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[Rant] Warum ich Cthulhu nicht unheimlich finde

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Minne:
Ich habe neulich mal wieder Delta Green gespielt und ein Eindruck, den ich schon des längeren hatte, hat sich noch einmal bestätigt: Cthulhu ist alles mögliche, es mag auch mal spannend, makaber oder splattebehaftet sein, aber es ist einfach nicht wirklich unheimlich. Zumindest die meisten Abenteuer sind es nicht, und das liegt imho weniger an schlechten Abenteuerdesign als an zentralen Bestandteilen der Cthulhu-Welt und des Systems. Ein Thema von Cthulhu ist ja, dass die Protagonisten, während sie mehr und mehr über die wirkliche Beschaffenheit der Welt, die zutiefst irrational sein soll und von irgendwelchen kryptischen Mächten beherrscht wird, erfahren, immer tiefer in den Wahnsinn sinken.

Nun, seit Ausschwitz wissen wir denke ich recht gut, dass die Menschen mit etwas absolut wahnsinnigem, jeder Humanität oder Rationalität trotzendem Grauen konfrontiert werden können, und dabei, solange es ihre Existenz nicht direkt bedroht, ohne bleibende psychische Schäden davon kommen können. (Ich meine damit, damit mich niemand falsch versteht, dass man offensichtlich über Ausschwitz reden oder sogar Witze machen kann, sich Bilder davon angeschaut haben kann, oder scheinbar sogar als Täter am Holocaust teilgenommen haben kann, ohne verrückt zu werden, nicht dass das für die Überlebenden kein zutiefst traumatisches Ereignis war.) Cthulhu hingegen erwartet offenbar, dass wir uns irgendwie gruseln, wenn uns irgendwelche Fischmenschen oder Tentakelblobs beschrieben werden, obwohl wir mit ähnlichen oder drastischeren Bildern seit unserer Kindheit im Fernsehen bombardiert werden oder sogar mit Karikaturen der entsprechenden Wesen (unspeakable vault anyone?) aufgewachsen sind. Ja, das Spiel simuliert sogar eine psychische Schockreaktion, die überhaupt nachzuvollziehen schon eine riesige Menge von emotionalem Engagment erfordert, zu spielen ist sie wohl nur, wenn man es schafft sich irgendwie angestrengt in einen Zustand der Hysterie zu versetzen. Unsere Welt ist voll von Verschwörungstheorien, phantastischen Gedankengebäuden und merkwürdigen Glaubensbekenntnissen. Aber wohl kaum jemand bekommt Angstschübe, wenn über solchen Kram geredet wird. Leute kriegen in unserer Welt einen Knacks, wenn sie dauerhaft unter Stress stehen, wenn man sie nicht schlafen lässt oder ihr soziales Umfeld erschüttert wird. Dinge die ihnen gestern noch übernatürlich erscheinen, sind wenig später normal. In Cthulhu dahingehen laufe ich Gefahr einen Knacks zu kriegen, wenn ich in irgendwelchen alten Pergamenten von irgendwelchen großen Alten, die irgendwann mal die Welt beherrscht haben sollen, zu lesen bekomme.

Diese sollen irgend eine irrationale Bedrohung darstellen, dennoch finden sich die ganzen Mythoswesen sauber katalogisiert und kanonisiert in der Wikipedia aufgereit. Der Mythos ist banal geworden, die Entwicklung der Welt seit Lovecraft lässt seine Phantasien fast schon grau aussehen. Von seiner eigenen Parodie ist er oftmals nur durch die Autorenintention zu unterscheiden. Was ist die Bedrohung eines Cthulhu gegen die Bedrohung der Atombombe? Auch dieses Thema, dass diese ganzen Wesen auf irgend eine unvorstellbare Art und weise falsch sein sollen, und deshalb den menschlichen Verstand schon beim bloßen Anblick durch den Mixer jagen. Aber was nicht vorstellbar ist, davon kann man auch nicht sprechen, und wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Okay, das waren jetzt 2 Cent für die Sprüchekasse, trotzdem bleib der Punkt: Wie soll es funktionieren, das Unvorstellbare, Antirationale in einem Spiel zu thematisieren, in dem es im wesentlichen um Vorstellung, Hineinversetzen und Interaktion geht? Höchstends als Leerstelle vielleicht, wie auch immer sich das Umsetzen ließe, aber das wäre dann vielleicht Kafka aber bestimmt nicht mehr Lovecraft.

Damit will ich nicht sagen, dass es nicht auch gute, oder sogar gruselige Cthulhu Abenteuer (oder Lovecraft-Geschichten) gibt, aber sie sind imho in der Regel nicht primär wegen dem Mythos gruselig, sondern weil bestimmte Ängste und Unsicherheitsmomente psychologisch geschickt verwendet werden. Dies habe ich bei Cthulhu aber bisher fast nie erlebt.

Bad Horse:
Nur ganz kurz, weil ich müde bin und eigentlich ins Bett sollte:

Ich denke, die Angstspannung in Cthulhu soll aus der Begegnung mit dem Fremden kommen - von der Konfrontation mit etwas unvorstellbar Anderem, etwas, dass der menschliche Geist gar nicht recht erfassen kann und daher daran kaputt geht.

Dazu gehört natürlich der "suspension of disbelief", der aber - und da hast du völlig recht - durch Cthulhu-Puschen und Knuddel-Nyarlhoteps wesentlich erschwert wird. Der Mythos an sich ist dem Rollenspieler zu geläufig, um noch ohne Anstrengung als gruselig wahrgenommen zu werden.

Nin:
Dazu geht mir spontan folgendes durch den Kopf:

Eine wirkliche Horror-Stimmung zu erzeugen, ist so etwas wie die Königsdisziplin. Fun, Action... alles kein Problem. Thrill? Läßt sich machen.
Aber bei den SpielerInnen eine (individuelle und subtile) Gänsehaut zu bewirken ... das ist echt nicht einfach.


--- Zitat von: nnhndrtzwlf am  7.04.2010 | 00:52 ---Nun, seit Ausschwitz wissen wir denke ich recht gut, dass die Menschen mit etwas absolut wahnsinnigem, jeder Humanität oder Rationalität trotzendem Grauen konfrontiert werden können, und dabei, solange es ihre Existenz nicht direkt bedroht, ohne bleibende psychische Schäden davon kommen können.
--- Ende Zitat ---
Die Meinung teile ich nicht. Ohne direkt involviert zu sein, ist eine Abgrenzung zwar leichter möglich, aber bestimmte Geschehnisse scheinen zwangsläufig Traumata zu verursachen. Es ist wohl kaum möglich, sich solchen Ereignissen komplett zu entziehen (bestimmte Konstrukte erlauben es damit besser klar zu kommen, aber ganz ohne Einfluss geht es denn doch nicht).

Heretic:
Das Problem ist, meiner Meinung nach, dass Lovecraft teils überholt ist. Das Ding ist halt auch: Willst du die Spieler gruseln?
Das kann ÜBEL ins Auge gehn, wenn du jemanden dabei hast, und du triggerst eine seiner Phobien. Dann wird aus dem Spaß "Rollenspiel" ganz schnell ein traumatisches Erlebnis. Dazu kommt dann noch das Problem, dass mich andere Dinge gruseln als dich, oder als Boba, oder Bad Horse.
Du müsstest deine Spieler psychologisch durchleuchten, aber wer will das schon mit sich machen lassen, nur um ein RPG zu spielen?
Und dann kommt erschwerend noch hinzu, einen Spannungsbogen aufzubauen und zu halten, mal ganz abgesehen von der Schwierigkeit, seine Spieler dazu zu bringen, sich auf dieses andere Denken einzulassen, wie es zu Lovecrafts Zeit und Jahre davor noch akut war.

Cthulhu kann man wie Kabuki spielen, quasi als Reenactment eines literarischen Stoffs, aber richtig gruseln...? Die SCs: Ja. Die Spieler: Nein.
 
Das mit den Ängsten und Unsicherheitsmomenten ist richtig, aber da haben wir dann das Problem mit den Phobien, die dann beim Spiel getriggert werden können.
Aber, meine Meinung dazu: Der Schaden der dadurch entstehen könnte/kann, ist das bisschen echten Grusel beim Spieler nicht wert.

Zu dem Thema gibts übrigens einen recht guten kurzen Abschnitt im Supernatural RPG, der beschäftigt sich mit genau dem Thema.  


p.s.:
Offtopic: Lovecrafts Werke drehn sich um Dinge-und-Realitäten-wie-sie-nicht-sein-dürften, und um das Entdecken der Tatsache, dass die Welt nicht so ist, wie man sie gern hätte, sondern nicht nur böse, grausam und nihilistisch ist, sondern auf eine wahrlich unmenschliche Art und Weise böse, grausam und nihilistisch.  


Nyarlathothep an sich ist z.B. nicht gruselig. Aber das Prinzip, das Konzept, das er verkörpert. Wenn man das umsetzen kann, dann kann man Grusel erzeugen, so man will.
Nebenbei: HPL ist DAS Paradebeispiel für Pulp Fiction. Hate me now.

Waldviech:
Ich wollt jetzt eigentlich was schreiben - aber Heretic hat mir da schon einiges vorweggenommen.


--- Zitat ---p.s.:
Offtopic: Lovecrafts Werke drehn sich um Dinge-und-Realitäten-wie-sie-nicht-sein-dürften, und um das Entdecken der Tatsache, dass die Welt nicht so ist, wie man sie gern hätte, sondern nicht nur böse, grausam und nihilistisch ist, sondern auf eine wahrlich unmenschliche Art und Weise böse, grausam und nihilistisch.  
--- Ende Zitat ---
Very richtig. Und gerade in dem Punkt "altert" Lovecraft halt ganz gewaltig. In den 30igern mag die Message "Die Erde ist nur ein Staubkorn" mit all den daran hängenden Konsequenzen ja noch eine gewisse Schockwirkung gehabt haben. Heute hat sie das nicht mehr....

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