Pen & Paper - Spielsysteme > Savage Worlds Regelsystem

Hindrances und warum sie mir Bauchweh bereiten

(1/9) > >>

Edwin:
Es gab eine Zeit, da waren die Helden mit einer Teflon-Schicht überzogen.
Die Verführungskräfte der Vampirkönigin ließen sie unberührt, Drohungen des Dämonenprinzen lachten sie keck ins Gesicht. Keine Verlockung, kein Schrecken war groß genug, um die tapferen Recken auch nur für Sekunden aus der Fassung zu bringen.
Doch irgendwann fand der eifrige Rollenspieler Stellen in Büchern, Filmen und Comics, in denen die Helden IRRATIONAL handelten.
Indiana Jones gefährdet die ganze Die-Welt-Vor-Nazis-Retten-Aktion durch seine Schlangenphobie! Luke lässt sich von seinen Gefühlen überwältigen und bricht sein Jedi-Ausbildung ab! Facepalm!
Aber das seltsame an der Affäre war: irgendwie machen diese Schwächen die Helden lebendiger, menschlicher, kurz: interessanter.
Die Idee von Nachteilen, Hindrances, Lastern usw. im Rollenspielreich war geboren.
Aber warum sollte man in einem oft Herausforderungsorientierten Spiel wissentlich suboptimal handeln? Die Situation ist klar: Belohnungen müssen her.
Dies geschieht in, nennen wir es Variante 1, etwa so: Der Spieler baut zu Anfang seinen Charakter und kann sich bestimmte Vorteile mit Nachteilen erkaufen.
Er kann „Bärenstark“ wählen, aber nur wenn er das auch mit „Saublöd“ bezahlt. Die Belohnung erfolgt in diesem Modell NUR bei der Charaktererschaffung. Ab Spielbeginn sind Vorteile auch wirklich Vorteile und Nachteile halt Nachteile. Diese Vorgehensweise bringt immer einen Haken, einen Stachel, die Peitsche zum Zuckerbrot mit sich. Um die Nachteile IM SPIEL auch wirklich Nachteile sein zu lassen, müssen sie harte mechanische Konsequenzen nach sich ziehen. Wer „Saublöd“ ist, wird fast automatisch seine Intelligenz-Würfe versemmeln. Wer seinen „Ehrenkodex“ brechen will, muss einen Wurf gegen XY bestehen, kriegt XP abgezogen oder das geht halt einfach nicht. Nachteile schränken ein.
Variante 1 hat allerdings so ihre Tücken.
Zunächst hat der Spieler natürlich NACH DER Erschaffung keine Motivation mehr, seine Nachteile oft im Spiel vorkommen zu sehen. Ist er schlau, wählt er in der Wüstenkampagne den Nachteil „Kälteanfällig“ sowie „Eisbärenphobie“. Dass das nicht im Sinne interessanter Charaktermodellierung ist, liegt auf der Hand. Ganz ähnlich wird der „Spielsüchtige“ Spielhallen weiträumig umgehen, und so ganz anders als sein reales Vorbild handeln.
Weiter rutscht die VERANTWORTUNG für das Ausspielen von Nachteilen bei, Zornhau nennt es „Weiche Nachteile“ (solche, die nicht direkt mechanische Auswirkungen haben), oftmals in die Hand des SL: „Ähm, der Typ hat dich grad einen *ZENSIERT* genannt.“ „Ja und? Da bleib ich kühl.“ „Bist du nicht Jähzornig?“ „Ach…ähem….stimmt!“
Warum dies so tausendfach passiert und passiert,e ist klar: Nach der Erschaffung bleibt keine Motivation, Nachteile auszuspielen.
Diese Problem erkennend wurde Variante 2 erfunden: Keine Peitsche im Spielverlauf mehr, sondern nur noch Zuckerbrot. Wer „Jähzornig“ (und es laut Char-Blatt ist) handelt, kriegt einen Bennie, einen Fate-Punkt, einen Willenskraftpunkt, mehr XP und so weiter. Meist wird dem Spieler in dieser Variante freigestellt, wie er handelt: Ist er aufbrausend, gibt’s Belohnung, wenn nicht dann halt nicht. Es ist klar, dass ab diesem Zeitpunkt „weiche“ Nachteile keine NACHTEILE im Spiel mehr sind, sonder VORTEILE. Ich habe keine EINSCHRÄNKUNGEN durch sie, sondern nur Profite! Ist es zu gefährlich, den Typen der mich angemacht hat anzugreifen? Lass ichs halt. Mach ichs doch, werde ich als Jähzorniger belohnt, als Nicht-Jähzorniger nicht.
Entsprechend ist es auch nur Konsequent, weiche Nachteile als VORTEILE zu bewerten.

Warum steht dies aber in der SAVAGE WORLDS Rubrik?
Weil dieses Spiel beide Varianten TOTAL durchmischt und keiner von beiden gerecht wird!
Bei der Erschaffung geht SV nach Variante 1 vor: Wer Nachteile nimmt, kriegt was Dafür, nämlich Fertigkeitspunkt, Edges usw. Dies wird auch den Hindrances gerecht, die ständige mechanische Nachteile haben, wie „Ugly“, „All Thumps“ usw. Merke: wir befinden uns in Variante 1. in Bezug auf die „Harten“ Nachteile. Bei den „weichen“ schwenkt SW aber um: wer „overconfident“ ist, hat IM SPIEL keine mechanischen Nachteile, wie wir es für Variante 1 als zwingend erarbeitet haben. Nein ganz nach Variante 2 bekomme ich hier BONI, wenn ich entsprechend handle (muss ich aber nicht). Overconfident ist eine Bennie-Melkkuh, mit anderen Worten: ein VORTEIL! Für dessen Wahl ich auch noch bei der Charaktererschaffung zusätzliche Vorteile einheimsen konnte! Ugly ist hingegen ein NACHTEIL, den ich nun mal nicht so einfach abschalten kann. Viele Leute würden sich freuen, wenn sie sagen könnten: „Hm, heute mal nicht hässlich!“ Oder: „Heute mal nicht lahm!“ Oder „Heute mal nicht klein!“. Zugespitzt: Nur Trottel wählen bei SW „Harte“ Nachteile.
Es kommt aber noch schlimmer: SW stellt es frei, so viele Nachteile wie man will zu nehmen, ohne zusätzliche Charaktererschaffungspunkte zu bekommen. Hier rutschen wir wieder in Variante 1: Naja, wenn jemand halt aus Rollenspielgründen seinen Charakter verkrüppeln will, soll er halt, gefährdet ja nicht die Balance.“ ABER DAS IST QUATSCH. Der Optimierer wird nämlich nur Variante 2 Nachteile (eigentlich: Vorteile!) wählen: Pacifist, Overconfident, Stubborn, Vengeful… am besten standardmäßig die ganze Palette. Sollte ne Situation aufkommen, in der es nicht ein allzu großes Risiko ist, pazifistisch zu sein: „Bennie bitte!“ Kann ich gefahrlos Rache üben: „Bennie bitte“.
Ich hoffe, mein Punkt ist klar.

Zustimmung?
Gegendarstellung?

Gasbow:
Da ist Savage Worlds tatsächlich ziemlich inkonsequent.
Die 4 Punkte für Nachteile sind im Prinzip sinnlos, da eh jeder sich die Entsprechenden Hindrances holt, da kann man es auch weglassen.
Ausserdem finde ich teilweise die Einstufung von leicht und schwer ziemlich fragwürdig.


Die Benniemelkkuh sehe ich allerdings nicht so. Zumindest die Gentlemen's Edition sagt explizit, dass man nur Bennies kriegen soll, wenn ein Hindrance tatsächlich zum Nachteil gereicht.


Ich stimme dir aber zu, dass es SW besser stehen würde, wenn man die Punkte für Hindrances beim Characterbau vollkommen abschafft.

alexandro:
Man sollte noch hinzufügen, dass die (sogenenannnten) "harten" Nachteile gar nicht so hart sind wie Edwin sie beschreibt:

- wer eine "Schlangenphobie" hat, der meidet Orte an denen es Schlangen geben könnte
- wer "Einäugig" ist, der spielt einen sozial inkompetenten Nahkämpfer
- wer "Zwei Linke Hände" hat, der spielt einen Schamanen
usw.

Auf diese Weise werden diese (angeblich) harten Nachteile ruckzuck ausgehebelt und in weiche (bzw. gar keine) verwandelt.

Deshalb gibt es bei SW keine Bennies für Nachteile, sondern für NACHTEILE:
- wenn der Archäologe mit Schlangenphobie sich TROTZDEM immer wieder in die südamerikanische Wildnis wagt, dann hagelt es Bennies für die Schlangenbegegnungen
- wenn der Einäugige Seebär bei der hübschen Bardame zu landen versucht (und sich dank seines Charismas eine Abfuhr holt) dann gibt es Bennies
usw. usf.

Sie könnten auch (ohne Probleme, wie oben beschrieben) ihre Nachteile ignorieren, genausogut wie ein jähzorniger Charakter seinen Jähzorn unterdrücken kann, nur gibt es dafür halt KEINE BENNIES.

Edwin:

--- Zitat ---- wenn der Archäologe mit Schlangenphobie sich TROTZDEM immer wieder in die südamerikanische Wildnis wagt, dann hagelt es Bennies für die Schlangenbegegnungen
--- Ende Zitat ---
Das ist inkosequent.
Wenn ich jähzornig bin, werd ich belohnt wenn ich jähzornig handle.
Wenn ich eine Schlangenphobie hab...werd ich belohnt weil ich immer wieder Schlangen aufsuche? Hm.


--- Zitat ---Sie könnten auch (ohne Probleme, wie oben beschrieben) ihre Nachteile ignorieren, genausogut wie ein jähzorniger Charakter seinen Jähzorn unterdrücken kann, nur gibt es dafür halt KEINE BENNIES.
--- Ende Zitat ---
Ihr werdet von Schlangen angegriffen. Willst du deine Phobie in Kauf nehmen? Also -2 und nen Bennie.
Find ich generell in Ordnung, wenn er keinen Bennie will kann er sich halt zusammenreißen.

Aber wie ist das mit Lahm? Kann der sich zusammenreißen und plötzlich schnell laufen? Oder der Hässliche plötzlich normal aussehen?

Chaosdada:

--- Zitat von: Edwin am 30.01.2010 | 15:54 ---Das ist inkosequent.

--- Ende Zitat ---
Nein, ist es nicht. Wenn du jähzornig bist bekommst du Bennies, wenn dein Jähzorn sich nachteilig für dich auswirkt; wenn du eine Schlangenphobie hast bekommst du Bennies, wenn deine Schlangenphobie sich nachteilig für dich auswirkt.

Navigation

[0] Themen-Index

[#] Nächste Seite

Zur normalen Ansicht wechseln