was eigentlich los war. Kurz nach unserem Aufwachen tauchte ein netter Arzt auf und teilte uns mit, daß wir uns in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt aufhalten würden. Er wäre aber zuversichtlich, daß wir mit der richtigen Therapie schon bald wieder entlassen werden könnten. Auf unsere Proteste hat er nicht reagiert - nicht einmal auf die Frage, seit wann man körperlich Verletzte in der Psychiatrie behandeln würde. Danach ließ er uns erstmal wieder allein.
Schließlich tauchten ein paar Pfleger auf und banden uns los. Sie warnten uns, keinen “Ärger” zu machen, und ließen uns aus der Zelle raus. Im Anschluß an einen kurzen Gang folgte ein großer Raum, in dem sich mehrere Personen aufhielten, alle offenbar auf die eine oder andere Art und Weise geistig gestört.
Ich fing trotz der Warnung an, Ärger zu machen. Ich war verwirrt, verängstigt und ich wollte einen Drink. Die Wächter fanden mich nicht sonderlich witzig, also haben sie mich genommen und zurück in die Zelle geschleift. Dort hielt mich der eine fest, und der andere wollte mir eine fies aussehende Spritze verpassen. Das hat mir Angst gemacht: Daß diese Wächter soviel Macht über mich hatten. Daß sie mir so etwas einfach antun konnten. Daß ich überhaupt nichts daran ändern konnte.
Also hab ich klein beigegeben. Sie angefleht, mich in Ruhe zu lassen, und ihnen versprochen, keinen Ärger mehr zu machen. Sie haben mich laufen gelassen, mit dem ganz blöden Gefühl, ein Feigling zu sein.
Tja, das ist schon ganz schön persönlich, was? So viel zu dem “unvereingenommenen, objektiven Bericht”. Aber ich bin auch Dichter und kein Sekretär oder Buchhalter. Wir werden alle damit leben müssen. Ich streiche nichts durch (außer offensichtlich grammatikalisch falschen spanischen Einwürfen, natürlich).
Die haben uns danach einzeln zu irgendwelchen Gesprächen geholt. Brian kam in ein Zimmer zu dem Arzt, der uns schon begrüßt hatte. Der schaute ihn schweigend an, Brian schaute zurück. Er wollte erst einmal warten, was der Typ von ihm wollte. Nach etwa fünf Minuten ließ der Arzt Brian wieder aus dem Raum bringen, mit der Bemerkung, daß der Patient nicht bei der Therapie mitarbeiten würde und verstockt sei.
Kim kam in einen Raum, in dem sich nur ein einzelner, riesiger Fernseher befand. Er mußte sich “Dumbo” anschauen, was aber bei ihm kein tiefes Trauma hinterließ.
Sylvia hatte ein sehr fruchtbares, ergiebiges Gespräch mit einer jungen Psychiaterin, mit der sie erstmal eine vertrauensvolle Basis aufbaute.
Mich hat der Arzt, der uns begrüßt hat, durch eine Tür geführt - und dahinter war die Kirche von Tucson. Oder ein genauer Nachbau. Dann hat er mich irgendwas gefragt, was wir wollen, oder was los ist - nichts, worauf ich eine Antwort gewußt hätte. Im Nachhinein erscheint es mir, als hätte er geglaubt, daß wir viel mehr Kontrolle über unser eigenes Schicksal hätten, als wir tatsächlich haben, oder als hätte er etwas über uns gewußt oder in uns gesehen, von dem wir selber keine Ahnung haben.
Nachdem ihm meine Antworten nicht gefallen haben - stimmt, er hat mich gefragt, warum diese vier Personen auf dem Fresko in der Kirche aussehen wie wir, und alles, was ich ihm sagen konnte, war, daß ich auch absolut keinen Schimmer habe -, hat er mich in dem Raum allein gelassen. Wenn man meinen geistigen Zustand berücksichtigt, war das nicht besonders nett. Ich war vollkommen verwirrt (wie kam diese komische Replik von der Kirche, in Originalgröße, in eine psychiatrische Anstalt?), und er hatte dafür gesorgt, daß ich noch verunsicherter war als vorher. Außerdem herrschte in dieser Kirche eine derartig beklemmende, betäubende Stille, daß ich mich am liebsten in einer Ecke zusammengerollt und leise vor mich hin gewimmert hätte. Kann auch sein, daß ich es gemacht habe. Weiß ich nicht mehr.
Vor der Behandlung haben wir uns noch in dem großen Raum umgesehen. Es gab mehrere Ausgänge, darunter auch einen, der in einen schönen, großen Garten mit lauter Pflanzen führte. Einer der Patienten kam auf uns zu und fragte uns, ob er uns verraten soll, wie man nach draußen kommt? Wir haben natürlich bejaht, und er erklärte uns, wir müßten nur durch die Tür gehen. Wir waren etwas enttäuscht (wir nahmen natürlich an, daß die Tür verschlossen sei). Fünf Minuten später kam der Mann wieder und bot uns erneut an, uns zu erzählen, wie man in den Garten kommt. Und zehn Minuten später noch mal...
Einer der anderen Patienten kam uns bekannt vor. Das lag daran, daß wir sein Gesicht schon einmal auf dem Fresko in der Kirche gesehen hatten. Er erzählte uns, daß er ein Vertreter sei, und nach einem Autounfall hier gelandet wäre. Offensichtlich gehörte er genausowenig in die Klinik wie wir (na gut, wie die anderen drei. Ich hätte damals vermutlich wirklich in Behandlung gehört). An seinen Namen kann ich mich jetzt nicht mehr erinnern. Auch der Vertreter und der Autounfall sind mehr Vermutungen meinerseits. Aber jedenfalls war er nicht freiwillig hier, und er machte auch keinen wirklich gestörten Eindruck.
Nach der “Therapie” gab es Abendessen. Dazu wurden zwei lustige Pillen gereicht, die wir vier erstmal natürlich nicht nehmen wollten. Die Pfleger haben mich dann “überzeugt”, daß ich sie lieber freiwillig nehmen wollte. Aber auch alle Tricks, die die anderen angewendet haben, um die Pillen nicht zu schlucken, haben nicht viel gebracht - nach dem Abendessen gingen bei uns allen die Lichter aus.
Am nächsten Morgen wachten wir wieder in der grünen Zelle auf. Wir durften aber gleich raus, in den großen Raum. Dort hat dann Kim (oder Brian, einer von beiden) herausgefunden, daß die Tür in den Garten gar nicht abgeschlossen war, und der Patient tatsächlich recht hatte: Um in den Garten zu kommen, mußte man nur durch die Tür gehen. Das haben wir dann auch gemacht, aber leider haben wir auch da keine Möglichkeit gefunden, aus der Anstalt zu entkommen. Während ich mit Sylvia und Kim im Garten war, ist Brian drin geblieben und hat von einigen anderen Patienten gelernt, ritualisiertes Poker zu spielen.
Später wurden wir wieder zur “Therapie” geholt. Diesmal war die Verteilung anders: Sylvia mußte Dumbo gucken, Kim wurde angeschwiegen, Brian kam in die Kirche (die ihm nicht so furchterregend schien wie mir) und ich durfte mich mit der Psychiaterin unterhalten. Das war aber in diesem Fall kein sinnvolles Gespräch: Erst hat sie mir einen Drink angeboten (den ich dankbar angenommen habe), und dann hat sie sich die Kontrolle über das Gespräch von mir aus der Hand nehmen lassen. Ich nehme an, daß das weniger mit meiner cleveren Gesprächsführung zu tun hatte, sondern daß das Ganze eine Art Test war. Wofür, kann ich aber auch nicht sagen.
Nach der Therapie kam wieder das Abendessen und die Pillen, denen wir auch diesmal nicht entgehen konnten (ich hab es auch gar nicht versucht, aber die anderen waren hartnäckiger als ich).
Am nächsten Tag kam dann Kim auf die entscheidende Idee (oder war das Brian? Ich weiß nicht, warum ich die teilweise nicht auseinanderhalten kann... Sylvia passiert das immer mit Brians und meinem Namen, obwohl beide nicht sonderlich ähnlich klingen. Es wäre interessant, zu untersuchen, warum Leute Namen verwechseln. Liegt es am Anfangsbuchstaben? An der Länge, oder an der Silbenzahl? Oder kombinieren sich die Ursachen? Entschuldigung, ich komme vom Thema ab. Aus, böser Linguist!).
Er fragte nämlich den Mann, der uns den Tip mit dem Garten gegeben hatte, ob er uns nicht den Weg aus der Klinik zeigen könnte. Das tat der dann auch, und siehe da - die Tür war nicht verschlossen. Keiner der Pfleger hat uns bemerkt, und niemand hat uns aufgehalten, als wir die geschlossene Psychiatrie und dann die Klinik verließen (den Typen, der auch auf dem Bild war, haben wir leider vergessen. Als uns das später auffiel, hatte keiner mehr Lust, wieder zurückzugehen und ihn auch noch zu holen. Ob das eine reale Person war? Und ob er in dem Krankenhaus verbrannt ist? Die letzten beiden Fragen machen chronologisch keinen Sinn, aber ich fürchte, später habe ich sie wieder vergessen...).
Nachdem wir auf freiem Fuß waren, haben wir Sylvias Auto und unsere Sachen beim Motel abgeholt. Ja, wir haben uns gewundert, daß alles noch da war, aber in diesem Moment wollten wir nicht zu viele Fragen stellen. Wir wollten nur noch weg aus Tucson / Nebraska (oder Kansas. Vielleicht auch schon Colorado).
Kim beschloß, bei uns zu bleiben. Er wollte auch nach L.A. - er hatte eine Stelle als Graphiker irgendwo da in Aussicht, und er wollte uns zumindest bis zum nächsten Flughafen begleiten.
Also fuhren wir weiter. Und dann wurde es wirklich wirr.
Als wir uns dem nächsten Ort näherten (der wieder mal Tucson hieß - wie auch sonst?), kamen wir an eine große Kreuzung. Dort waren drei Wagen, die aus den drei anderen Richtungen gekommen waren, ineinander gefahren und brannten jetzt fröhlich vor sich hin.
Sylvia und Brian wollten sofort die Insassen retten. Ich war der Ansicht, die könnten gefährlich sein, und nahm meine Axt mit - ich habe zwar gesagt, daß ich das Ding nur dabei hatte, um Fenster einzuschlagen, aber ich glaube, das hat niemanden getäuscht. Fakt ist, daß ich mich zu diesem Zeitpunkt ohne das Ding und einen ordentlichen Drink nicht wohl gefühlt habe. Krücken der Realität.
Mit Hilfe der Axt haben wir es dann geschafft, die drei Typen aus den Autos zu holen. Mittlerweile war auch ein Sheriff aufgetaucht (Mr. Don Spending mal wieder. Brian hat ihn da nicht erkannt, warum auch immer...), der uns geholfen hat. Seltsamerweise sahen alle drei Typen exakt gleich aus. Andere Kleidung, aber genau das gleiche Gesicht. Als der Sheriff das sah, meinte er: “Schon wieder Bill Toge.”
Dann explodierten die brennenden Autos.
Wir befanden uns plötzlich in einem Einkaufszentrum (meine Axt hatte ich noch, glaube ich. Ja, muß so sein. Später hatte ich ja definitiv auch...), mitten in einem Überfall. Die Räuber forderten uns auf, uns hinzulegen, was wir nach kurzer Überlegung auch taten - sie waren schließlich bewaffnet.
Ich bin mir nicht sicher, ob nicht der eine oder andere Schuß gefallen ist, aber nicht auf einen von uns. Wir sind völlig ungeschoren davongekommen, und die Räuber sind abgehauen.
Danach waren wir ein bißchen ratlos - wir wußten nicht so ganz, wie wir in das Einkaufszentrum geraten waren, und was jetzt eigentlich real war und was nicht. Brian und ich haben beschlossen, unsere Familien anzurufen. Ich war so sehr neben mir, daß ich komische Andeutungen gemacht habe, daß ich “noch” am Leben sei, und ich habe durchklingen lassen, daß ich sehr deprimiert und verwirrt war. Ina (meine Mutter) hat glücklicherweise nicht richtig zugehört - mein Cousin Jason war gerade verhaftet worden, und das hat sie wohl stark beschäftigt.
Nach dem Telefongespräch befanden wir uns plötzlich wieder an der Kreuzung, die Autos brannten, waren aber noch nicht explodiert. Jetzt konnten wir anhand der Kleidung erkennen, daß einer der Toten an dem Raubüberfall beteiligt war. Bevor wir unserer Verwirrung größer Ausdruck geben oder den Sheriff näher unter die Lupe nehmen konnten, verschwanden wir aber wieder.
Diesmal landeten wir in einem Flur, direkt vor einer Tür - sah aus wie eine Wohnungs- oder Hotelraumtür. Keine sonderlich gute Gegend. Ich weiß nicht mehr, ob die Tür offen stand, oder ob einer von uns neugierig genug war, um sie aufzumachen.
Dahinter befanden sich zwei Leute: Einer von ihnen war an einen Stuhl gefesselt, der andere war unser guter alter Freund vom Autounfall, Bill Toge. Bill war wohl gerade dabei, den anderen zu befragen. Dieser andere Typ machte einen verängstigten Eindruck, und er hatte keinen Mund. Da war einfach nur glatte Haut, die sich da, wo die Öffnung hingehört hätte, kräuselte und bewegte. Der Mann gab leise, erstickte Laute von sich - ein scheußliches, groteskes Geräusch.
Geschockt stolperten wir in den Raum und wollten wissen, was hier los ist. Bill hat uns vielleicht eine Erklärung gegeben, vielleicht auch nicht. Ich hab ihn aufgefordert, den Typ in Ruhe zu lassen - ich hatte die Axt, ich kam mir einigermaßen stark vor. Sylvia, oder einer der anderen, hat sich um den Gefesselten gekümmert, während ich Bill bedroht habe.
Dann hat er ein Messer gezogen - sah scharf aus, das Ding, aber er ist damit nicht auf mich losgegangen. Meine Axt war sowieso größer. Nein, er hat sich die Klinge langsam über seinen eigenen Arm gezogen. Als der erste glitzernde Blutstropfen aus der langen, roten Linie rann, grinste er mich an, und mein rechter Arm brach. Einfach durch. Elle und Speiche, ein glatter Bruch.
Ich hab erstmal keinen Schmerz gespürt, aber ich konnte die Axt nicht mehr festhalten. Meine Finger hatten plötzlich keine Kraft mehr, und mein Arm fühlte sich seltsam an - falsch und taub. Als hätte ihn mir jemand weggenommen und gegen einen Ersatz aus billigem Plastik ausgetauscht.
Ich betrachtete den Arm eine Weile. Verständnislos. Sah aus, als hätte ich ein neues Gelenk, dessen Gebrauch ich noch nicht so ganz gelernt hatte. Im Hintergrund hörte ich Lärm, der an mir vorbeirauschte. Ein Handgemenge. Hastige Fußschritte.
Ich sah auf. Der Typ ohne Mund hatte sich befreit, oder Sylvia und die anderen hatten ihn losgemacht. Sie, Brian und Kim kämpften mit Bill und hatten ihn zu Boden gerungen. Er lachte. Schob sich einen Finger ins Auge. Ekliges Geräusch, und dann rann ihm weißliche Flüssigkeit übers Gesicht. Der andere Typ war an der Tür. Dann platzte ihm der Kopf. Wie eine Melone. Einfach so.
Ich hob die Axt auf, mit der linken Hand. Es war klar - dieser Bill Toge war kein Mensch. Irgendwas anderes, irgendwas schreckliches. Er sah nicht einmal aus wie ein Mensch, mit dem weiß und rot blutenden Auge. Das andere Auge lachend, wahnsinnig. Noch schlimmer als das kaputte. Wie ein besonders ekliges Insekt.
Ich hab draufgeschlagen. Ich wollte sein waches Auge wegmachen. Es auslöschen. Zufall, daß ich die Axt mit der scharfen Seite benutzt habe. Hätte genauso gut die andere sein können. Hab ich mir zumindest hinterher versucht, einzureden.
Bad Horse:
Fortsetzung des letzten Kapitels...
Dann waren wir wieder an der Kreuzung mit dem Unfall. Diesmal waren nur zwei Autos ineinandergekracht, und es lagen auch nur zwei tote Bill Toges in der Gegend herum. Mein Arm war immer noch gebrochen.
Mir wurde klar, was ich getan hatte. Daß das kein Insekt gewesen war, das ich totgeschlagen hatte (und ich halte prinzipiell nicht mal viel davon, Insekten totzuschlagen. Ökologische Nischen und so). Ich ließ die Axt erstmal fallen und war nicht mehr so richtig ansprechbar. Von den weiteren Ereignissen habe ich nicht mehr so viel mitgekriegt - es war, als hätte mir jemand Watte in die leeren Plätze in meinem Kopf gestopft. Nur der Schmerz in meinem Arm war so richtig real.
Wir sind nochmal gesprungen - diesmal in einen Trailer Park. Wir standen im Schatten eines Wohnwagens und konnten sehen, daß am “Eingang” des Parks die Leiche einer Schwarzen lag. Im Wald, der die Trailer umgab, konnten wir Scheinwerfer leuchten sehen.
In dem Trailer Park hatte sich ein Kult versammelt, der wohl gerade von Polizei und (wahrscheinlich) FBI belagert wurde (als könnten die sich zurückhalten, wenn es darum geht, irgendwelche Leute zu belagern).
Wir fanden heraus, daß der Führer des Kults Bill Toge war. Der war aus irgendeinem Grund völlig begeistert von Brian, den er für eine Art “Gesandten” oder so hielt. Er brabbelte auf uns ein und nahm uns mit in seinen Wohnwagen.
Bevor er uns seine Philosophie erklären oder mit seinem Tee vergiften konnte, hab ich ihn niedergeschlagen. Mit einem Aschenbecher, wenn ich mich richtig erinnere. Warum? Keine Ahnung. Er hatte denselben Blick wie der andere Bill - irre, durchgedreht. Nicht so ganz menschlich. Gut, daß keine echte Waffe in der Nähe war.
Bill war nur ohnmächtig. Wir wollten fliehen, und ich glaube, wir haben dafür seinen Trailer benutzt (war ein Caravan). Sylvia ist gefahren, auf die FBI-Lichter zu. Irgendwer hat auf uns geschossen, aber ob es die Kultisten oder die Polizei war, weiß ich nicht. Getroffen haben sie nicht.
Irgendwann waren wir wieder an der Kreuzung. Diesmal gab es keinen Unfall und keine Leichen, nur ein einzelnes Auto, das mit hoher Geschwindigkeit an uns vorbeifuhr. Wahrscheinlich Bill, der Bankräuber.
Wir sind weitergefahren, auf die Stadt zu. Dort haben die anderen mich erst mal zu einem Arzt gebracht, der meinen Arm gerichtet und geschient hat.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir gleich weitergefahren sind, oder ob wir erstmal in der Stadt geblieben sind. Mir ging es nicht besonders toll. Ich kam nicht so gut damit klar, daß ich diesen Typ umgebracht hatte. Brians “aufmunternde” Worte haben auch nicht geholfen. Er mußte es wohl ins Lächerliche ziehen, um damit fertig zu werden. Mir war nicht nach Lachen zumute. (Und wenn ihr einen Beweis dafür wollt, daß ich nicht wirklich ein gewalttätiger Mensch bin, dann kann ich jetzt anführen, daß ich - trotz aller Provokation - Brian nie eine reingehauen habe. Kann er von sich nicht behaupten.)
Was die anderen gemacht haben, weiß ich nicht. Ich bin erstmal losgelaufen. Irgendwohin. Schade, daß man seinen Gedanken nicht davonlaufen kann. Auch schade, daß mein Orientierungssinn nicht so der Hit ist, und ich mich erstmal verlaufen habe. Ich hatte es aber sowieso nicht so eilig damit, die anderen wiederzutreffen.
Irgendwann hab ich dann die Lichter der Stadt gesehen und bin drauf zugelaufen. Unterwegs mußte ich über eine Grasebene, auf der ein einzelner Baum wuchs. Ich lief so vor mich hin, ein bißchen high von den Schmerzmitteln, die der Arzt mir gegeben hatte, als ich auf einmal den Büffel sah. Ein erwachsenes Männchen (auf der Rez-Ranch züchten sie Büffel, ich kann die Dinger unterscheiden), und schlecht gelaunt. Sah mich, und rannte auf mich zu.
Ich dachte an die Geschichte von meinem Großvater, über den Häuptling und seinen Büffel, und blieb stehen, um dem Vieh entgegenzusehen.
Das wurde natürlich nicht langsamer, und im letzten Augenblick bin ich zur Seite gesprungen. Da sah ich dann auch, daß es sich tatsächlich um ein Auto handelte. Es brauste an mir vorbei und krachte mit voller Wucht gegen den Baum. Der Insasse des Autos war sofort tot. Es war Bill Toge.
Kurz nach dem Unfall tauchten Sylvia, Brian und Kim auf. Sie hatten wohl nach mir gesucht und das brennende Auto gefunden. Brian machte ein paar blöde Bemerkungen, ob ich diesen Bill auch umgebracht hätte, und versuchte ihn dann aus dem Auto zu ziehen.
Ich weiß nicht, ob es ihm gelang oder nicht, aber es war auch unwichtig. Jetzt kam nämlich der surreale Teil.
In der Nähe der Grasebene war ein kleiner Wald, über dem plötzlich ein helles, grell-weißes Licht aufging. Sylvia und Kim gingen sofort los, um herauszufinden, was da los ist. Brian folgte ihnen, weil er sich Sorgen machte. Ich ging auch hinterher, aber sehr langsam. Ich hielt es für unwahrscheinlich, daß das Leuchten etwas gutes bedeutete.
Sylvia und Kim verschwanden in dem Wäldchen. In dem Moment griff irgendetwas nach mir und zog mich nach vorne, auf das Leuchten zu. Brian ging es genauso, er war noch näher dran. Wir kämpften vergeblich gegen den Zwang an, und wurden schließlich ins Licht gezogen.
Und wachten auf. Im Krankenhaus im zweiten Tucson. In weißen, gepflegten Betten. Alles in Ordnung.
Was für eine Soap-Opera-Erklärung. Alles nur ein Traum, Bobby ist nicht tot, er steht nur unter der Dusche. Klar.
Ganz so einfach war es aber nicht. Mein rechter Arm war immer noch gebrochen.
Ein bedrückter Arzt tauchte auf und gab uns ein paar Erklärungen. Wir waren tatsächlich in der psychiatrischen Abteilung der Klinik gelandet. Dort hat uns der Chefarzt unter Drogen gesetzt und irgendwelche Experimente mit uns veranstaltet - einen Monat lang. Schließlich brannte die Klinik durch ungeklärte Ursachen ab, der Chefarzt war tot, erschlagen. Sein Name? Bill Toge.
Vielleicht war alles eine Halluzination. Vielleicht habe ich Bill Toge nicht mit der Axt erschlagen. Aber es fühlte sich so verdammt real an - es machte keinen echten Unterschied. In einer “realen” Situation hätte ich das gleiche getan. Und mein Arm war gebrochen. Das war keine Halluzination. So einfach kann ich mich da nicht rausreden. “Hach, ich habe ja nur geträumt, daß ich ihn ermordet habe.” Nein. Funktioniert nicht.
Dem Arzt in der Klinik war die Situation jedenfalls sehr peinlich. Er hatte wohl Angst, daß wir losgehen und das Krankenhaus wegen Freiheitsberaubung verklagen. Er war erleichtert, als wir nur Atteste wollten, daß wir einen Monat in dem Krankenhaus verbringen mußten (wegen eines Autounfalls, war die offizielle Erklärung). Dann hatten wir eine Telefonrunde: Sylvia hat die Uni angerufen, weil sie zu Semesterbeginn nicht da war, und es mit Hilfe ihres Attests geschafft, ein Urlaubssemester zu bekommen. Ich konnte meinen Eltern einigermaßen verklickern, was passiert war. Allerdings konnte ich nicht sicher herausfinden, ob sie meinen Anruf aus dem Einkaufszentrum bekommen hatten - die Möglichkeit besteht. Mein Cousin Jason ist jedenfalls tatsächlich verhaftet worden.
Brian hatte mit seinen Eltern nicht so viel Glück. Die waren total von der Rolle, haben sich riesig Sorgen gemacht. Mr. Farrington hat Brian gesagt, er soll bloß bleiben, wo er ist - seine Eltern kommen vorbei, um ihn abzuholen.
Wenn wir je einen Grund gebraucht haben, um sofort weiterzufahren, hatten wir ihn jetzt. Wir sind noch einmal in die Kirche, um nach dem Wandgemälde zu schauen (es war noch da, und unsere Gesichter waren auch noch drauf). Dann haben wir unser Zeug geholt und Tucson verlassen. Nach dem toten Axtmörder haben wir nicht mehr gefragt.
Ich glaube, das war alles. Der nächste Ort, den wir anfuhren, hieß nicht mehr Tucson. Leider hieß das nicht, daß er vollkommen harmlos war... kommen wir zum nächsten Kapitel.
Bad Horse:
Hillrose - Lost in the Music
Nachdem wir Tucson verlassen hatten, überquerten wir die Grenze zu Colorado. Und prompt gab unser Auto mal wieder seinen Geist auf. Das war kurz vor dem malerischen Städtchen Hillrose - der Stadt mit der magnetischen Anomalie.
Sylvia rief den AAA an, damit die den Wagen abschleppen. Und wieder trafen wir in einer Stadt mit einem Abschleppwagen ein. Die Geschichte mit der magnetischen Anomalie stand groß und breit auf einer Tafel vor den ersten Häusern von Hillrose. Der Abschleppmann erzählte uns, daß es in den Hügeln ein seltsames Phänomen geben würde: Durch starken Magnetismus würde man beim Besteigen eines Hügels nach oben gezogen. Auch der Bach dort fließt bergauf. Es gäbe auch noch andere, optische Verzerrungen. Die anderen fanden das faszinierend - mich hat mehr interessiert, ob es in dem Ort eine Kneipe gibt, in der man sich betrinken kann.
Wir mieteten uns erstmal im örtlichen Motel ein. Der Motelbesitzer war ein unfreundlicher Typ, den wir später mit einer Axt rumschleichen sahen (natürlich). Ich glaube, er wollte nur ein kaputtes Rohr reparieren, aber in unserer geistigen Verfassung hatten wir natürlich Angst vor ihm. Wir sind dann Essen gegangen (spannend: Hamburger) und haben uns ein bißchen mit der Frau unterhalten, die dort arbeitet. Danach wollten die anderen gehen und sich die Anomalie ansehen. Ich ging nicht mit. Ich hatte andere Pläne.
Während des Essens sind ein paar Sachen gesagt worden, die mich auf die eine oder andere Weise getroffen haben. Brian hat der Bedienung erzählt, wie “bestialisch” der Chefarzt der Psychiatrie in Tucson ermordet wurde (ohne meine Beteiligung zu erwähnen, aber ich wußte, wen er meinte). Und die Frau meinte - in einem ganz anderen Zusammenhang - “Wenn es dir irgendwo nicht mehr gefällt, dann mußt du weiterziehen.”
Mir gefiel diese Welt nicht mehr. Ich konnte nicht mit dem leben, was ich getan hatte, und ich kam nicht mit den Dingen klar, die wir erfahren hatten. Das Übernatürliche, das Unnatürliche jagte mir derartig Angst ein - das hatte nichts mehr mit rationaler Furcht vor einer Bedrohung zu tun. Die Welt, in der ich mich fand, war ein fremder Ort für mich, ein dunkler, bedrohlicher Ort. Nichts hatte mich je darauf vorbereitet, damit klar zu kommen. Ich habe nie an das Übersinnliche geglaubt. Horoskope? Aberglaube. Kristalle? Pendel? New-Age-Humbug. Visionen? Wahrträume? Schwachsinn. Und das, obwohl mein Großvater ein paar sehr seltsame Dinge tun kann. Aber das konnte ich ja ignorieren. Jetzt konnte ich nichts mehr ignorieren.
Ich bin allein ins Motel gegangen. Eigentlich wollte ich mir die Pulsadern aufschneiden, aber dazu war ich dann doch zu feige. Also hab ich Schlaftabletten genommen, die ganze Dose, und mit einer Flasche Whisky runtergespült. Dann hab ich Hollow Men von Eliot gelesen und Zitate daraus auf Zettel gekritzelt, bis es schwarz um mich wurde.
Zuerst war es, als würde ich nur träumen. Ich befand mich in einem großen, schwarzen Raum tief unter der Erde. Um mich herum standen Statuen aus weißem Gips. Einige davon erkannte ich: Der Abschleppmann, der Motelbesitzer, die Bedienung aus dem Restaurant. Alle Statuen waren hohl, mit gähnenden Augenhöhlen und Mündern. Als ich eine davon berührte, brach der Gips sofort weg. Und mein Finger auch. Da sah ich, daß ich genauso hohl war wie die Statuen.
Dann wurde es wieder dunkel. Ruhig, irgendwie warm, ganz friedlich. Ich vergaß alles und schwebte eine Weile zufrieden in der Schwärze.
Dann bemerkte ich, daß ich mich bewegte. Das Licht, auf das ich zuflog (oder das auf mich zuflog?) war zunächst nur ein kleiner, weit entfernter Punkt, wurde aber rasch größer und heller. Und als ich in das Licht eintauchte, sah ich für einen Moment lang alles. Das ganze Universum, den ganzen Kosmos. Wie alles zusammenhängt, wie alles funktioniert, wie alles Sinn macht. Es war nicht nur klar und verständlich, es war auch so schön, daß es mir das Herz brach. Ich kann das jetzt nicht mehr in Worte fassen, aber ich glaube, daß es Worte gibt, die all das ausdrücken können. Ich bin zurückgekommen, um diese Worte zu suchen.
In der Zwischenzeit schauten sich Brian, Kim und Sylvia die Anomalie an. Es gab auch einen Führer, der ihnen alles zeigte. Wie es schien, floß das Wasser an diesem Hügel tatsächlich bergauf. Die Schwerkraft schien hier irgendwie nicht zu funktionieren. Während der Führer ihnen zeigte, wie sich auch die Wahrnehmung durch den Magnetismus verzerrt, hatte Sylvia eine merkwürdige Vision: Sie sah, wie ich plötzlich an Kims Stelle auf dem Hügel stand, am Rand einer kleinen, aber tiefen Schlucht. Und wie Brian ausholte, um mich den Hügel hinunterzustoßen. Wie ich taumelte.
Sylvia rannte los, um mich zu retten. Tatsächlich hätte sie fast Kim in die Schlucht gestoßen. Danach war den Dreien die Lust an dem Ausflug vergangen, und sie gingen zurück in die Stadt. Dort stellten sie fest, daß die Tür zu meinem Zimmer verschlossen war. Eigentlich wollten sie es damit auf sich beruhen lassen (was hätte mir schon passieren sollen), aber Sylvia hatte ein wirklich seltsames Gefühl, und Kim war neugierig. Also holte Brian den unfreundlichen Motelbesitzer, damit er die Tür aufbrach.
Ich wurde ins Krankenhaus gebracht (meine komischen Zettel müssen die anderen verschwinden haben lassen. Oder ich habe mir nur eingebildet, sie zu schreiben. Jedenfalls habe ich sie nie wieder gesehen, und mich hat auch nie wieder jemand danach gefragt). Dort bekam ich den Magen ausgepumpt (gut, daß ich davon nichts mitbekommen habe) und kreislaufstützende Medikamente verabreicht. Ganz gereicht hat das nicht: Ich bekam Herzflimmern und war für einige Zeit klinisch tot. Mit einer Defibrilator konnte der Arzt mich wieder beleben. (Die elektrischen Verbrennungen von diesem Ding tun gar nicht so unwesentlich weh. Ein Fakt, der wenig bekannt ist.).
Sylvia und Brian hockten die ganze Nacht im Vorzimmer des Arztes (es gab in Hillrose kein Krankenhaus. Nur diesen Arzt) und mußten Kate Bushs “Running Up That Hill” ertragen. Die Krankenschwester hatte eine Kassette mit einer Endlosschleife von diesem Lied laufen und weigerte sich kategorisch, irgendetwas anderes zu hören.
Sie haben mir später erzählt, daß sie sich fürchterliche Sorgen gemacht haben, vor allem, als mein Herzschlag ausgesetzt hat. Sylvia hat sich wohl schwere Vorwürfe gemacht, weil das alles angeblich ihre Schuld sei - schließlich hatte sie R. Brown durch die Prüfung fallen lassen, blah, blah, blah. Jetzt nur mal für dich, Sylvia: Du hast keine Schuld an dem, was passiert ist. Okay?
Was Kim zu der Zeit gemacht hat, weiß ich nicht. Geschlafen, schätze ich.
Am nächsten Tag war mein Zustand so weit wieder stabil, und Brian und Sylvia konnten frühstücken gehen. Kim kam auch vorbei. Und da wurden die drei Zeuge einer wundersamen Veränderung: Der Motelbesitzer, vorher so mürrisch und abweisend, war an diesem Tag fröhlich und nett. Flirtete mit der Bedienung in dem Diner herum. Kim hatte vorher mitbekommen, daß er - noch im Motel - ein Lied gehört, bei dem es ums Flirten und die Liebe ging.
Nach dem Frühstück haben die drei mich besucht. Ich war bei Bewußtsein, wenn auch körperlich ziemlich schwach. Ich fühlte mich wie jemand, der eine schwere Krankheit überstanden hat. Erleichtert, irgendwie.
Das Gespräch hat die drei wohl beruhigt. Dem Arzt habe ich erzählt, daß ich betrunken war, und mich mit der Anzahl der Schlaftabletten verschätzt hatte. Ich weiß nicht, ob er mir geglaubt hat - er machte eigentlich schon den Eindruck.
Kim, Brian und Sylvia sind dann gegangen, um sich die Stadt anzusehen. Außer der magnetischen Anomalie (die zumindest Brian noch mal untersuchen wollte) gab es in Hillrose auch noch so faszinierende Sachen wie das Haus, in dem Elvis mal eine Nacht verbracht hatte. Und einen sehr gut sortierten Musikladen - CDs, Platten, Bücher, alles zum Thema Rockmusik.
Nach dem Besuch im Musikladen haben sich die drei getrennt. Brian wollte zur Anomalie, Kim wollte rumhängen und sein neues Buch lesen. Sylvia ist (glaube ich) mit Brian mitgegangen.
Bei der Anomalie mußten die beiden erstmal feststellen, daß der Führer, der gestern sehr enthusiastisch und zuvorkommend gewesen war, heute knurrig und desinteressiert erschien. Brian hat dann noch festgestellt, daß die Anomalie eine optische Täuschung ist - durch den ständigen Wind an der Hügelseite wachsen die Bäume so zur Seite, daß es aussieht, als würde es nach oben gehen. Statt dessen führt der Weg leicht nach unten. Der Führer fand die Erklärung nicht so witzig.
Kim wurde mittlerweile von einem Typ angesprochen, den er schon im Musikladen getroffen hatte. Der hatte dort eine größere Lieferung von Kassetten abgegeben. Im Gespräch erfuhr Kim, daß der Typ George Hunter heißt und hier ein gutes Werk tut - nämlich Kassetten unters Volk bringt. Er bot auch Kim an, ihm eine Kassette zu geben, was der auch annahm. (Kim hat mir das mal erzählt, aber ich weiß nicht, ob ich die Reihenfolge und den Zeitpunkt richtig aufgezeichnet habe.)
Später kamen Brian und Sylvia noch mal bei mir vorbei, um mir die Geschichte mit der Anomalie und den merkwürdigen Musikstücken zu erzählen. Da auch mein Traum von den hohlen Menschen ziemlich gut dazu paßte, beschlossen die beiden, von jetzt an vorsichtig zu sein.
Beim Mittagessen im Diner erzählte die Bedienung (sie hatte auch einen Namen. Ich wußte ihn auch mal, aber jetzt nicht mehr. Rose?) Brian, daß ich wahrscheinlich einfach eine Freundin bräuchte (klar, sicher. Das letzte, was ich brauchen kann, ist eine Freundin). Die junge Hope Smith wäre doch ein nettes Mädchen, vielleicht sollte ich sie ja mal kennenlernen. Brian beschloß, sich danach noch ein bißchen im Ort umzusehen. Sylvia ist auch noch herumgewandert, dann aber wieder zu der Arztpraxis gekommen. Da konnte sie sich mein Gejammer über das schrottige Essen anhören - mir war die ganze Zeit ziemlich schlecht, und ich konnte nichts bei mir behalten. Die Sachen, die ich haben wollte, wollte mir die Krankenschwester nicht geben. (Nein, kein Whisky. Damit bin ich fertig. Ich brauche keine Krücken mehr.)
Kim und Brian sind an diesem Abend nicht wieder aufgetaucht. Kim war damit beschäftigt, Musik zu hören, und Brian lief im Ort herum und unterhielt sich mit verschiedenen Leuten. Dabei stellte er fest, daß alle einen Kassettenrekorder besitzen, der scheinbar ständig läuft und immer wieder dasselbe Lied spielt. Jeder hatte ein eigenes Lied, einen bekannten Rock- oder Popsong aus den letzten paar Jahrzehnten, den er andauernd hörte. Die Musik schien die Stimmung der Leute extrem zu beeinflußen. Wie extrem, zeigte sich erst am nächsten Tag, als es Brian schon egal war.
Ich höre jetzt damit auf, mich für Foreshadowings zu entschuldigen. Sie sind einfach stärker als ich.
Zuletzt ging Brian bei Hope Smith vorbei. Sie war eine junge Lehrerin, deren Eltern schon vor längerer Zeit gestorben waren - weiß, blond, so ein richtiges 50er-Jahre-Mädel mit Rock und Pferdeschwanz. Sie hörte “Love Is In the Air”, als Brian ankam. So hat sie sich auch benommen: Hat ihn angehimmelt, lieb gelächelt, schüchtern, aber interessiert getan und schließlich einen Spaziergang unter dem Sternenhimmel vorgeschlagen. Brian ist voll darauf abgefahren und hat die Nacht bei ihr verbracht (ja, klar. Schüchterne Mädchen schlafen immer gleich mit einem Typen, wenn sie ihn nett finden. Sicher doch).
Am nächsten Morgen hatte Brian dann einen eigenen Kassettenrekorder, der ihm vorgedudelt hat, es sei ein “Wonderful Day”. Hope hat auch irgendein Liebeslied gehört, also war an der Front alles klar - ein strahlendes junges Paar.
Kim muß irgendwann an diesem Morgen oder noch am vorigen Abend George Hunter wieder begegnet sein. Entweder Georgie hat ihm vorgeschlagen, doch den Musikladen zu übernehmen, oder Kim ist selber auf die Idee gekommen. Jedenfalls hörte der alte Musikladenbesitzer an diesem Tag das schöne Lied “Surprise! You´re Dead!” auf seinem Kassettenrekorder und brach tot zusammen. Kurz darauf zog Kim in dem Musikladen ein und beschloß, eine Band zu gründen.
Sylvia und ich haben zu diesem Zeitpunkt natürlich auch gemerkt, daß etwas nicht stimmt. Die Kassettenrekorder der ganzen Hillrose-Leute waren ihr auch aufgefallen, und es war irgendwie komisch, daß wir Brian seit dem vorigen Nachmittag nicht mehr gesehen hatten. Kim kannten wir noch nicht gut genug, um sagen zu können, was für ihn normales Verhalten ist und was nicht. (Jetzt, wo ich ihn besser kenne, bin ich mir immer noch nicht ganz sicher. Aber “normal” ist vielleicht auch kein Begriff, den ich auf irgendeinen von uns anwenden sollte).
Der Arzt meinte, es ginge mir ja schon viel besser, und ich solle nur in den nächsten Tagen aufpassen, was ich esse. Ich fühlte mich zwar nicht sonderlich fit (Kreislaufprobleme, Übelkeit und Schwindelanfälle gehören bei mir nicht zum normalen Programm), aber ich habe mir Sorgen um Brian und Kim gemacht, also bin ich mit Sylvia losgedackelt.
Wir trafen Hope und Brian vor ihrem Haus - sie hatte beschlossen, die Schule für heute sein zu lassen, und mit ihrem neuen Lover zum Picknick zu fahren. Brian war ganz erfreut, uns zu sehen, wollte aber von unseren Bedenken nichts hören - er wollte mit Hope in den Park. Er war völlig euphorisch und glücklich. Und er schleppte diesen Kassettenrekorder mit sich rum.
Sylvia und ich haben uns erstmal zurückgezogen und nach Kim gesucht. Der hing im Laden rum, zeigte völliges Desinteresse an uns beiden oder sonst irgendwas und hörte auf seinem Walkman irgendeine Kassette.
Jetzt kriegten wir es mit der Angst zu tun. Schließlich hatten wir beide “Invasion of the Body Snatchers” irgendwann mal im Spätprogramm gesehen, und Kim und Brian kamen uns vor wie diese ausgetauschten Pflanzen-Zombies. Natürlich war uns klar, daß die Gefahr von den Kassetten ausging, aber wie die Dinger genau funktionierten, wußten wir nicht. Also mußten wir experimentieren.
Zunächst beschlossen wir, Brian seinen “Wonderful Day” zu verderben. Ihn zu provozieren und zu verärgern, in der Hoffnung, die Kontrolle des Lieds zu durchbrechen. Wir hofften, daß die Musik ihn noch nicht völlig im Griff hätte.
Also haben wir uns auf den Weg gemacht, um Brian und Hope im Park zu treffen. Während sich Sylvia mit der Kleinen unterhielt, habe ich Brian provoziert. Ich habe ein paar ziemlich fiese Dinge zu ihm gesagt, bis er schließlich wirklich böse wurde und mir eine geknallt hat. Das war das Ende des Gesprächs - er wollte nicht sehen, daß in Hillrose irgendetwas nicht stimmt, er wollte bei Hope bleiben. Und zwar für immer.
Als nächstes haben wir versucht, den beiden seinen Kassettenrekorder wegzunehmen. Es gab eine kleine Rangelei, bei der wir nicht allzusehr im Vorteil waren - ich war immer noch angeschlagen, hatte Probleme mit dem Kreislauf und einen gebrochenen Arm, auf den Brian prompt draufgeschlagen hat. Die beiden sind dann abgezogen - ziemlich sauer auf mich und Sylvia. Nicht ganz ohne Grund, ein paar von den Dingen, die ich zu Brian gesagt habe, waren wirklich unter der Gürtellinie. Verdammt. Ich hab mich nie dafür entschuldigt.
Jedenfalls war Sylvia und mir jetzt klar, daß wir zu drastischeren Maßnahmen greifen mußten - wir würden Brian aus der Stadt entführen müssen, in der Hoffnung, ihn dadurch dem Einfluß der Kassetten zu entziehen.
Dazu haben erstmal einen Wagen gekauft (für fünfzig Dollar, eine rostige Klapperkiste, aber sie fuhr), und haben Brian und Hope dann auf offener Straße angegriffen. Sylvia wollte ihn niederschlagen, und um ihn abzulenken, habe ich Hope angestoßen. Das hat ihm nicht gefallen: Er hat mir mit voller Wucht den Ellenbogen auf den rechten Unterarm gerammt. Auch ohne das charmante Krachen der beiden Knochen hätte der blendende Schmerz mir wahrscheinlich gesagt, daß der Arm wieder gebrochen war.
Immerhin hat sich das Ablenkungsmanöver gelohnt: Sylvia konnte Brian niederschlagen, und wir haben ihn in den Wagen gezerrt. Bevor wir losgefahren sind, hat Sylvia noch den Kassettenrekorder ausgeschaltet, konnte ihn aber Hope nicht entreißen, die damit abgehauen ist.
Bad Horse:
Also sind wir mit unserer Klapperkiste erstmal vor die Stadt gefahren. Dort konnten wir vernünftig mit Brian reden - naja, quasi vernünftig. Er hatte sich wirklich in diese Hope verknallt und ihr sogar einen Heiratsantrag gemacht. Er wollte, daß wir sie auch retten. Nach einer längeren Diskussion haben wir uns darauf eingelassen. Ich mußte mir ein paar Schmerzblocker einwerfen, damit ich überhaupt weitermachen konnte - mein Arm tat höllisch weh.
Dann sind Sylvia und ich zurück nach Hillrose. Brian haben wir beim Auto gelassen, da wir nicht wußten, wie er reagieren würde, wenn er wieder in die Nähe des Ortes käme. Ich wollte Hope aus ihrem Haus locken, mit dem Versprechen, sie zu Brian zu bringen. Sobald sie weg war, sollte Sylvia in ihr Haus einbrechen und ihren Kassettenrekorder ausschalten. Brians Gerät wollte sie auch mitbringen.
Mein Teil des Plans ging auch soweit auf: Ich konnte Hope überzeugen, mit mir zu kommen. Was wir allerdings nicht wußten, ist, daß sie Brians Kassettenrekorder mittlerweile wieder angeschaltet hatte. Damit geriet er wieder unter die Kontrolle der Musik. Er kannte unseren Plan, und er machte sich auf, um ihn zu vereiteln. Mich und Hope hat er verpaßt, aber Sylvia traf er beim Haus und “half” ihr beim Einbruch, in der Hoffnung, sie in den Keller locken und dort einschließen zu können. Kaum dachte er, daß er sein Ziel erreicht hätte, rannte er los, um die Polizei zu holen, die die Einbrecherin verhaften sollte.
Glücklicherweise hatte er sich da verrechnet. Hope Smith schloß ihren Keller nicht ab, und Sylvia gelangte problemlos ins Haus, stellte Hopes Stereoanlage ab und griff sich Brians Kassettenrekorder. Als die beiden Polizisten auftauchten (die an diesem Tag in den Genuß des Liedes “I Shot the Sheriff” gekommen und daher besonders schießwütig waren), war sie schon auf dem Weg nach draußen. Es gab trotzdem eine längere Verfolgungsjagd, bis Sylvia die beiden im Wald abhängen konnte. Gut, daß sie ihr Marathon-Training nicht so vernachlässigt hat wie die beiden Cops ihre Schießstunden.
Sobald Sylvia Hopes Stereoanlage abgeschaltet hatte, stellte sich auch Hope irgendwie ab. Sie bewegte sich noch, wenn man sie irgendwohin führte, aber es war nicht so, als wäre noch jemand zu Hause. Immerhin war sie dadurch leichter zum Wagen zu bringen.
Ich war zunächst besorgt, weil Brian ja weg war. Aber er tauchte bald darauf wieder auf und erklärte mir, er hätte sich nur Sorgen um uns gemacht. Ich sah keinen Grund, ihm zu mißtrauen - ich war ohnehin mit der Welt ziemlich am Ende. Der Wagen war anderthalb Meilen von der Stadt entfernt geparkt, und der Weg kam mir in meinem Zustand ziemlich lang vor.
Nach einem kurzen Gespräch zeigte Brian dann sein wahres Gesicht: Er packte mich an dem gebrochenen Arm und fing an, mich in Richtung der Stadt zu zerren. Dabei erklärte er mir, bald würde ich alles verstehen und auch ein Teil von Hillrose werden.
Die Schmerzen waren höllisch. Unerträglich. Ich habe Brian angefleht, mich loszulassen, den anderen Arm zu nehmen, aufzuhören. Ich hätte alles getan, ihm alles erzählt oder versprochen, wenn er nur meinen Arm losgelassen hätte.
Ich weiß nicht, wie lange er mich hinter sich hergeschleppt hat. Eine halbe Stunde? Vierzig Minuten? Mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Zu dem Schmerz kam noch die Angst, was mit mir in der Stadt passieren würde. Ich wollte kein Musik-Zombie werden. Aber ich hatte keine Chance gegen Brian.
In der Zwischenzeit kam Sylvia beim Wagen an und entdeckte die reglose Hope, die dort allein herumsaß. Sie versuchte, mich anzurufen, was natürlich nicht funktioniert hat (ich habe das Klingeln nicht einmal gehört).
Ich nehme an, daß ihr zu diesem Zeitpunkt aufgefallen ist, daß Brians Kassettenrekorder noch lief, und sie ihn ausgeschaltet hat.
Brians stures Gehirn lief noch eine Weile auf dem “Ich muß ihn in die Stadt bringen”-Trip weiter. Erst, als wir Hillrose erreichten, wurde ihm klar, was er da eigentlich mit mir tat. Er ließ mich los und fing an, sich zu entschuldigen, was mir zu diesem Zeitpunkt natürlich völlig egal war - ich hätte ihm alles verziehen, solange er nur den Arm losließ.
Brian hat mich dann wieder zurückgebracht. Diesmal mußte er mich beinahe tragen. Meine Beine wollten nicht mehr.
Beim Wagen angekommen beschlossen wir, erst einmal nach Fort Morgan zu fahren (nach einer kurzen Rast und ein paar Uppern war ich wieder fit - naja, so fit wie unter diesen Umständen möglich, was zu meiner Überraschung erstaunlich fit war). Dort konnten wir uns um Hope kümmern, einen Plan machen, um Kim rauszuholen, und vor allem etwas essen und uns ausruhen. Ein Krankenhaus schlossen wir erstmal aus - die hätten mich wahrscheinlich dabehalten. Bevor wir losgefahren sind, hat Brian seinen Kassettenrekorder zerstört.
Unterwegs habe ich versucht, Hope wachzureden. Sie war immer noch reglos und katatonisch, aber ich hatte das Gefühl, daß ich sie vielleicht erreichen könnte, wenn ich die richtigen Worte wähle.
Wir haben uns in einem Motel eingemietet und die ganze Nacht auf Hope aufgepasst. Kurz vor Morgengrauen hatte ich auch kurz den Eindruck, daß sie mich verstanden hätte, daß sie aufwachen würde. Zumindest denke ich, daß ich in diesem Moment nicht auf einen Zombie eingeredet habe. Aber dann dämmerte sie wieder weg.
Als die Sonne aufging, wachte sie wieder auf. Aber sie wollte wieder zurück nach Hillrose - offenbar hatte dort jemand ihren Kassettenrekorder wieder angeworfen. Da wir eine erwachsene Frau wohl kaum gegen ihren Willen festhalten konnten, haben wir ihr ein Busticket für den Mittagsbus gekauft und sie in einem kleinen Café in Fort Morgan gelassen. Wir dachten, es ist besser, wenn sie nicht im Ort ist, wenn wir Kim retten gehen. Außerdem hatte Brian die Hoffnung, daß er Hopes Stereoanlage zerstören und sie so vom Einfluß der Musik befreien könnte.
Also sind wir - mit einem neuen Mietwagen - wieder zurückgefahren. Brian gelang es, Hopes Stereoanlage kaputtzuschlagen, danach sind er und ich bei Kim im Musikladen vorbeigegangen. Da Sylvia möglicherweise von der Polizei gesucht wurde, wollte sie lieber im Auto bleiben. Wir hatten den einfachen Plan, Kim mit K.O.-Tropfen in einem Alkopop zu betäuben. Bisher konnte er ja nie widerstehen, wenn irgendjemand an etwas Buntem herumnuckelte. Woher konnten wir auch wissen, daß Kim überzeugter Anti-Alkoholiker ist?
Jedenfalls verlief das Gespräch zunächst eher ungünstig, vor allem, weil Kim aus irgendeinem Grund beschlossen hatte, Brian nicht zu mögen. Von mir wollte er allerdings Texte für seine Band haben, also war er ganz freundlich. Nach längerem Hin und Her und einem weiteren Handgemenge konnten wir Kims Walkman zerschlagen, bevor der an seine Schrotflinte gelangt war.
Kim fand es eigentlich nicht schlimm, von einem Typ mit Kassetten zu einem Musik-Zombie gemacht zu werden. Allerdings beschloß er trotzdem, mit uns zu kommen, weil er die Chancen, in Hillrose eine vernünftige Band zu gründen, als minimal ansah. Er packte alle Musikinstrumente, die er finden konnte, in unser neues Mietauto (glücklicherweise hatten wir ein ziemlich großes Modell gewählt). Dann räumte er die Konten des Ladens leer, und wir konnten aufbrechen.
In Fort Morgan fanden wir Hope noch in dem Café vor, wieder in dem reglosen Zustand des Vortags. Wir nahmen sie erst einmal mit, allerdings ohne große Hoffnung, ihr wirklich helfen zu können.
In dieser Nacht hatte Brian einen seltsamen Traum: Den sollte er besser selber schildern. Es ging auf der einen Seite darum, daß er und eine Gruppe anderer Menschen zusammengerufen wurden und ein Gebäude betraten, das wie eine Art Kirche wirkte. Dort wurde ein Lied gespielt, “Let the Moment Stay Forever” oder “Don´t Let the Moment Pass” oder so ähnlich. Unter den Menschen machte sich ein ungeheures Glücksgefühl breit, alle gehörten zusammen, alles war perfekt. Dann löste sich die Versammlung langsam auf, aber er hatte das Gefühl, als würden die Menschen hier regelmäßig zusammenkommen.
Vielleicht war es auch Sylvia, die diesen Traum hatte.
Jedenfalls weiß ich, daß Brian auch noch träumte, daß er vor einem großen Schloß steht, in dem eine schöne Prinzessin gefangen gehalten wird. Ihr grausamer Vater, ein Zauberer, hat sie eingesperrt. Brian kann nichts tun, auch wenn er gekleidet ist wie ein Ritter und ein Schwert mit sich führt. Das Tor des Schlosses ist versperrt. Brian reitet davon, verspricht dem Zauberer aber, wiederzukommen und die Prinzessin zu holen. Doch der lächelt nur spöttisch und fordert Brian auf, das doch bitte zu tun - er würde sich schon darauf freuen.
Zur selben Zeit wie in der vorherigen Nacht hatte ich das Gefühl, als würde Hope kurz zu sich selber kommen. Dieser Zeitpunkt muß ungefähr mit dem ersten Traum zusammenfallen - es gibt sicherlich eine Verbindung.
Am nächsten Morgen wollte sie auf jeden Fall wieder zurück nach Hause, auch wenn es ihr nicht leicht fiel, Brian zu verlassen. Er versprach ihr, wieder zurückzukommen, sobald wir unsere Angelegenheit in L.A. geklärt haben. Ich hoffe, wir kommen wieder, bevor ihr jemand “I Don´t Like Mondays” in den Kassettenrekorder tut.
Ich war am Tag vorher in Fort Morgan im Krankenhaus gewesen und hatte mir den Arm eingipsen lassen. Ich dachte, dann geht er nicht mehr so schnell kaputt. Die Leute haben mir ernsthaft geraten, den Arm so weit wie möglich zu schonen, sonst würde ich mit Folgeschäden rechnen müssen. Haha.
Jedenfalls fand ich am nächsten Tag, als wir schon wieder unterwegs waren, die Unterschriften von Sylvia, Brian, Kim, einem “J. Hunter” und “Mr.Reaper” auf dem Gips. Die drei behaupten steif und fest, daß sie nicht auf meinem Arm herumgekrakelt haben. Ich weiß auch nicht, wie jemand da dran gekommen ist - der Arm schmerzte immer noch stark, und ich bilde mir ein, ich hätte gemerkt, wenn sich jemand daran vergriffen hätte.
Wenn Mr. oder Mrs. Hunter und Mr. Reaper hier in diesen Aufzeichnungen Kommentare hinterlassen, fange ich an, mir Sorgen zu machen. (Laß es sein, Kim. Ich erkenne deine Schrift. Das gilt auch für dich, Brian. Witzbolde.)
Zwei Tage, nachdem wir Hillrose verlassen haben, habe ich bei Bob Shaw angerufen. Bob ist mein Therapeut - naja, er ist eigentlich Familientherapeut, aber ich kenne ihn schon ziemlich lange, und ich vertraue ihn.
Ich mußte einfach mit irgendjemandem reden. Ich kam nicht mit der Sache klar, die Brian mit mir gemacht hat - um genauer zu sein, kam ich nicht damit klar, wie ich reagiert hatte. Daß ich ihn angebettelt habe, mir nicht mehr wehzutun. Wir haben alle unsere Illusionen hinsichtlich unserer eigenen Stärke, und meine waren nach dieser Sache ziemlich angeschlagen.
Ich habe Bob irgendwas über Drogen erzählt. Die Wahrheit hätte er mir - bei aller Zuneigung - nie im Leben geglaubt. Er ist kein Experte auf diesem Gebiet (wie gesagt, er ist Familientherapeut), aber er meinte, daß ich Schwierigkeiten hätte, zu akzeptieren, daß ich in dieser Situation schwach gewesen sei. Da hat er recht. Niemand will schwach sein, oder? Wir wollen alle glauben, daß wir stark sind. Daß körperliche Schmerzen nicht genug sind, um unseren Willen und unsere Identität auszulöschen.
Jetzt weiß ich es besser, und vielleicht hilft mir dieses Wissen noch mal. Immerhin bin ich mittlerweile besser darin geworden, Schmerzen zu ertragen (es gibt schon Gründe, warum ich hin und wieder mit rechts schreibe). Aber vom Sonnentanz bin ich noch ein gutes Stück entfernt.
Und wenn ihr findet, daß ich bemerkenswert gesammelt klinge für einen Typen, der versucht hat, sich umzubringen, dann laßt mich das kurz erklären: Ein Teil von mir ist in Hillrose gestorben. Das war der Teil, der Angst hatte, der eine Welt brauchte, die er sich erklären konnte. Der Teil, der mit all diesen übernatürlichen Phänomenen nicht klarkam. Der Teil, der Alkohol oder irgendeine andere Stütze brauchte.
In vielen primitiven Kulturen muß ein Kind erst symbolisch sterben, bevor es zum Mann wird. Genauso bin ich gestorben: Ich bin nicht mehr die Person, die ich vorher war. Ich bin aber auch keine völlig neue Person. Aber ich habe ein paar meiner Ängste und schlechten Angewohnheiten auf der anderen Seite gelassen. Wer oder was ich jetzt genau bin, muß ich auch erst noch herausfinden. Jedenfalls hat der Selbstmordversuch genau das bewirkt, was ich erreichen wollte - wenn auch nicht ganz so, wie ich das damals beabsichtigt hatte...
Und ich hab noch vom Krankenhaus aus bei der Uni angerufen und mein Studium beendet. Ich schätze, ich kann auf der Straße mehr über Sprache und Worte lernen als in einem Seminar.
Das hat jetzt nicht viel mit der Erzählung zu tun, aber es lag mir auf dem Herzen. Es ist passiert, jetzt ist es vorbei. Nur eine Station auf dem Weg.
Und wenn wir schon mal dabei sind: Brian hatte die Idee, daß wir - da wir ja jetzt besondere Fähigkeiten haben (im Prinzip die Fähigkeit, übernatürlichen Kram zu bemerken, ohne durchzudrehen) - auch eine besondere Verantwortung hätten, Leute zu helfen, die durch so etwas in Gefahr geraten. (Offenbar hat er als Kind ziemlich viele Superhelden-Comics gelesen.)
Ich kann seine Argumente trotz allem Spott nicht ganz von der Hand weisen. Andererseits haben wir keine große Ahnung, was wir eigentlich tun. Wir stolpern ziemlich blind umher.
Sylvia meinte, sie wolle diese Angelegenheit klären, und dann wieder zu ihrem normalen Leben zurückkehren. Kim will nur eine Band gründen.
Wir haben die Entscheidung über diese Sache verschoben, bis wir in L.A. waren.
Noch ein Gespräch, das wir hatten: Sylvia und/oder Brian hatten das Gefühl, daß uns jemand beeinflußt. Daß es kein Zufall ist, das unser Weg mit sovielen Fallstricken gespickt ist. Sie gingen zunächst davon aus, daß das jemand macht, der uns feindlich gesonnen ist, aber wer weiß: Vielleicht will uns nur jemand vorbereiten. Uns zeigen, was los ist. Warum, weiß ich auch nicht - könnte ja sein, daß er kein Fan von R. Brown ist und uns eine Chance geben will.
Ich habe zwischenzeitlich mal wieder bei meinem Großvater angerufen und ihm unsere ganzen Probleme geschildert. Ich wußte, daß er mir glauben würde.
Er riet mir, mich in L.A. erst einmal an Hopping Roach zu wenden, einen Dakota, der dort lebt. Vielleicht weiß er etwas über Raymond Brown, oder er kann uns anderweitig helfen.
Bad Horse:
Kommen wir zum nächsten Kapitel (diesmal ohne Axtmörder, aber dafür mit umso mehr Toten):
Craig - The Hollow Men
Ungefähr fünf oder sechs Wochen, nachdem wir aus Chicago aufgebrochen waren, kamen wir in Denver an. Das war ungefähr die Hälfte der Strecke, die wir zurücklegen wollten, und die gesamten Rockies lagen noch vor uns.
Da Denver eine große Stadt ist, fühlten wir uns einigermaßen sicher. Bisher hatten wir nur in diesen kleinen, unheimlichen Städten entlang des Highways Probleme gehabt. In einer Mischung aus Naivität und Paranoia fürchteten wir uns mehr vor irgendwelchen inzüchtigen Hinterwäldlern als vor den Gefahren, die in einer Großstadt lauern.
Und natürlich bekamen wir Schwierigkeiten. Kim und ich wollten kochen, daher sind wir in die Mall gefahren, um Zutaten zu kaufen. Im Supermarkt waren allerdings einige Biker, die Waren rumwarfen und die Kassierer anstressten. Da wir ja keinen Ärger wollten, verließen wir den Supermarkt. Es sah ja nicht so aus, als würden die Biker allzu lange bleiben.
Vor dem Supermarkt hatten die Jungs ihre fünf Motorräder geparkt: Eine ganze, schöne, glänzende Reihe. In diesem Moment hatten Kim und ich wohl den selben Gedanken - die standen einfach so erwartend da. Mit einem kräftigen Fußtritt warfen wir die Maschinen um - nur, um die bösen Biker davon abzuhalten, einfach davonzufahren und sich so der Polizei zu entziehen, selbstverständlich. Wir sind schließlich anständige Staatsbürger. Jawoll.
Die Biker kamen raus, als die Polizeisirenen schon zu hören waren. Kim und ich machten uns aus dem Staub, aber die Jungs haben uns noch gesehen. Einer von ihnen hat mit dem Finger auf Kim gedeutet, dann haben sie ihre Bikes aufgehoben und sind davon gefahren. Zwei Sachen fielen uns auf: Zum einen nannte sich diese Gang Hollow Men (was im Zusammenhang mit dem Gedicht von Eliot einigermaßen merkwürdig erschien), zum anderen kamen die Motorräder aus Illinois. Genau wie wir.
Brian und Sylvia hatten eine weniger angenehme Begegnung mit den Hollow Men - sie waren Zeuge, wie die Biker einen Eisverkäufer und ein kleines Mädchen erschossen. Brian versuchte noch, irgendwie zu helfen, kam aber zu spät. Beide waren hinterher erstaunt, wie wenig es sie berührt hatte, die Leiche eines Kindes zu sehen, aber ich schätze, wir haben alle schon zu viele Leichen gesehen, um eine weitere noch sehr bemerkenswert zu finden. Jedenfalls waren sie ziemlich fertig.
Am nächsten Tag brachen wir wieder auf. Schon ein paar Meilen von Denver entfernt überholte uns ein Konvoi aus ungefähr 15 Motorrädern - die Hollow Men. Sie schienen in dieselbe Richtung zu fahren wie wir. Nicht gerade ein beruhigender Gedanke. Wir riefen zwar die Polizei an, aber ohne große Hoffnung, daß die in der Lage sein würde, sich um das Problem zu kümmern.
Wir beschlossen, vom Highway abzufahren und auf Nebenstraßen auszuweichen. Also fuhren wir über die 90 nach Norden, in der Hoffnung, später über Salt Lake City in die Rockies zu kommen. Erste Station war Steamboat Springs, ein kleines Wintersportkaff. Viel war nicht los, aber wir beschlossen trotzdem, uns etwas umzusehen (hauptsächlich auf der Suche nach einem Diner, in dem man etwas anderes außer Hamburgern oder Steak essen konnte. In Steamboat City Diner gab es dann tatsächlich auch etwas, daß sich “Salat” nannte - ein paar hilflose grüne Blätter, die sich in eine essigsaure Joghurtsauce verirrt hatten).
Auf dem Rückweg fielen Kim zwei Indianer auf, die ihn intensiv anstarrten. Als er sie fragte, was denn los sei, meinten sie, er sei “neu auf dem Weg”. Weitere Fragen brachten keine tiefsinnigeren Auskünfte, außer der Aussage, daß sich weder Sylvia, noch Brian, noch ich auf dem Weg befinden würden. Sie wiederholten den Satz auf Kims Bitte hin auch noch einmal in ihrer Muttersprache, was aber nicht wirklich weiterhalf. War eine Uto-Aztekische Sprache, die von den Ute in der Gegend gesprochen wird (Uncompaghre). Ich spreche die Sprache nicht wirklich, allerdings habe ich mal eine Wortliste gesehen, und ja, ich glaube, daß die Indianer das Wort für “Weg” verwendet haben.
In Steamboat Springs fand Kim auch einen Handzettel, der für einem Musikwettbewerb in dem schönen Ort Craig in zwei Tagen warb. Kim war völlig begeistert und meinte, er wolle auf jeden Fall mitmachen. Ich sollte ihm einen Text schreiben, am besten mit Bezug auf das Gedicht Hollow Men.
Am folgenden Tag fuhren wir nach Craig. Das lag ohnehin auf unserer Route. Von den Hollow Men haben wir nichts mehr gesehen, aber ein blödes Gefühl blieb.
In dieser Nacht hatte Brian übrigens einen seltsamen Traum: Er sah Kim, wie er in einer Art Schulaula Gitarre spielte. Sein Publikum waren vier Indiander, die mit reglosen Gesichtern auf vier Stühlen saßen. Ansonsten war die Aula leer. Brian wußte allerdings nicht mehr, welches Lied Kim gespielt hatte.
Craig war eine Kleinstadt mit sieben- oder achttausend Einwohnern, überwiegend weiß, nett, gepflegt und nicht übermäßig paranoid. Entsprechend fanden wir ein hübsches Motel, wo wir uns einmieteten. Kim beschloß, dort zu bleiben und zu üben. Wir anderen wollten etwas von der Stadt sehen. In dem Mythologieführer, den sich Brian und Sylvia in Denver gekauft hatten, hieß es, in Craig gebe es ein Mystery House, das innen größer sei als außen. Das mußten wir uns natürlich anschauen, auch wenn wir alle vermuteten, daß das eher in die Kategorie “Magnetische Anomalie” fallen würde. Immerhin war der Erbauer angeblich irgendwo in dem Haus verschwunden. Ich glaube, Sylvia und Brian hofften, Kontakt zu seinem Geist aufnehmen zu können.
Das Haus war ziemlich interessant: Es gab keinen einzigen rechten Winkel, Boden, Wände, die Decken, alles war irgenwie krumm und schief. Das erschwerte die Orientierung im Haus ganz ungemein - ich glaube aber nicht, daß es innen wirklich größer als außen war.
Vor allem der Keller hatte es uns angetan. Brian beschloß, ein Experiment zu machen: Er wollte ein Stück mit geschlossenen Augen herumgehen und schauen, wo ihn sein Instinkt hinführen würde. Wir hatten am Eingang einen “Ariadnefaden” (ein stinknormales Wollknäuel, nur daß es 5 Dollar gekostet hat) gekauft, damit wir uns nicht völlig verlaufen. Mit diesem Faden tappten Sylvia und ich also hinter Brian her, der wundersamerweise nicht sofort gegen eine Wand lief.
Ich war ein bißchen in Gedanken versunken, da ich eine Idee für das Lied von Kim hatte. Offenbar hätte ich mehr auf Sylvia achten sollen, denn auf einmal fand ich mich in einem alten Lagerraum wieder, in dem Geräte und Kisten aufbewahrt wurden. Von den anderen keine Spur. Aber irgendwie gefiel mir dieser Raum, keine Ahnung, warum. Jedenfalls war er sehr inspirierend - ich habe nicht nur den Liedtext gefunden, sondern auch einige andere, interessante Fragmente.
Brian lief irgendwann tatsächlich gegen eine Wand. Er hatte ebenfalls einen Raum gefunden, der aber nicht weiter bemerkenswert erschien. Brian blieb trotzdem dort, um ihn weiter zu untersuchen, während Sylvia losging, um mich wiederzufinden. Schließlich konnte Brian tatsächlich etwas ungewöhnliches feststellen - irgendwie konnte man in diesem Raum einen Wind wehen hören.
Nachdem wir uns alle wiedergefunden hatten, verließen wir das Haus erstmal. Ich brachte Kim seinen Text, auch wenn ich die Melodie, die ich im Ohr hatte, als ich ihn schrieb, nicht mehr wußte. Kim war einigermaßen zufrieden und machte sich sofort daran, den Text zu lernen.
Wir haben an dem Tag nicht mehr viel gemacht. Gegessen, geredet. Das übliche. Später sind wir dann alle schlafen gegangen. Tat mal ganz gut, einen Nachmittag nicht im Auto, auf der Flucht, in Panik oder im Krankenhaus zu verbringen. Sollten wir öfter machen.
Am nächsten Tag sind wir noch mal zu dem Haus gegangen. Ich war noch mal in diesem Raum und habe wieder vor mich hin geschrieben (aus irgendeinem Grund habe ich die ganze Zeit die rechte Hand benutzt. Fühlte sich hinterher nicht so toll an). Als ich mir die Sachen hinterher angeschaut habe, stellte ich fest, daß ich den Liedtext in verschiedenen Varianten noch einmal geschrieben hatte - und einmal einen Text in einer mir unvertrauten Sprache. Das kann aber nicht am nächsten Tag gewesen sein, ich denke, es war doch schon vorher. Die Zeit, die ich in diesem Raum verbracht habe, kommt mir sehr traumhaft vor, daher weiß ich nicht mehr so genau, was wann war. Sorry.
Ich habe mir die fremde Sprache noch mal angeschaut, und festgestellt, daß es sich um dieselbe Ute-Sprache handelt, die auch die zwei Indianer in Steamboat City gesprochen haben. Daher beschlossen Kim und ich, noch mal nach dort zu fahren, um die Indianer zu fragen, wie man den Text genau ausspricht.
Durch meine vorherigen Sprachstudien konnte ich immerhin genug Worte des Textes idenfizieren, um sagen zu können, daß es sich ebenfalls um eine Version des Lieds “Hollow Men” handelte.
In Steamboat Springs lasen uns die beiden Männer den Text vor, und Kim beschloß, das Lied in dieser Sprache vorzutragen. Da der Wettbewerb schon an diesem Abend war, wollte er den Rest der Zeit bis dahin mit Üben nutzen.
Sylvia und ich waren dann noch in dem Museum. Es ging hauptsächlich um Wirtschaftsgeschichte und war entsprechend öde, daher sind wir nicht lange geblieben. Brian war noch mal in dem Mystery House, um den Raum zu suchen, hat aber nichts gefunden.
Schließlich war es am Abend so weit: Kim packte seine Gitarre und seine Verstärker zusammen und brach zur City Hall auf. Wir gingen natürlich auch hin - schließlich mußte irgendjemand Kim ja anfeuern.
Die Konkurrenz war nicht sonderlich überzeugend. Größtenteils irgendwie nett, aber ziemlich Mainstream. Zum einen Ohr rein, zum andern Ohr raus. Kim war um Klassen besser als die anderen - das hat selbst das Publikum (Hinterwäldler, und größtenteils auch noch die Eltern der Mitbewerber) gemerkt.
Ich habe vergessen, zu erwähnen, daß der Wettbewerb in einer Halle ausgetragen wurde, die aussah wie eine Schulaula, und daß inmitten des Publikums auch vier Indianer saßen. Was für ein Zufall.
Während Kim gerade die erste Strophe spielte, hörten Sylvia, Brian und ich draußen Motorräder näher kommen. Wir standen vorsorglich schon mal auf und bewaffneten uns mit Feuerlöschern.
Völlig berechtigt, natürlich: Mitten in Kims Lied ging die Tür auf und ein riesiger Biker kam rein, zusammen mit ein paar anderen Typen. Er hörte kurz zu, meinte dann, das sei nicht schlecht für einen Anfänger, aber er wäre sauer, weil Kim die Motorräder umgeworfen hätte und dafür müßte er jetzt zahlen. Dann gingen die Biker mit einem fiesen Grinsen auf Kim zu.
In dem Moment ergriff wohl der Geist von John Wayne Besitz von mir. Ich kann mir das nicht anders erklären - ich bin schon als Kind immer vor Prügeleien davongelaufen, aber diesmal hab ich die Biker angebrüllt, ich hätte ihre blöden Maschinen demoliert, und sie sollten doch kommen, wenn sie sich trauen. Und als ein paar davon tatsächlich kamen, hab ich sie mit Löschschaum eingeseift, bevor ich gerannt bin (und auch dann nicht zu weit).
In der Halle brach Chaos aus. Die Biker hatten Schußwaffen dabei, und die guten Bürger von Craig nicht (verdammt, und ich dachte, Hinterwäldler gehen nie ohne ihre Schrotflinte aus dem Haus), also versuchten die Leute, aus der Aula zu fliehen. Sylvia schnappte sich auch einen Feuerlöscher, Kim unterbrach sein Lied und prügelte mit seiner Gitarre nach ein paar Bikern, die vier Indianer standen auf und gingen auf die Typen los, und Brian schaffte es doch tatsächlich, den Riesen (das war der Chef der Hollow Men) zu provozieren. Das war ein Fehler: Der Kerl zog seine Pistole und schoß Brian über den Haufen.
Als Brian fiel, zogen sich die Biker zurück. Einige von ihnen waren im Kampf gegen die Indianer umgekommen, und einer war versehentlich von seinem Kumpel erschossen worden. Sylvia lief zu Brian, um zu sehen, was mit ihm war. Kim und ich waren rannten nach draußen. Dort waren zwar mittlerweile die Cops eingetroffen, aber da sie nur zu zweit waren, hatten sie den Bikern nicht viel entgegenzusetzen. Beide lagen am Boden, der eine schwer verletzt, der andere tot. Die überlebenden Hollow Men saßen schon auf ihren Motorrädern und fuhren johlend davon.
Ich nahm die Waffe des schwerverletzten Cops und schoß hinter den fliehenden Bikern her. Beim zweiten Schuß scherte eine der Maschinen aus, der Fahrer stürzte und überschlug sich ein paarmal. Volltreffer.
Ehrlich gesagt habe ich in diesem Moment nichts empfunden außer einer vagen Befriedigung, daß der Hurensohn nicht davongekommen war, völlig überschattet von meiner Besorgnis um Brian. Er lebte noch, aber nur gerade so.
Kurz darauf tauchten die restlichen zwei Polizisten, die in diesem Ort lebten, auf, zusammen mit der Ambulanz. Die nahmen Brian, den schwer verletzten Cop und einen der Indianer mit. Die anderen drei Indianer waren tot. Die Biker hatten sechs von ihren elf Mann verloren, plus dem einen, den ich auf der Flucht erschossen hatte. (Der Kommentar der Cops zu diesem Toten war ein lapidares “Guter Schuß für Notwehr”. Die waren auch nicht so gut auf die Biker zu sprechen).
Sylvia fuhr mit Brian ins Krankenhaus, Kim und ich machten unsere Aussagen und fuhren dann mit unserem Mietwagen hinterher. Das war das erste Mal, daß ich Kim wirklich fertig gesehen habe: Er machte sich Vorwürfe, daß er uns überhaupt in diese Situation gebracht hatte. Ich habe versucht, ihn erstmal zu beruhigen.
Im Krankenhaus erfuhren wir von Sylvia, daß Brians Zustand sehr ernst war. Sie hatten ihn in den OP gebracht, wo man um sein Leben kämpfte. Auch den anderen beiden Verletzten ging es sehr schlecht.
Der Indianer starb in dieser Nacht (der Arzt, der uns das mitteilte, hätte eine Medaille für “Mangel an Einfühlsamkeit” verdient - als er mit ernster Miene reinkam, dachten wir, wir hätten Brian verloren. Sylvia ist beinahe umgekippt). Der Cop und Brian haben es geschafft, wenn auch knapp.
Während Brian zwischen Leben und Tod schwebte, hatte er eine Art Vision. Oder, besser gesagt, er verbrachte die Zeit auf einer Zwischenstation, zusammen mit den drei toten Indianern (George, Dick und Harry). Die Zwischenstation sah genauso aus wie die Aula. Als Brian sich mit den drei Männern unterhielt, erfuhr er, daß sie auf den vierten (Sam) warteten, damit sie wiederkommen können.
Harry war vor langer Zeit (irgendwann im 19. Jhd.) Häuptling oder Ältester eines Stammes in der Gegend von Craig. Was genau passiert ist, weiß ich nicht, aber die Weißen haben damals wohl den gesamten Stamm abgeschlachtet - darunter auch die Frau von Harry, eine Sängerin. Harry und seine drei Freunde wurden verflucht (oder haben sich selbst verflucht), nicht sterben zu können, bis sie das Lieblingslied der Frau nicht noch einmal gehört haben, gesungen von einem, der heilige Lieder singen kann. Dieser Eine war in diesem Fall Kim, und das Lied war natürlich “Hollow Men”.
Als Sam endlich auftauchte, konnte Brian zurück.
Während wir auf Neuigkeiten warteten, hatte ich das Gefühl, daß Sylvia völlig am Ende war. Es war für sie immerhin schon das zweite Mal, daß sie vor einem OP saß und abwarten mußte, was der Arzt sagen würde. Sie fragte ständig, wer denn der nächste sein würde. Vielleicht hatte sie Angst, daß “aller guten Dinge drei” sein würden, und daß der nächste nicht mehr überleben würde.
Irgendwann hatte ich das Gefühl, frische Luft zu brauchen, und bin weggegangen. Das muß ungefähr zu dem Zeitpunkt gewesen sein, als mir klar wurde, daß ich diesen Rocker erschossen hatte - daß er tatsächlich tot war. Trotz der Geschichte mit Bill Toge (die mir immer noch vorkommt wie ein Fieberwahn, ehrlich gesagt) ging mir das ganz schön an die Nieren - ich halte eigentlich nichts davon, Leute zu erschießen. Intellektuell gesehen zumindest nicht. Meine Instinkte scheinen anderer Meinung zu sein.
Jedenfalls lief ich eine Weile gedankenversunken herum. Ich hatte nicht den Eindruck, daß ich besonders lange unterwegs war, aber ich muß einen Blackout gehabt haben - am nächsten Morgen weckte mich der Besitzer des Hauses in dem kleinen Vorratsraum im Mystery House. Ich habe keine Ahnung, wie ich da hin gekommen bin. Ich nehme an, das sollte mich beunruhigen - tut es aber nicht. Der Raum übte eine starke Faszination auf mich aus, und als ich aufstand, um zu gehen, sah ich, daß ich mein Notizbuch vollgeschrieben hatte - Fragmente, Teilsätze, Ideen. Irgendetwas dort wirkte sich direkt auf meine Kreativität aus.
Als ich ins Krankenhaus zurückkam, erfuhr ich, daß Brian durchkommen würde. Sylvia war die ganze Nacht dort gewesen. Was Kim gemacht hat, weiß ich nicht. Er war eine Zeitlang dort, und gegen Morgen war er auch wieder da.
Wir durften mit Brian sprechen. Er war schwach, aber geistig klar. Er erzählte uns von den Indianern, die wiederkommen würden, um Kims Lied zu hören (ich glaube, das hat Kim geschmeichelt). Nach dem Gespräch haben Sylvia und ich uns ein bißchen hingelegt, um Schlaf nachzuholen. Vorher habe ich noch einen neuen Gips gekriegt - der alte war voller Blut (ich habe Brian aus der Halle getragen).
Als wir dann das Krankenhaus verließen (ohne Brian), um uns noch ein bißchen in der Stadt umzuschauen, tauchte plötzlich einer der Hollow Men auf seinem Motorrad auf. Er tat nicht viel, stand nur da und sah die Straße herunter. Uns hat er glücklicherweise nicht bemerkt.
Ich bin an dem Tag noch mal bei der Polizei vorbeigegangen. Ich wollte das Gesicht des Mannes sehen, den ich erschossen hatte. Es kam mir seltsam vor, jemanden zu töten, und nicht einmal zu wissen, wie derjenige ausgesehen hatte. Die Cops fanden meine Bitte nicht allzu merkwürdig, und ich konnte mir die Leiche ansehen.
Navigation
[0] Themen-Index
[#] Nächste Seite
[*] Vorherige Sete
Zur normalen Ansicht wechseln