Autor Thema: [Lebende Welt] Umsetzbarkeit einer dezentralen lebendigen Sandkasten-Kampagne  (Gelesen 848 mal)

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MisterX

  • Gast
    Hallo zusammen!

    Anmerkung vorab: Wie (zmd zu diesem Zeitpunkt ;)) unschwer zu erkennen ist das mein erstes Posting hier. Abseits des obligatorischen "Hallo, Grüße, schön hier sein zu können" eine Salvatorische: Ich hoffe, ich bin hier im richtigen Forum; bei Irrtum bitte korrigieren und ggf. per PN den Kopf waschen. Danke. ;)

    Zum Thema: Ich trage mich seit einiger Zeit (effektiv: seit Jahren; allerdings in wechselnder Intensität) mit der Idee einer dezentralen, lebendigen Sandkasten-Kampagne (zur exakten Begriffsdefinition später). Ich habe das auch schon einmal in der Praxis erleben dürfen, hat großen Spaß gemacht! Seitdem überlege ich immer häufiger mehr oder minder intensiv an dem Konzept herum, bin allerdings auf einige Schwierigkeiten gestoßen, bei denen ich mir über "den Königsweg" (ja, ich weiß, gibt es nicht…) noch nicht sicher bin und das deshalb mit erfahrene(re)n Entwicklern diskutieren möchte.

Inhalt:
  • I. Das Konzept dezentrale, lebendige, strategische, (narrativistisch/simulationistische) Sandkasten-Kampagne
  • II. Meine Erfahrungen (Exkurs)
  • III. Ähnliche Ansätze (kurzer[/i] Exkurs)
  • IV. Identifizierte Probleme (Überblick)
  • V. Umsetzung & Diskussion



I. Das Konzept dezentrale, lebendige, strategische, (narrativistisch/simulationistische) Sandkasten-Kampagne:

Ich zäume mal von hinten auf:
  • Kampagne begreife ich als zusammenhängende Folge von (in sich geschlossenen) Einzelabenteuern/-geschichten mit (annähernd) gleichbleibenden Akteuren. Die Kampagne so wie ich den Begriff gebrauche, ist damit also einerseits an den Hintergrund (Spieler-unabhängig) und die Handlung (Rahmenhandlung ggf. Spielerunabhängig, fokussierte Handlung lediglich in der konkreten Ausprägung von konkreten Spielern abhängig), anderseits auch an die Spielerschaft (also einen Kreis von Spielern mit einem gewissen "harten Kern") gebunden. Ein und dieselbe vorgefertigte Kampagne eines generischen Rollenspiels wird sich also mit der jeweils ersten Spielsession in zwei verschiedenen Spielergruppen zu zwei unterschiedlichen Kampagnen entwickeln.
    Bei der dezentralen, lebendigen Sandkasten-Kampagne geht es mir um eine einzelne Kampagne, d.h. bereits um eine durch die Spieler individualisierte "Welt".
  • Sandkasten interpretiere ich – so bilde ich mir ein – relativ klassisch: Die Spieler sollen in ihren Handlungen möglichst frei und unabhängig handeln können; es gibt keine vorgefertigten Handlungsbögen seitens der Spielleitung oder – wenn es sie gibt – die Spieler können aus diesen Wegen ausbrechen und sie durch ihre eigenen Aktionen beeinflussen.
    Die dezentrale, lebendige Sandkasten-Kampagne soll den Spielern maximale Handlungsfreiheit innerhalb des (spielmechanisch reglementierten) Spielkontinuums lassen.
  • Narrativismus/Simulationismus-Prägung: Ich verstehe vom GNS-Modell nicht viel; die Fokussierung meiner Vorstellungen dürfte allerdings vorwiegend in diesen beiden Ausprägungen zu finden sein. Dieses Merkmal ist eher deklaratorisch denn konstitutioneller Art…
  • Strategisch ist hier als Anhaltspunkt für die "Spielebene" (scope, level) zu verstehen. Während die meisten Rollenspielsysteme eine "taktische" Ebene mit Fokussierung auf einzelne Charaktere vorsehen, soll dieses Konzept gewissermaßen "aus größerer Höhe" auf das Geschehen hinabblicken; die Spieler sollen zwar ihren "Hauptcharakter" haben, mit dem sie auch auf taktischer Ebene operieren können (und das eigentlich auch tun sollen), allerdings auch die Möglichkeit bekommen, weitere Charaktere zu kontrollieren. Die Hauptcharaktere sollen also Anführer (oder wichtige Mitglieder) innerhalb kleinerer oder größerer politischer (oder anderer) Fraktionen sein, deren Handlungen sie beeinflussen oder gar lenken können.
    Plastisches Beispiel (Fantasy): Der Hauptcharakter ist ein Fürst, einige Nebencharaktere wichtige Berater/Vasallen.
    Plastisches Beispiel (SciFi): Der Hauptcharakter ist Präsident eines Planeten, die Nebencharaktere seine Minister.
  • Mit lebendig sind zwei Eigenschaften gemeint:
    • Die Spielwelt soll sich während des Spiels fortentwickeln, die Handlungen von Spielern sollen also tatsächlich spürbare, ggf. einschneidende Auswirkungen auf die Spielwelt haben.
    • Die Spielwelt soll aus Spielern bestehen, hinter den Charakteren sollen also (möglichst viele) lebende Wesen stehen. Hieraus ergibt sich (v.a. im Zusammenhang mit dem Sandkasten-Charakter), dass das Spielgeschehen nahezu komplett von den Spielern angetrieben werden soll. Die Hauptaufgabe der Spielleitung wird eher in Koordination des Geschehens sowie Schiedsrichter- und Chronistenfunktion bestehen. Sie soll bestenfalls durch einzelne Großereignisse (Höhere Gewalt) in das Geschehen eingreifen.
    Das ist der Punkt, der meiner Ansicht nach am meisten Schwierigkeiten in der Umsetzung bewirkt.
  • Dezentral schließlich ist fast wieder ein deklaratorischer Begriff, allerdings einer von immenser Bedeutung: Die Spieler sollen (können!) zum Spiel nicht zentral versammelt sein. Es läuft also auf ein Fernspiel hinaus. Das eröffnet allerdings für den Spielfluss wunderbare Möglichkeiten und ist daher auch charakterisierend. In Kombination mit der strategischen Ebene lädt ein "lebendiges" Fernspiel dazu ein, PvP àla Diplomacy zu betreiben. Entgegen dem Konzept vieler Tischrollenspiele bleibt das Konzept der "Gruppe" eher auf der Meta-Ebene; die Dezentralität bringt eine gewisse Anonymität mit sich, die diesen Effekt begünstigt.



II. Meine Erfahrungen (Exkurs)
Die bisher größte Annäherung an dieses Konzept hatte ich in einer Runde "TSC", eines kleinen, meines Wissens nach unpublizierten "kreativen Strategie-Rollenspiels", das einige Bekannte von mir entwickelt haben (Wer's kennt: Grüße von der Isken-Hegemonie aus TSC VI!).
Jeder Spieler kontrollierte eine Sci-Fi Rasse, die er zuvor selbst entworfen hatte und kämpfte mit den anderen Spielern um Vorherrschaft in einem kleinen Sternenhaufen. Aus den kulturellen Unterschieden ergaben sich schnell Bündnisse und Allianzen aber auch Konflikte. Durch Handel konnte die eigene Wirtschaft gestärkt werden, Forschungen brachten neue Technologien (wunderbar hier: Man schrieb dem Spielleiter, was die neue Technologie an Vorteilen bringen sollte, er erarbeitete Regelmechanismen dafür und machte diese verfügbar, sobald die nötige Anzahl an Forschungspunkten investiert worden war) und der Geheimdienst… naja, tat Dinge.
Ich sehe konzeptionell große Ähnlichkeiten zur Masters of Orion-Reihe bzw. verwandten Spielen.
Das ganze lief rundenbasiert (1 Runde = 1 Jahr Spielzeit; 2-4 Wochen Realzeit) und war regelmechanisch vorwiegend eine äußerst abstrakte Wirtschaftssimulation. Kämpfe wurden vom Spielleiter berechnet, ohne dass der Spieler großartig Einfluss nahm. Interaktion bestand vorwiegend im Austausch offizieller diplomatischer Noten oder über ein Chatsystem, in dem man Weltherrschaftspläne schmiedete. Integraler Bestandteil des Spiels war ein In-Game Wiki, in dem jeder Spieler mitwirken konnte (und das auch in unterschiedlichem Umfang tat); es umfasste zum Zeitpunkt meines Ausscheidens (Invasion eines anderen Spielers…) weit über 200 Seiten. TSC hat mir gut ein-einhalb Jahre unglaublich großen Spaß gemacht, daran möchte ich gern anknüpfen. Leider hat sich die Spielerbasis in die Zeitlosigkeit ("zuviel zu tun!") zerstreut oder aber zerstritten; aber das steht auf einem anderen Blatt geschrieben…



III. Ähnliche Ansätze (kurzer Exkurs)

Ansätze in verschiedentlicher Ausprägung habe ich (außer in TSC, s.o., welches die bisher "nächste" Adaption des Konzepts war) gesehen in:
  • Birthright, einer AD&D bzw. D&D Kampagnenwelt mit strategischen Elementen
  • Empire, einem AEG Supplement zu D&D 3.5
  • The Quintessential Aristocrat, einem Mongoose Supplement zu D&D 3.5
  • The Quintessential Drow, einem Mongoose Supplement zu D&D 3.5
  • Power of Faerûn, von WotC (zu D&D 3.5)
Man sieht, glaube ich, recht deutlich, aus welcher Rollenspieler-Ecke ich komme…

Wer weitere ähnliche Systeme kennt, ist herzlich dazu eingeladen (lies: aufgefordert ;D) sie im Sinne einer Literatursammlung hier zu ergänzen! – Danke!



IV. Identifizierte Probleme (Überblick)

Zunächst wären die Werkzeuge zu nennen. Ein Konzept wie oben benötigt zunächst eine Menge an Kommunikationsmitteln (da wir das Jahr 2012 schreiben – Internetkommunikationsmitteln): Synchrone und asynchrone Kommunikation (d.h. Instant-Messenger und Forum), Private Nachrichten mit einem oder mehreren Empfängern, auf Datei-Basis (man schickt ein PDF, darin ist die Nachricht) oder aber Nachricht+Anhänge-Basis (als Mail-Adaption), schließlich die Hintergrund-Datenbank (Wiki). Idealerweise kombiniert in einem einzelnen Webfrontend zum einfachen Einloggen und Nutzen; TSC (s.o. II.) hatte soetwas und es funktionierte recht gut, wenngleich einzelne Funktionen nicht ganz nach meinem Geschmack waren.

Nun aber zur Umsetzung. Die Kombination aus Rollenspiel, Strategiespiel und (Wirtschafts-)Simulation, letztlich also die Vermischung der strategischen und taktischen Ebene (die ja erhalten bleiben soll, siehe auch oben, I. Begriffsdefinitionen) führen zu bedeutenden Problemstellungen: Es muss Buchführung über die Aktionen (der vielen!) Einzelspieler und ihrer (diverser!) Charaktere geben; diese müssen stimmig in eine chronlogische Reihe gebracht werden, gleichzeitig müssen die Auswirkungen ermittelt und (ggf. an mehr als einen Spieler) kommuniziert werden. Es muss eine Entscheidungsinstanz (= Spielleitung) geben, diese muss aber auch die Möglichkeit zur Entscheidung (auf Basis harter ingame-Fakten, d.h. möglichst vieler Informationen über Spielerhandeln) haben.
Großer Knackpunkt also: Die Sychnronisierung (durch Dezentralisierung naturgemäß) asynchroner Aktionen und die Reaktionen darauf.

Schließlich müssen Mechanismen für ausscheidende, untätige oder sonstwie verhinderte Spieler geschaffen werden, die ungehemmten Spielfluss ermöglichen, Balance muss irgendwie geschaffen werden etc.

Weiterer Problempunkt wären die Kampfregeln und eine dezentrale, also asynchrone aber dennoch möglichst flüssige Implementatio derselben, während die Spieler dennoch maximalen Einfluss behalten. Soll heißen: Trotz – gerade wegen – der strategischen Ebene soll der taktische Kampf weiterhin möglich sein.



V. Umsetzung & Diskussion

Die Umsetzung, die mir im Moment vorschwebt, sieht folgendes vor: Vor der eigentlichen Spielphase erfolgt die Vorbereitungsphase, danach sinnvollerweise die Nachbereitungs- bzw. Auswertungsphase.

In der Vorbereitung werden Charaktere erstellt, Fraktionen gegründet, Machtbereiche geschaffen. Ein oder mehr Spieler (je nach Gesamtgröße der Spielerschaft) können sich zu Gruppen zusammenfinden, dabei können sie entweder gleichberechtigt oder hierarchisiert organisiert sein, Mischformen sind möglich.
Alle Spieler schaffen gemeinsam einen Hintergrund, vor dem sie ihre eigenen Charaktere (Haupt- und Neben-) erschaffen. Zusätzlich werden NSC erschaffen/konzeptioniert/benannt.

Die Spielphase ist naturgemäß der eigentliche Spaß und der Fokus des Spiels. Ein Spieler hat volle Kontrolle über die Handlungen seines Hauptcharakters. Scheidet dieser Hauptcharakter aus dem Spiel (effektiv durch Tod) scheidet auch der Spieler aus. Ein Spieler (in-game dessen Charakter) in einer hierarchischen Organisation hat Kontrolle über ihm untergeordnete Charaktere, der Grad der Kontrolle ist abhängig davon, ob der untergeordnete Charakter ein eigener Nebencharakter (große Kontrolle), ein fremder Nebencharakter (wenig Kontrolle) oder ein fremder Hauptcharakter (keine direkte Kontrolle). Ziel des Spiels ist es, andere Spieler unter die eigene Kontrolle zu bringen bzw. zu eliminieren (ggf. auch nur zu eliminieren, dann wäre es ein "Last Man Standing"-Konzept), sodass die eigene Fraktion an wirtschaftlicher und politischer Macht gewinnen muss, um die Mittel zu erlangen, andere Fraktionen auszuschalten oder zu übernehmen.
Spiel unter den Charakteren bzw. zwischen Charakteren und NSC kann in Form von InGame-Nachrichten (Haupt- u. Nebencharaktere), von Forenspiel (Hauptcharaktere) oder aber Berichtsform (Nebencharaktere) passieren.
Dabei wird ständig der Hintergrund ausgebaut und verfeinert, neue Fraktionen können entstehen, die Geschichte wird detailliert (ggf. durch irgendwelche gefundenen Relikte o.ä.) usw., die Chronik durch Spielerhandeln fortgeschrieben; all das passiert in einer in-game Enzyklopädie (idealerweise ein Wiki).

Die Auswertung bestimmt den Sieger (so "Erfolg" irgendwie objektiv messbar sein sollte), fasst schließlich alle Handlungen (auch die einem Teil oder allen Spielern bisher unbekannten) zu einer Chronik zusammen und kompiliert diese zusammen mit dem gewachsenen Hintergrund.

Gerade für das Informationsmanagement und die NSC-Steuerung werden wohl mehr als eine SL notwendig werden. Prinzipiell wäre es möglich, jeden Spieler "im eigenen Bereich", also für seine Nebencharaktere, als SL auftreten zu lassen, dies steht allerdings in einem gewissen Widerspruch zum kompetitiven Ansatz des Spiels. Besser ist also womöglich ein SL-Team, das die Spieler gemäß interner "Geschäftsverteilung" betreut.

Besonders interessant werden die Regeln, wenn es zum Konflikt zwischen Fraktionen bzw. Spieler(haupt)charakteren kommt, diese sollten auch auf taktischer Ebene ausgetragen werden können, anstatt dass sie im Hintergrund (durch die SL) ausgewertet und die Ergebnisse dann mitgeteilt werden.

Anregungen & Kritik erwünscht!
Warum wäre ein solches Spiel für Euch interessant (wenn's nicht interessant ist: Weitergehen, weitergehen… ;D)?
Was haltet Ihr für umsetzbar?
Welche der angerissenen Mechanismen haltet Ihr für praktikabel? Welche nicht?
Bestehen irgendwo Unklarheiten?
Habt Ihr Anregungen oder Verbesserungsvorschläge?
Last, but not least: Kennt Ihr Systeme, die soetwas abbilden? Vielleicht baut Ihr selbst und sucht Helfer oder leitet und sucht Spieler…?

Danke für's Durchhalten dieses langen Postings – Ich würde mich über eine angeregte Diskussion sehr freuen!