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[Dresden Files] Miami Files - Die Ritter von Miami (a.k.a. "Die schönen Männer")

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Timberwere:
Ricardos Tagebuch: Changes 2

20. Januar

Ich bin ein paar Tage nicht zum Schreiben gekommen. Ich habe auch immer noch viel um die Ohren, aber Zeit für einen Tagebucheintrag muss jetzt sein.
Bevor ich ins Detail gehe: Die Störung unserer Verhandlungen mit Mr. Jimanez war kein Zufall. Adlene lässt uns von seinen Geistern beobachten und stört systematisch unsere Anstrengungen. Aber davon gleich mehr.

Inzwischen haben alle angefangen, sich um ihren Teil des Rituals zu kümmern, und gerade passend (irgendwie mag ich nicht so recht glauben, dass das ein Zufall war) ist Edward ein Flyer in die Hände gefallen: von einer Parfümerie namens „Bottled Lost Dreams“, die wir wegen der Gerüche für das Ritual aufsuchen wollten.
Schon beim Lesen der Anschrift, einer Straße in einem reinen Wohnviertel, wurde uns klar, dass das „Bottled Lost Dreams“ keine normale Parfümerie sein würde. Und tatsächlich fanden wir an der Adresse ein ganz normales Wohnhaus, auch wenn es mit seinem etwas wild aussehenden Garten und seinem etwas abgewohnten Eindruck etwas aus der ansonsten spießigen Umgebung herausstach und tatsächlich einen leicht hexenartigen Eindruck machte. Tatsächlich kannten Edward und Alex die Namen der Besitzerinnen flüchtig: drei afroamerikanische Schwestern, vielleicht in den späten Sechzigern oder frühen bis mittleren Siebzigern, die zu den minor practitionern Miamis gehören.
Schon beim Betreten des Grundstücks bemerkte Alex auf der Straße einen Geist, den er anhand seines Halsbandes als einen von Adlenes Sklaven erkannte. Davon sagte er aber zu dem Zeitpunkt noch nichts, weil wir da gerade ins Haus gebeten wurden. Auch der Garten hatte bereits einen kleinen Threshold, den übernatürliche Gestalten ohne Einladung nicht überqueren konnten; der Threshold des Hauses selbst hingegen war richtig stark: Offenbar wohnten die Frauen schon lange hier und hatten eine starke Bindung zu ihrem Heim.

Nicht nur kannten Alex und Edward die Namen der drei Schwestern, die Damen kannten auch unsere. „Welche Ehre, von den schönen Männern besucht zu werden!“ verkündete eine von ihnen, was mir ehrlich gesagt ein bisschen peinlich war. Aber gut, wir sind ja tatsächlich seit einigen Jahren in Miami zugange, und es wäre albern zu glauben, dass unsere Aktivitäten völlig unbemerkt an den örtlichen Praktizierern vorbeigegangen sind.
Jedenfalls bekamen wir Kekse und Tee angeboten – oder Kaffee, was wir gerne annahmen, vor allem, weil es schon so verführerisch nach Kaffee duftete. Als ich diesen Gedanken aussprach, lächelten die alten Damen, aber von Roberto fing ich mir einen seltsamen Blick ein, den ich nicht so richtig deuten konnte. Überhaupt roch es jenseits des Kaffees ganz genau so, wie ich es mir in einem solchen Haus vorgestellt hatte: nach alten Büchern, nach leicht verstaubten Möbeln und einem Hauch von Potpourri.
(Später erfuhr ich allerdings, dass in diesem Moment tatsächlich jeder von uns etwas anderes gerochen hatte, und zwar offenbar genau das, was unseren Erwartungen entsprach.)

Als im Wohnzimmer der Kaffee vor uns stand, begann Edward, unser Anliegen zu schildern. Er war noch nicht sehr weit gekommen, als es draußen am Gartentor klingelte. Alex sah aus dem Fenster, nickte grimmig  und fragte die Schwestern dann, ob ihnen der Name Joseph bzw. Jonathan Adlene bekannt wäre. Als sie das bejahten, gab er zu, dass wir ein gewisses Problem mit Adlene hätten und dass dieses Problem offenbar gerade vor ihrem Gartentor angekommen sei. Die Damen waren alles andere als begeistert und erklärten, wir sollten das Problem gefälligst loswerden.
Während Edward also weiter mit den Schwestern verhandelte, gingen wir anderen in den Garten. Dort standen vier Personen vor der Tür – keine Geister, denn wir konnten sie auch sehen. Aber die Leute waren besessen, wie Alex uns wissen ließ und wie wir anhand ihrer starren Blicke und reglosen Haltung auch selbst erkennen konnten. Und Alex sah auch noch weitere Geister, die sich in der Umgebung aufhielten und offenbar auf Leute warteten, von denen sie Besitz ergreifen konnten. Ein Mann hatte einen Hund dabei, der sein Herrchen misstrauisch anschaute und bellte. Dieser Mann musste es auch sein, der geklingelt hatte, denn gerade streckte er wieder die Hand aus und drückte jetzt anhaltend auf den Klingelknopf.
Ich ging hin und zog den Arm des Besessenen von der Klingel, was etwas schwierig war, weil ich dem Mann ja nicht wehtun wollte, und es half auch nicht viel, weil er daraufhin einfach mit der anderen Hand weiterklingelte.
Roberto packte den Mann und zog ihn in den Garten, und weil der Geist den Threshold nicht überwinden konnte, kam dessen Wirt drinnen einigermaßen desorientiert wieder zu sich. Wir erklärten das mit 'kurzzeitiger Verwirrtheit', und der Mann, der seine Nachbarn draußen stehen sah, vermutete selbst ein Gasleck oder etwas in der Art.
Uns war klar, dass er einfach wieder besessen werden würde, wenn er den Garten verließe, und schon klingelte eine andere Nachbarin Sturm. Es waren zu viele, um sie alle einzeln davon abzuhalten, also ging Alex hinein und schaltete kurzerhand die Klingel ab. Die Stille war himmlisch.

Im Flur besprachen wir uns kurz unter acht Augen (Edward sprach ja noch immer mit den Damen): Dass die Geister jetzt hier waren, bewies, dass Adlene uns gezielt beobachtet. Den Agenten Jimanez hatte er mit seiner Aktion bereits für uns verbrannt, das durfte bei den drei Schwestern möglichst nicht passieren.
Vielleicht wäre es am besten, wir würden die Geister glauben lassen, unser Vorhaben hier wäre fehlgeschlagen, dann würden sie hoffentlich auch verschwinden, wenn wir gingen.

Indessen hatte Edward verhandelt. Kurz gesagt: Die Damen langweilten sich. Und sie hatten ihre Träume verloren. Sie hatten ihre Träume nicht gelebt, als sie jung waren, aber sie würden gerne wieder wissen, wie es war. Deswegen wünschten sie sich Gesellschaft, oder genauer gesagt einen Gesellschafter oder eine Gesellschafterin. Da sie früher alle Künstlerinnen waren – eine Tänzerin, eine Malerin, eine Bildhauerin – wollten sie auch gerne ein Publikum bzw. ein Modell. Mindestens jemand, der sie besuchen würde, aber idealerweise jemanden, der bereit war, bei ihnen zu wohnen.
Der Gedanke wollte mir nicht so richtig gefallen, Römer und Patrioten. Irgendwie kamen mir dabei all die Geschichten in den Sinn, bei denen Menschen ein vermeintlich harmloses Abkommen mit Feen oder Hexen schließen und dann für hundert Jahre und einen Tag gebunden sind oder etwas in der Art. Wir würden sehr vorsichtig sein müssen, wen wir den Damen zur Gesellschaft fanden und wie wir den Handel formulierten. Aber wir versprachen, uns nach einer geeigneten Person umzusehen, und sobald wir jemanden gefunden hätten, wollten die Schwestern anfangen, uns die gewünschten Düfte zu brauen. Alles, was irgendwie zu Miami passt: vom Duft des Meeres über Damenparfum und Sonnencreme bis hin zum Geruch von Abgasen und dergleichen.

Um Adlenes Geister von den Schwestern abzulenken, ließen wir uns beim Gehen wie geplant mit erhobenem Gehstock und lautem Gezeter der Marke '… und kommt ja nie wieder!!“ von deren Gelände vertreiben. Beim Wegfahren drehten wir eine Schleife, um die Geister zu beobachten, und tatsächlich trieben die Besessenen sich noch etwas vor dem Haus der Schwestern herum und spielten noch eine Weile ihr Klingelspielchen, aber dann verzogen sie sich. ¡Que suerte!

Die Ereignisse bei den alten Damen brachten uns natürlich zum Nachdenken. Das Auftauchen der Geister dort bewies, dass Adlene zumindest irgendetwas weiß und uns deswegen beobachten lässt. Also riefen wir bei den anderen an, um zu fragen, ob die ebenfalls Probleme gehabt hatten.
Angel und Ximena waren für die magische Drohne ins Nevernever aufgebrochen und noch nicht wieder zurück, die erreichten wir also nicht. Dee und Cicerón Linares klangen am Telefon so, als hätten sie weniger Probleme mit Adlenes Geistern als miteinander. Aber eine beunruhigende Sache hatten sie tatsächlich zu berichten: Sie haben ja die Aufgabe, die Magie des Rituals in geordnete Bahnen zu kanalisieren und haben deswegen damit begonnen, an strategisch wichtigen Punkten Wards und Zeichen anzubringen. Ein wichtiger Teil dieses Netzes sind die Gullydeckel, bei denen sie die magischen Symbole einfach auf der Unterseite anbringen, wo sie keiner sieht, wo sie aber trotzdem genau den gewählten Straßen entlang den Weg bereiten. Und zahlreiche dieser markierten Gullydeckel waren einfach verschwunden, gestohlen worden. Da sind die beiden offenbar beobachtet worden, und dieser Jemand hat Gegenmaßnahmen ergriffen. Wieder Adlene? Eigentlich ist das nicht sein Stil, der bedient sich ja vor allem seiner Geister. Warden Declan? Der ist ja eigentlich in den Sümpfen verschollen... Stefania Steinbach vielleicht? Wir haben erst einmal keine Möglichkeit, dem auf den Grund zu gehen, aber wir dürfen das nicht aus den Augen verlieren. Und Dee und Linares müssen die Wards alle neu anbringen.

Und auch Ilyana Elder und Ximenas Partner Bjarki hatten in den Sümpfen tatsächlich eine unangenehme Begegnung: Sie hatten nach längerer Suche gerade ein Exemplar der Florida Rainbow Snake ausfindig gemacht und wollten ihren Fund soeben einsammeln, als einige seltsame Gestalten auftauchten und die Schlange einfroren. Das Tier starb, und Bjarki, der sich gerade in Schlangengestalt befand, wäre beinahe ebenfalls erfroren, wie Ilyana erzählte. Auf unser Nachhaken führte Ilyana noch aus, dass die 'komischen Gestalten' kleine Kerle mit Eismagie gewesen seien. Frostgnome? Ja, so könnte man sie wohl nennen.

Mierda. Ich wusste doch, dass die uns noch Ärger machen würden. Der Vorteil daran, dass wir die kleinen Mistkerle kennen, ist, dass wir wissen, wo wir sie finden, und dass wir relativ problemlos mit ihnen reden können, weil wir eigentlich bisher kein Problem mit ihnen haben. Also die anderen, genauer gesagt. Ich habe zwar in der Theorie eigentlich auch kein Problem mit ihnen, aber ich bin eben doch sehr vom Sommer geprägt, und auch wenn ich, anders als beim letzten Mal, meine Gefühle ihnen gegenüber inzwischen analysiert habe und daher einigermaßen weiß, was von meinem Sommermantel kommt und was von mir selbst, war es dennoch besser, wenn ich nicht mitging. Edward lehnte ebenfalls ab, der mag die Frostgnome genausowenig.

Nachdem die anderen aufgebrochen waren, googelten Edward und ich noch ein bisschen nach weiteren Möglichkeiten für die Geruchskomponente – oder besser ich googelte, weil das mit Edward und Technik ja inzwischen so eine Sache ist. Die Suche förderte nicht nur eine Marke von Lufterfrischern und Duftkerzen zutage (vielleicht eine Alternative, falls wir keine passende Gesellschaft für die alten Damen finden?), sondern auch einen Human Interest-Bericht von vor wenigen Tagen über ein junges Mädchen, das regelmäßig an Schönheitswettbewerben für Kinder teilnimmt und auch selbst ein Kinderparfüm namens „Miami“ kreiert hat. Der Bericht war aus Anlass eines Schönheitswettbewerbs veröffentlicht worden, der gerade heute stattfand, also fuhren wir kurzerhand hin.

Karten waren schnell gekauft, und ins Gespräch mit dem jungen Mädchen – Maureen heißt sie – kamen wir auch... oder besser mit deren Mutter, denn es wäre mehr als seltsam gewesen, wenn zwei erwachsene Männer eine Neunjährige angesprochen hätten. Der Anfang war ein bisschen holprig, denn zunächst hielt die Mutter uns für den Stylisten und den Garderobier. Dann, nachdem ich mich vorgestellt und sie mich als 'ah, der Schriftsteller' identifiziert hatte, schlug sie ihrer Tochter vor, ich könne doch Werbeträger für das Parfüm werden. Die Kleine, die überhaupt sehr erwachsen und fähig wirkte, rollte mit den Augen und schickte ihre Mutter ein Stückchen weg, weil sie selbst mit uns verhandeln wollte.
Ich erklärte also, warum wir gekommen waren – als Grund dafür, dass ich eine Flasche von ihrem Parfüm haben wollte, erzählte ich, dass meine eigene Tochter ungefähr im selben Alter sei wie sie und dass ich das Parfüm als Geburtstagsgeschenk für sie wolle. Wenig verwunderlich war das Mädchen etwas misstrauisch, also zog ich mein Portemonnaie heraus und zeigte ihr das Foto von Alejandra, das ich darin trage.
Das stimmte die Kleine etwas milder. „Okay, wenn Sie ein Betrüger sind, dann sind Sie wenigstens ein gut vorbereiteter Betrüger.“
„Wenn ich ein Betrüger wäre, würde ich mich hoffentlich gut vorbereiten“, erwiderte ich, „aber ich verspreche, ich bin keiner.“
Als das aus dem Weg war, fingen wir an zu verhandeln. Neben dem Versprechen, ihr das Parfüm nicht zu stehlen und zu vermarkten, wollte Maureen gerne eine geführte Tour bei einem renommierten Pharma- oder Chemieunternehmen, weil sie eben großes Interesse an und auch ein sehr früh ausgebildetes Talent für Chemie hat. Ich sagte, ich sehe zu, was ich machen kann, und wenn es mir gelingt, eine solche Führung zu arrangieren, dann will sie eine Flasche von dem Parfüm zu dem Treffen mitbringen.

Als wir zurückkamen, waren auch die anderen wieder da. Sie hatten die Frostgnome in der bekannten Lagerhalle angetroffen und nach einigem Verhandeln und Bezahlen mit Eiscreme herausgefunden, dass Fürstin Tanit ihnen den Auftrag gegeben hatte, die Suche zu sabotieren. Eine kurze Anfrage bei Ilyana und Bjarki ergab allerdings, dass die beiden ihres Wissens nach eigentlich kein Problem mit Winter im Allgemeinen oder Tanit im Speziellen haben. Die Jungs beschlossen also, direkt nachzufragen, und zwar bei Hurricane, weil an Lady Tanit selbst ja nur so schlecht heranzukommen ist.
Hurricane war extrem reserviert. Er bestätigte, dass die Gnome auf Tanits Befehl gehandelt hätten, wollte aber über ein „Wir vertreten unsere Interessen. Es gibt Sommer, es gibt Winter“ nicht sagen, warum, und auch Robertos Nachfragen ergab lediglich ein pikiertes „Tu nicht so, als ob du das nicht weißt“, bevor Hurricane davonstolzierte.

Erst bei unserer Nachbesprechung wurde uns mit einem Mal klar, warum Hurricane so gekränkt reagiert hatte: Bei unserer Ritualgruppe ist kein einziger Vertreter des Winters, oder auch nur jemand mit Affinität zum Winter, dabei!
Oh. Das haben wir schlicht nicht bedacht. Mierda.
Ich selbst bin zwar nicht in meiner Funktion als Sommerritter in der Gruppe, sondern als Privatperson und normaler Mensch, und ganz im Gegenteil sollen während des Rituals ja sämtliche Feen-Einflüsse so gut wie möglich unterdrückt und aus dem Ritual herausgehalten werden, aber ich gehöre halt nun einmal trotzdem zu Sommer. Für Lady Tanit und Hurricane muss das so aussehen, als grenzten wir Winter aus, während wir Sommer mit einbeziehen.
Wir überlegten lange herum, ob es jemanden gibt, den wir von Winterseite noch ins Boot holen könnten, aber es fiel uns schlicht niemand ein. Hurricane selbst ist ein Fae, und wir wollen nur Menschen dabei haben, eben wegen der Unterdrückung der feeischen Einflüsse. Mein Gegenpart für Winter, Yahaira Montero, ist vor allem im Nevernever unterwegs und kaum in Miami zu finden. Kirsten Lassiter vom Magierrat ist auf Eismagie spezialisiert und versteht sich gut mit den Winter-Sidhe, aber ihre Aussage, sie würde jetzt in Miami wohnen, bezog sich nicht auf heute, sondern die hatte sie, von dem Foto in der Ausstellung beeinflusst, als ihr 15-jähriges Ich gemacht. Catalina Snow, die Richterin des Winters, lebt auch nicht hier.
Tanit die Sache zu erklären und um ihr Verständnis zu bitten, geht aber auch nicht, denn dann würde es Pan erfahren, und den wollen wir möglichst vor vollendete Tatsachen stellen. Es más fácil pedir perdón que permiso, oder so. Also beschlossen wir schweren Herzens, dass es niemanden gibt, den wir von Winterseite hinzuziehen können, es sei denn, wir schaffen es doch noch irgendwie, Yahaira rechtzeitig zu erreichen. Versuchen wollen wir es jedenfalls. Wenn sie schon nicht mitmachen will, kann sie uns vielleicht wenigstens einen Ratschlag geben.

Im Gegenzug erzählte ich von meiner jungen chemiebegabten Bekannten und deren Parfüm und musste – natürlich – erst einmal ein paar blöde Sprüche von wegen Praktikum in einer Meth-Küche oder Führung durch Edwards magisches Alchimie-Labor ertragen. Aber auch den durchaus ernstgemeinten Vorschlag, die Kleine könne doch die Gesellschafterin der drei „Lost Dreams“-Schwestern werden („die machen auch Chemie und auch Düfte!“), wehrte ich ab. Die Kleine ist neun Jahre alt, por decirlo en voz alta, die hat Besseres zu tun, als in regelmäßigen, aufgezwungenen Abständen mit drei alten Damen herumzuhängen. Nein, für ihren Schnuppertag wird mir schon etwas einfallen.

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22. Januar

Mir ist etwas eingefallen. Meine frühere Kommilitonin Letitia arbeitet doch bei einem hier angesiedelten Pharmakonzern. Ich habe sie angerufen und ihr die Sache geschildert, und sie stimmte mir zu, dass eine solche Aktion gute Öffentlichkeitsarbeit für den Konzern wäre. Sie will versuchen, etwas zu arrangieren.

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Nachmittags. Letitia hat eben angerufen. Die Sache läuft. Freitag nachmittag nach Maureens Schulschluss.

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26. Januar

Heute war der Termin. Medienwirksames Treffen samt Pressepräsenz, bei dem die volle Human Interest- und Wunderkind-Story hautnah eingefangen wurde – natürlich lag der überwiegende Großteil des Fokus auf Maureen, aber Sheila hat es sich nicht nehmen lassen, nebenbei auch die 'arrangiert wurde dieses Treffen von Bestseller-Autor Ricardo Alcazár, dessen neues Buch kurz vor der Fertigstellung steht'-Karte zu spielen. Seufz. Aber das gehört halt dazu, und sie wäre keine gute Agentin, wenn sie an sowas nicht denken würde. Zum Glück beschränkte der Trubel sich größtenteils auf den Anfang und das Ende, während bei der eigentlichen Tour die Presse zwar dabei war und filmte, Maureen aber größtenteils in Ruhe ließ. Natürlich wurde sie interviewt, aber durch die Schönheitswettbewerbe hat sie ja schon Erfahrung und schlug sich tapfer. An mich hatten die Reporter auch ein, zwei Fragen, aber das war Routine.
Maureen hat auch tatsächlich angeboten bekommen, dass sie in ein paar Jahren ihr Praktikum bei dem Konzern machen und mindestens am 'Girls' Day', wenn nicht öfter, auch gerne immer schnuppern kommen darf. Der Kontakt ist also hergestellt, was mich freut – und nicht nur deswegen, weil Maureen mir am Ende des Besuchs wie versprochen eine Flasche ihres „Miami“-Parfums überreichte.

Timberwere:
28. Januar

Habe ich eigentlich schon festgehalten, wie Totilas für das Ritual die Gegenstände beschaffen will, die Miamis Seele verkörpern? Er hat einen stadtweiten Aufruf gestartet, Römer und Patrioten, und zwar natürlich mit jeder Menge pro-Raith PR. Seit er Geralds Platz eingenommen hat, kann Totilas ja nichts mehr ohne pro-Raith-PR tun, kommt es mir manchmal vor.
Die Leute springen reihenweise darauf an - Totilas bekommt schon seit Tagen, ach was, Wochen, zahlreiche und begeisterte Reaktionen auf seine Kampagne, und Dutzende, wenn nicht Hunderte, spenden diejenigen Dinge, die für sie Miami verkörpern. Da ist es eher eine Frage des Aussortierens, welche von den Gegenständen für unser Vorhaben geeignet sind und welche nicht.

Und ein ganz anderes Thema: Edward wird verfolgt. Er hatte schon seit einer Weile den Verdacht, aber inzwischen ist er sich sicher. Er hatte erst an Internal Affairs gedacht, aber es ist immer dieselbe Frau, die er in seiner Umgebung sieht, und das spricht dagegen. Denn wenn es eine offizielle Operation von Internal Affairs bzw. eine professionelle Beschattungsaktion wäre, dann würden die Beamten sich abwechseln. Entweder sie wollen gesehen werden, oder die Frau beobachtet Edward alleine.

29. Januar

Edward hat bei der Arbeit ein bisschen recherchiert und herausgefunden, wer die Frau ist: tatsächlich eine junge Kollegin aus Internal Affairs namens Sarah Princeton, erzählte er. Nachdem er sie heute also wieder bemerkte, wartete er einen passenden Moment ab und sprach sie kurzerhand an.
Ms. Princeton war erst misstrauisch, dann aber doch bereit, mit ihm zu sprechen. Es stellte sich heraus, dass sie Edward auf eigene Faust beschattete, nicht im Auftrag von Internal Affairs, weil sie sich selbst ein Bild von ihm machen wollte. Sie sagte ihm, dass bei Internal Affairs aktiv gegen ihn ermittelt werde – nicht, dass Edward das nicht schon gewusst oder zumindest vermutet hätte – und dass etliche Leute nur einen Vorwand suchten, um das Miami SID komplett schließen zu können. Aber Sergeant Book habe vor Jahren einmal ihrem Vater das Leben gerettet, und irgendetwas sei bei der Sache seltsam gewesen, also könne das SID eigentlich nicht völlig schlecht und unnütz sein. Aber für sie stelle sich die Frage, ob Edward korrupt sei – immerhin sei der Verbrecherboss Totilas Raith ein ständiger Kontakt.
Edward antwortete offen, dass er sich selbst nicht mehr ganz sicher sei, inwieweit er noch zu den Guten gehöre – manchmal müsse er, um die Stadt zu beschützen, Dinge tun, die eindeutig nicht in die Kategorie „gut“ fallen. Ms. Princeton hörte sich das aufmerksam an und erwiderte dann, aber immerhin habe er ihr nicht gedroht, wie er das ohne Weiteres hätte tun können, und dann trennten die beiden sich gütlich. Eigentlich ist das für Edward gar nicht so schlecht gelaufen, wenn ich mir das so überlege.

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1. Februar

Dallas Hinkle hat eben angerufen. Bei Alex ist irgendwas los. Später mehr.

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Abends. Tio. Leute gibt’s. Alex will ja einen Schlüssel für die Stadt anfertigen und sammelt zu diesem Zweck Unterschriften von Miamis Bürgern auf einer großen Metallplatte, die er dann zu dem besagten Schlüssel umarbeiten will, wenn ich das richtig verstanden habe. Dazu hat er sich an unterschiedlichen Tagen an unterschiedlichen Orten aufgestellt und eben Bürger unterschreiben lassen.

Als wir – Roberto, Edward und ich; Totilas war wieder mal mit Sortieren beschäftigt - ankamen, war Alex gerade in eine hitzige Diskussion mit einem Mann mittleren Alters verwickelt. Ich beteilige mich ja nur ungern an der Perpetuierung von billigen Klischees, aber der Mann war tatsächlich ein fleischgewordenes Beispiel für den herablassenden, männlich-chauvinistischen MAGA-Typus der klischeeträchtigsten Sorte. Späte Fünfziger oder frühe Sechziger, weiß mit rötlicher Gesichtshaut, kräftige Gestalt mit 'hallo hier komme ich'-Gebaren und entsprechend dröhnender Stimme. Ein echter Jefe de la Manada, wie Máma sagen würde, und das meint sie nicht im Guten.

Dieser unangenehme Typ jedenfalls hatte sich gerade ohne Aufforderung oder Erlaubnis auf Alex' Metallplatte verewigt, und zwar mit einem Schweißbrenner, wohlgemerkt, damit die Unterschrift auch ja permanent wäre. Weder Dallas noch Alex hatten ihn daran hindern können, und jetzt stand er da noch herum und war offenbar immer noch auf Ärger aus.

Statt uns – zumindest nach außen hin – aufzuregen, zuckten wir mit den Schultern und sagten, na gut, wenn er gerne ein Bürger Miamis sein wolle, bittesehr. Das sei er nicht, fuhr der Mann auf, er sei ein stolzer Bürger Chicagos! Warum er dann unterschrieben habe? Ein John T. Galway (es wunderte mich fast, dass da kein Zusatz mehr kam; ich hätte so fest mit einem 'der Dritte' gerechnet, aber okay, das war vermutlich der Schriftsteller in mir) könne doch wohl unterschreiben, worauf er wolle, das sei sein gutes Recht! Immerhin sei er Millionär und Geschäftsmann!
Okay, konterten wir, dann habe er sich jetzt wohl gerade zum Bürger Miamis erklärt. Auf ein gutes Leben hier. Waaaaas? Nein! Und damit zog der Typ empört ab.

Es war ja vergleichsweise harmlos, weil Alex gesagt hat, er kann die Unterschrift vermutlich wieder von der Platte entfernen, aber nervig war es doch. Und ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob das Zufall war, oder ob den Kerl jemand aufgestachelt hat. Ich meine, Schweißbrenner? Ernsthaft jetzt? Wer geht mit einem Schweißbrenner in der Stadt spazieren in der Hoffnung, dass er seine Unterschrift irgendwo verewigen kann? Nein. Honi soit qui mal y pense.

Aber diese Sache war nicht mal alles, was heute passiert ist. Es ging gerade so verrückt weiter.

Nachdem dieser Galway verschwunden war, fuhren wir zum Marbella, wo wir uns wie geplant mit Totilas treffen wollten. Schon mit etwas Abstand konnten wir sehen, dass da irgendeine Aufregung herrschte, und als wir näherkamen, erkannten wir auch, was da los war: Ein großer Alligator – ein Weibchen, wenn ich nach der schmalen Schnauze und der vergleichsweise kurzen Länge von unter drei Metern gehen durfte – bewegte sich zielstrebig und erschreckend schnell auf den Eingang des Hotels zu. Dort kam gerade Totilas heraus, gefolgt von einem aufgeregt gestikulierenden und auf Totilas einredenden jungen Mann der Marke Hinterwäldler aus den Everglades, und jetzt wurde auch sehr schnell klar, was es mit dem Alligator Run auf sich hatte, denn unser White Court-Kumpel hatte ein Alligatorbaby im Arm, das ihm ganz augenscheinlich der junge Glades-Billy für seine Sammlung hatte bringen wollen.
Die wütende Alligatormutter musste schleunigst hier weg, bevor sie irgendwelche Umstehenden anfiel – und dank Totilas' übermenschlicher Geschwindigkeit und Alex' Auto gelang das glücklicherweise auch ohne größere Zwischenfälle. Oder zumindest wurde niemand verletzt – offene Münder, aus dem Weg springende Passanten, entsetzt-erstaunte Ausrufe und t klickende Handykameras gab es zuhauf. Es muss aber auch ein Bild für die Götter gewesen sein, wie ein ausgewachsenes Alligatorweibchen da einem Van mit offener Tür hinterher stürmte, aus dem ein Jungtier gehalten wurde, so dass seine Mutter es sehen konnte.

Auch dieser Vorfall ging also soweit glimpflich ab, auch wenn ich mich wirklich frage, was den jungen Mann geritten hat, ein lebendiges Alligatorbaby spenden zu wollen. Okay, vielleicht verkörpert es Miami, aber trotzdem. Ein bisschen gesunden Menschenverstand müsste der Junge doch eigentlich gehabt haben...

Wie dem auch sei. Es wurde niemand verletzt, auf den Fotos ist hoffentlich niemand von uns konkret zu sehen, also alles grün. Aber, Tio, was für ein Tag.

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2. Februar

Und gleich noch so ein Tag für ein von Herzen kommendes „¿Que Demonios?“ Das heute hat die Seltsamkeitsskala gerade nochmal ein Stück nach oben erweitert. Andererseits... es war eine Fotoausstellung. Ich hätte es wissen können. Na immerhin stehe ich diesmal nicht mit einem geerbten Zelt da. Aber der Reihe nach.

Ich habe ja im November schon erwähnt, dass Roberto für das Ritual ein Miniaturmodell von Miami bauen will, in das er vielleicht auch die Leylinien der Stadt einzeichnen will. Um sich für diese Aufgabe inspirieren zu lassen bzw. darauf einzustimmen und Anregungen zu sammeln, hatte er schon vor einer Weile vorgeschlagen, dass wir die Fotoausstellung über Miami und seine Architektur ansehen sollten, die heute im Frost Art Museum eröffnet wurde.
Karten für die Eröffnung zu bekommen, war glücklicherweise kein großes Problem, auch wenn ich offen gestanden beim Gedanken an noch eine Fotoausstellung ein gewisses Unbehagen verspürte: So lange ist der Irma Relief Carnival noch nicht her. Wie bei uns so oft üblich, machten wir uns mit blöden Sprüchen Luft, und natürlich gingen wir hin. Anfangs war auch alles ganz normal – keinerlei Hinweise auf irgendwelche Beeinflussung durch Betrachten irgendwelcher Bilder, herzlichen Dank. Aber an einem Foto stimmte trotzdem etwas nicht. Es zeigte erkennbar den Strand von Miami, aber auf dem Bild waren Deiche zu sehen, außerdem Gebäude von ungewöhnlicher Bauweise. Ganz unbekannt waren sie mir aber nicht, auch wenn ich die palmgedeckten länglichen Häuser mit den offenen Seiten eigentlich in den Everglades-Kontext verortet hätte und nicht an den Strand von Miami: das waren Chickee-Hütten der Seminolen.

Wenn ja jemand Photoshop eingesetzt hatte, hatte er es sehr geschickt eingesetzt – aber die anderen Bilder der Ausstellung waren alle realistische Darstellungen Miamis, und das hier war das einzige mit erfundenem Motiv, auch wenn auf Anhieb keine Hinweise auf ein Bildbearbeitungsprogramm darauf zu sehen waren. Auf dem Schild unter der Fotografie war ein Name angegeben, also kauften wir uns einen Katalog der Ausstellung und schlugen dort die Informationen über die Künstlerin nach. Marijke Achthoven, hieß es da, sei in Miami geboren und ansässig und seit 20 Jahren als Fotografin mit Spezialisierung auf lokale Motive tätig. Ihr Ausstellungsfoto war im Katalog auch gezeigt – es war nur nicht das, was wirklich in der Ausstellung hing. Auch im Katalog zeigte das Bild den Strand von Miami, aber hier war nichts von Deichen und Chickee-Hütten zu sehen, sondern die ganz normale Skyline der Stadt, wie man sie erwarten würde.

Auf Nachfrage erfuhren wir, dass Ms. Achthoven bei der Vernissage anwesend sei, also ging Roberto sie suchen. Eine Weile später kam er mit der Künstlerin im Schlepptau zu uns zurück, und schon auf den ersten Blick war ersichtlich, dass sie verwundert und verwirrt wirkte. Sie fragte sich, warum alles so anders sei, warum hier auf einmal alle Englisch sprächen, und ob das Absicht sei und sie von irgendwoher mit einer versteckten Kamera gefilmt werde.

Okay, ich bin Schriftsteller. Eine blühende Fantasie gehört zum Berufsbild. Aber die Jungs dachten gleich genau dasselbe wie ich: Die Fotografin musste aus einem Parallel-Universum stammen.
Einige vorsichtige Fragen und Disclaimer im Stil von 'ja, ich weiß, es klingt verrückt, aber bitte schließen Sie den Gedanken nicht gleich komplett aus“ später hatten wir Folgendes herausgefunden: In Ms. Achthovens Version der Erde hatten die Holländer Miami kolonisiert, nicht die Spanier, und die Holländer hatten das Gebiet nie mit den Engländern getauscht. Holländisch und Seminolisch waren die Amtssprachen in Ms. Achthovens Florida, und es gab auch keine USA, sondern lediglich miteinander verbündete Einzelstaaten, vielleicht so wie die Europäische Union in unserer Welt – und keiner dieser amerikanischen Einzelstaaten war in irgendeiner Weise angelsächsisch geprägt.
Überhaupt gab es in ihrer Realität kein britisches Empire, nicht einmal in der Vergangenheit, sondern England war genau das: ein Teil der britischen Inseln, wo Schottland, Irland und Wales sich alle ihre Unabhängigkeit bewahrt hatten. Deswegen hatte sie in der Schule zwar Englisch gelernt, weil es einfach wie Französisch, Spanisch oder Deutsch eine Sprache war, die nützlich sein konnte, aber die alles überschattende Weltsprache war es nicht.

Es dauerte natürlich eine Weile, bis die Künstlerin bereit war, zumindest vorsichtig anzunehmen, dass das Ganze vielleicht doch kein ausgeklügelter Scherz war, aber spätestens, als als wir vor das Gebäude gingen, wo sie prompt wegen der schlechten Luft zu husten anfing (ich: „Lassen Sie mich raten. In Ihrer Welt gibt es seit 1915 keine Verbrennungsmotoren mehr?“ Ms. Achthoven: „Seit 1929, aber ja, genau!“), fing sie dann doch langsam an, uns zu glauben. Von uns fahren lassen wollte sie sich nicht, aber sie wollte gerne zum Strand und sich selbst ein Bild von der Stadt machen, wie sie hier aussah. Also kamen wir auf die Idee, Telefonnummern auszutauschen - was aber umgehend die Frage aufwarf, ob der anderen Realität überhaupt Handys existierten oder die mobile Kommunikation dort irgendwie anders (oder gar nicht?) funktionierte. Ergebnis: Ja, Handys existieren dort, grundsätzlich jedenfalls. Aber Ms. Achthovens war ein 'deVries', und von Samsung und Apple hatte sie noch nie gehört (von Nokia und Ericsson interessanterweise schon). Also gab Roberto ihr sein Handy, damit sie uns erreichen konnte, denn ihr deVries hatte, wen wundert's, keinen Empfang.

Irgendwann kam die Fotografin wieder zurück, jetzt restlos überzeugt von unserer Parallelwelt-Theorie, und jetzt konnten wir sie auch fragen, wie genau sie hierher gekommen war, bzw. ob sie sich an irgendetwas erinnern konnte, das der Auslöser für den Wechsel gewesen sein könnte. Sie hatte in dem Moment nicht ihr eigenes Bild betrachtet, erzählte sie, sondern eines mit Raumfahrt-Thema. Denn auch in ihrer Realität befindet sich in Florida eines der Tore zum Weltraum, wenn auch natürlich nicht unter dem Namen "Kennedy Space Center" oder auch nur "Cape Canaveral", sondern "<span class="tlid-translation translation" lang="nl"><span title="">Kaap van de Stromingen". Sie war allerdings verwundert, dass das Foto ein ihr völlig unbekanntes Motiv zeigte - laut Beschreibung hätte es eigentlich ein Bild von dem Raumfahrtzentrum sein sollen, aber stattdessen zeigte es ein Portrait von drei Männern in Raumanzügen mit einer ihr völlig unbekannten Flagge und einem Aufnäher mit den Buchstaben "NASA", was ihr gar nichts sagte. Als sie das Foto genauer betrachten wollte, verspürte sie auf einmal eine Art Drehen im Kopf, als würde ihr schwindelig, also schloss sie die Augen, um durchzuatmen, und als sie sie wieder öffnete, war sie bei uns gelandet. Das fiel ihr im ersten Moment gar nicht auf, aber dann hörte sie auf einmal nur noch Englisch um sich her, und auch die Kleidung der Museumsbesucher wirkte vom generellen Schnitt her irgendwie anders. Und als sie dann versuchte herauszufinden, was los war, wurde sie auch schon von Roberto angesprochen. </span></span>

Das eröffnete die interessante Frage, ob 'unsere' Marijke Achthoven jetzt gleichzeitig mit der anderen hier in unserer Welt existierte, oder ob es im Moment des Transfers einen Austausch gegeben hatte und sich 'unsere' Marijke Achthoven jetzt in einer Realität wiederfand, in der Niederländisch und Seminolisch die Landessprachen waren und es die Vereinigten Staaten nie gegeben hatte. Ein kurzer Anruf bei der hiesigen Ms. Achthoven und ein "Oh, Entschuldigung, falsch verbunden", als die Künstlerin sich mit Namen meldete, beantwortete die Frage zwar, aber so wirklich hilfreich war das leider trotzdem nicht. Es half uns zumindest nicht dabei, Marijke wieder zurück nach Hause zu bringen. Aber vielleicht, wenn wir uns dieses Weltraum-Bild auch einmal ansehen würden? Tatsächlich, wo laut Beschreibung eigentlich ein Foto von Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Michael Collins auf dem Cape Canaveral-Gelände hätte hängen sollen, war statt dessen eine Luftaufnahme des Gebäudekomplexes zu sehen.

Totilas fing an, das Bild genauer zu untersuchen - und als er seinen Blick länger auf eine Stelle des Bildes richtete, sah es für einen Moment so aus, als würde er einfrieren, und dann war tatsächlich auch er mit einem Mal verschwunden.  Entsprechend waren wir anderen extrem vorsichtig und achteten darauf, unsere Augen beim Begutachten des Bildes ständig in Bewegung zu halten.
Zu unserem Erschrecken sah es so aus, als würde 'unser' Motiv des Fotos langsam durch das fremde Bild hindurch erscheinen, wie zwei übereinander gelegte Ebenen bei einem Bildbearbeitungsprogramm oder wie ein altes Negativ, das zweimal belichtet wurde. Und die drei Astronauten wurden immer deutlicher und die Luftaufnahme immer schwächer, wir hatten also nicht mehr viel Zeit!
Eiligst schickten wir also auch Marijke hindurch und beauftragten sie, sie solle unbedingt Totilas finden und ausrichten, er müsse schnellstmöglich zurückkommen, wenn er nicht für immer drüben festhängen wollte.
Es folgten einige Minuten bangen Wartens, während derer wir versuchten, das 'doppelt belichtete' Bild so gut wie möglich von den anderen Besuchern abzuschirmen, dann tauchte Totilas zu unserer großen Erleichterung wieder auf.

Jetzt, wo ich das Ganze niedergeschrieben habe, kommt es mir irgendwie unwirklich vor. Eigentlich sollte es mich nicht wundern; ich war in den paar Jahren an den unterschiedlichsten Orten des Nevernever, ich war in einer Welt aus gestaltgewordenen Träumen, und ich war in der Nachwelt des nordischen Götterglaubens - aber trotzdem. Parallelwelten. Echt jetzt?

Vielleicht würde ich ja sogar anfangen, an meinen Sinnen zu zweifeln (wobei ich das nicht glaube, dazu war das Erlebnis zu überzeugend), aber es gibt einen Beweis, dass wir uns das alles nicht nur eingebildet haben: Robertos Handy ist weg, und dafür hat er immer noch Marijkes deVries.

Timberwere:
Ricardos Tagebuch: Changes 3

13. Februar

Totilas hat von seinem Vater gehört. Richards Pläne wegen Sancías Heilung haben Formen angenommen. Sie wollen ein Ritual durchführen, um Sancía ihre Seele wiederzugeben. Richard hat ein Treffen mit uns allen vorgeschlagen, weil sie unsere Hilfe bräuchten, wie sie sagten. Übermorgen im Dora's.

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15. Februar

Okay, das wird spannend. Einmal Xibalbá und zurück, Römer und Patrioten. Jedenfalls bete ich dafür, dass es keine Reise ohne Wiederkehr wird.

Aber der Reihe nach. Bei dem Treffen heute gab Richard uns erst noch einmal einen kleinen Grundkurs darin, wie das bei Rotvampiren mit der Seele funktioniert: In dem Moment, wo ein Red Court Infected einen Menschen tötet, übernimmt der Dämon, der seit seiner Infizierung in dem Gebissenen lauert, den Körper des Infizierten, und dessen Seele wird aus seinem Körper gezogen und gelangt nach Xibalbá. Auch Sancías Seele muss noch dort sein, und wir sollen sie herausholen, damit Richard sie in seinem Ritual wieder mit Sancías jetzigem Ich verschmelzen kann. Dann hätte sie den Blutdämon zwar immer noch in sich, aber er wäre von ihrer Seele temperiert und unter Kontrolle und sie wäre kein Monster mehr.

Der Rote König plane irgendwas, das wohl in knapp einer Woche steigen soll, sagte Richard, irgendein großes Ritual, das den Vampiren im Krieg gegen den Rat der Magier helfen soll. Sie wollen wohl offenbar deren Scharfrichter der Magier ausschalten, den Magier mit dem schwarzen Stab.
Uns fror allen das Gesicht ein, als Richard den Magier mit dem schwarzen Stab erwähnte. Ach. Sieh an. Der Arsch. Aber Arsch oder nicht, von den Rotvampiren umgebracht zu werden hat er nicht verdient. Jedenfalls aber, erklärte Richard weiter, solle dieses Ritual in Mexico stattfinden, und zwar in Chichén Itzá. Richard und Sancía können uns ein Tor ins Nevernever öffnen, und zwar wollen sie das ebenfalls in Mexiko machen, in Chichén Viejo, direkt unter der Nase des Roten Königs.

Das wird riskant, Römer und Patrioten. Aber um die Mutter unseres Kumpels zu retten, ist es das Risiko wert.

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18. Februar

Römer und Patrioten, wir haben die Musik für unser eigenes Ritual!
Und das kam so: Mamá hatte von diesem Konzert gestern abend gehört, das sie verlockend fand, aber Papá war mit seinen Freunden zu einem Spring Training-Spiel der Miami Marlins verabredet und wollte das nicht sausen lassen. Mamá war schon ganz enttäuscht und wollte ihr Konzert abschreiben, aber ich sagte ihr, ich begleite sie. Das war für sie etwas ganz Neues – eine abendliche Freizeitaktivität getrennt von ihrem Mann unternehmen! – aber ich konnte sie überreden, es doch mal in meiner Begleitung zu versuchen. Und weil ich erzählt hatte, dass ich nach Mexiko müsse – für eine Promotion-Aktion, versteht sich; jeglichen Hinweis auf Rituale und Vampire und dergleichen habe ich natürlich schön unterlassen – freute Mamá sich doppelt, vor meiner Reise noch etwas mit mir unternehmen zu können.

Langer Rede kurzer Sinn: Es spielte Band namens „Los Flamencos“, die Musik im Stil des Buena Vista Social Club machen. Das Konzert machte viel Spaß und die Flamencos waren richtig gut, also suchte ich hinterher kurzerhand den Kontakt und brachte mein Anliegen vor. Die jungen Leute waren sehr angetan von der Idee, beim Calle Ocho-Festival zu Feuerwerk aufzutreten, und versprachen, den Text meiner Ode an Miami mit einer Melodie zu versehen.

Ich war ganz erstaunt, dass das Gespräch mit den Flamencos völlig ungestört verlief – ich hatte schon befürchtet, dass Adlenes Geister uns wie bei unserem vorigen Versuch auf die Nerven fallen würden. Aber vielleicht hatten die mich in dem Moment gar nicht so sehr auf dem Schirm, weil ich nicht mit den Jungs, sondern mit meiner Mutter unterwegs war.

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20. Februar

Morgen vormittag soll es losgehen. Wir rechnen etwa 36 Stunden mit dem Boot bis Cancún, und von dort aus mit dem Auto weiter.
Den Rest der Genius Loci-Gruppe haben wir natürlich informiert, dass wir ein paar Tage weg sein werden. Die Reaktion: „Alles klar, aber macht nicht so lange.“ Ja, das versteht sich natürlich von selbst, dass wir uns eilen werden, so gut wir können. Aber noch haben wir ja Zeit.

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21. Februar

An Bord. Wenn wir alle nicht so angespannt wären, würde ich vielleicht in Versuchung kommen, das hier als kleine Urlaubstour zu genießen. Aber naja, wir haben ja noch ein bisschen Zeit. Und einfach auf's Meer zu schauen, ist schon irgendwie beruhigend.

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22. Februar

Wir sind in Cancún. Das Navigationsgerät sagt 2 1/2 Stunden bis Chichén Itzá. Ich glaube nicht, dass ich im Auto zum Schreiben kommen werde. Auf dem Rückweg vielleicht. Ansonsten, sobald wir wieder auf dem Meer sind. ¡Que Dios nos proteja en nuestro camino!

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23. Februar

Zurück auf dem Boot. Wir sind alle wohlauf, und wir haben Sancía und Canché. Also ihre Seelen, meine ich; ihre Körper hatten wir ja schon vorher.

In Cancún wurden wir von Richard, Sancía und zwei weiteren Rotvampiren in Empfang genommen: Sancías Vorfahrin Canché und einem hiesigen Vampir namens Pedro. Einige Red Court Infected waren auch dabei, allesamt Angehörige des Ordens von St. Giles – das ist dieser Orden der Infizierten, zu dem wir vor ein paar Jahren auch Ciélo und Ocean geschickt haben.
Mit einem Van und zwei Jeeps machten wir uns auf den Weg. Wegen des Tageslichts waren die Vampire im Van; wir anderen teilten uns auf die drei Fahrzeuge auf. Dabei stieg mindestens ein St. Giles-Infizierter in jeden Wagen, und sehr bald wurde auch deutlich, warum das so wichtig war: Man merkte ganz genau, dass die Gegend unter der Kontrolle des Roten Königs stand, und irgendwie war die Stimmung nicht nur in unserem Auto sehr angespannt, sondern auch denen Menschen draußen vor dem Fenster war die Nervosität ganz klar anzusehen.
Trotz der Anspannung, und obwohl wir mehr als einmal angehalten wurden, gelang es unseren Infected, uns mit der Erklärung, wir seien unterwegs zum großen Ritual des Roten Königs, durch die Kontrollen zu bringen.

Wir parkten auf dem großen Touristenparkplatz von Chichén Itzá, wo ein ganzer Bereich mit Schildern in mehreren Sprachen abgesperrt war, die vor „Bauarbeiten“ warnten. Ja klar. Y una leche. Da sollten natürlich die Touristen, die ja weiterhin den Ort besichtigten, von dem Red Court-Ritual ferngehalten werden. Dort ließen wir die beiden Jeeps stehen und fuhren nur mit dem Kastenwagen tiefer in den Wald hinein.

Die angespannte Stimmung, in der wir uns alle befanden, habe ich ja schon erwähnt. Das lag nicht zuletzt an den Patrouillen, die wir beobachten konnten, wie sie ihre Kreise um Chichén Itzá drehten und denen wir tunlichst aus dem Weg gingen. Sie lag daran, dass das Wetter seltsam war, irgendwie elektrisierend. Oder vielleicht war das auch nur Einbildung.
Aber der Trupp teilnahmsloser Gefangener, die gerade in Richtung Chichén Itzá getrieben wurden, war keine Einbildung. Die Menschen waren ebenso wie ihre Bewacher in Maya-Gewänder gekleidet, und es brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was sie am Ende ihres Marsches erwarten würde. Aber so sehr wir es hassten und so sehr wir an uns halten mussten, nicht aus den Autos zu springen und einzugreifen – wir hätten nichts tun können, und wir hatten eine andere Aufgabe, von der wir uns nicht abbringen lassen durften.

In Chichén Viejo stellten wir unseren Van an einer unauffälligen Stelle ab und warteten, bis es dunkel wurde. Dann trennte sich Canché von uns und machte sich auf den Weg zurück nach Chichén Itzá, zum Ritual des Roten Königs. Wir hingegen betraten mit Richard und Sancía den Ziggurat, während unsere verbündeten Red Court-Infected draußen und der Rotvampir Pedro drinenn bei den beiden älteren Raiths Wache hielten.
Bevor Totilas' Eltern uns das Tor ins Nevernever öffneten, machten sie uns noch klar, dass sie es bis Morgengrauen würden offenhalten könnten. Falls wir bis dahin nicht zurück wären, müssten sie es schließen und Sancía, die Vampirin, den Tag über schlafen. Wenn das passieren sollte, dann müssten wir eben den Tag über in Xibalbá durchhalten, bis sie das Tor wieder für uns öffnen würden.

Wie so oft, war der Schritt ins Nevernever hinein keine große Sache. Aber als wir einmal in Xibalbá waren, ließ sich diese Tatsache nicht übersehen. Da war der sternenlose, auch nicht schwarze, sondern irgendwie einförmig anthrazitgraue Himmel, da waren die Bäume, die so auf unserer Erde nicht existieren. Und da waren die Wege, die zu uns redeten und uns in die Irre führen wollten. Alex aber, der den Weg zum Glück kannte, ließ sich nicht beirren, und so kam irgendwann die Stadt Xibalbá in Sicht und dann auch immer näher.

Am Stadttor (ja, das war vom Aussehen her tatsächlich eine ganz normale Stadt mit Mauer) hielten zwei Männer Wache, die auf mich beinahe wie Abziehbilder wirkten – oder sagen wir vielleicht lieber wie zwei Comic Relief-Charaktere aus einem Animationsfilm. Sie wunderten sich etwas, dass wir als Lebende den Weg nach Xibalbá gefunden hatten, aber als wir ankamen, waren sie gerade dabei, die Vor- und Nachteile von Ballspielen und Autorennen zu diskutieren, und zu dieser Diskussion kehrten sie ziemlich schnell zurück und ließen sich davon noch eine Weile ablenken, bevor sie uns schließlich den Weg in die Stadt freigaben.

In der Stadt selbst war Ähnliches zu hören – kein Aufruhr, aber eben eine gewisse Aufregung und durchaus hitzige Diskussionen pro und kontra Ballspiele vs. Autorennen. Es war wie bei den Wachen am Tor: Manche standen auf dem Standpunkt, Autorennen seien neu und cool und interessant, andere hingegen vertraten die Ansicht, in Xibalbá müsse es Ballspiele geben, das gehöre so, während Autorennen, dieser neumodische Kram, sich nicht gehörten.
Architektonisch war Xibalbá übrigens sehr interessant. Da gab es viele Residenzen, die zwar aus einem einzigen Haus, aber aus zwei klar voneinander abgegrenzten Hälften bestanden – ein Zeichen dafür, dass Xibalbá von zahlreichen Zwillingsgottheiten beherrscht wird, darunter unser – ich will jetzt nicht sagen 'Freund', das trifft es überhaupt nicht, also lieber 'Bekannter' – Bekannter Ahalphu und sein Zwillingsbruder Ahalcana, zwei andere Maya-Götter namens Eintod und Siebentod und etliche andere.

Wir mussten uns etwas durch die Demonstranten drängen, die sich vor Ahalphus Residenzhälfte versammelt hatten, aber als wir erst einmal drin waren, freute die Pestgottheit durchaus, uns zu sehen. Natürlich fragten wir ihn nach der Menschenmenge draußen, und er erzählte, dass das Bewohner Xibalbás seien, die sich nicht mit den Autorennen abfinden, sondern zu den traditionellen Ballspielen zurückkehren wollten. Aber Ahalphu fand, die Diskussionen täten der Stadt gar nicht schlecht, dann sei wenigstens etwas los, und es werde nicht langweilig. Stimmt, Ahalphu war ja auch schon bei unserer ersten Begegnung ein großer Freund der Abwechslung.

Dann erzählten wir Ahalphu, weswegen wir nach Xibalbá gekommen waren: dass wir auf der Suche nach mehreren Seelen waren, die eigentlich nicht hier sein sollten, weil ihre Körper noch auf der Erde waren. Diese Information interessierte Ahalphu sehr – wenn dem so wäre, dann dürfte das eindeutig nicht so sein.
Er sagte uns, dass die Seelen der Verstorbenen, wenn sie nach Xibalbá kommen, zunächst in eines von sechs Häusern kämen und sich selbst daraus befreien müssten als Prüfung, ob sie Xibalbás würdig seien.
Wenn sie nicht schon ihren Weg hinaus gefunden hätten, dann wären die Seelen derer, die wir suchten, also vermutlich in einem dieser Häuser. Alex erklärte sich noch bereit, Ahalphu später noch seine Rennbahn aufzurüsten und zu verbessern, aber erst einmal mussten wir die Seelen suchen gehen.

Seine Verbindung zu Sancía führte Totilas tatsächlich zu einem der sechs... wie nenne ich sie? Seelenhäuser?... Seelengefängnisse, die Ahalphu erwähnt hatte.
Drinnen war es kalt. Eiskalt. Übernatürlich kalt. Niemand war zu sehen, aber es war etwas wie die Gegenwart von … etwas zu spüren, auch für uns, die wir hier niemanden suchen wollten.
Tatsächlich fand Totilas sowohl seine Mutter als auch deren Vorfahrin, dazu auch Pedro, der ebenfalls aus der Linie der Canché stammte. Vorher war jeder von ihnen alleine in seiner eigenen Phase gewesen, aber jetzt, wo sie alle beisammen und bei ihrem Nachfahren waren, konnten sie auch einander sehen und miteinander interagieren. Alle drei Seelen waren auf dem Stand ihrer Vampirwerdung, was bedeutete, dass die Sancía hier gar nicht wusste, dass Totilas inzwischen selbst zum Vampir geworden war – und genausowenig wusste sie, dass sie, bzw. der Dämon in ihrem Körper, ihrem Sohn einmal das Herz herausgerissen hat. Entsprechend schockiert war sie, aber vielleicht, weil sie sich das nicht so recht mit sich selbst in Verbindung bringen konnte, oder vielleicht auch, weil es gerade Dringenderes gab, nahm sie die Nachricht für den Moment vergleichsweise gelassen auf, und wir sahen zu, dass wir hier verschwanden.

Draußen vor dem Haus hatten die Demonstrationen und der Menschenauflauf zugenommen. Direkt als wir herauskamen, wurden wir von einer Gruppe militärisch aussehender Personen aufgehalten, die sich als Soldaten der beiden Blutgötter Chirikimat und Kuchumatkik – 'vergrindete Wunde' und 'Bluterguss', wer es unbedingt wissen will – zu erkennen gaben. Die Soldaten herrschten uns an, weil wir die Herausforderung nicht alleine angegangen wären, hätten wir die Prüfung nicht bestanden, und wollten uns zurück in das Haus drängen.
Wir erwiderten, wir seien ja nicht tot und unterlägen somit nicht den Auflagen Xibalbás, und wir könnten das Ganze ja vor die obersten Götter bringen, wenn die Krieger sich nicht sicher seien, was sie tun sollten.
Die Auseinandersetzung erregte einiges an Aufsehen unter den Umstehenden, die immer näher kamen und die Szene mehr als interessiert beobachtete, und so wagten die Soldaten es nicht, so recht, die Sache weiter zu verfolgen, und ließen uns ziehen.

Aber auch dann kamen wir nicht gänzlich ungehindert zurück zu unserem Ziel, denn auf halbem Weg stellte sich uns eine junge Frau, kaum mehr als ein Mädchen, in den Weg. Sie stellte sich als Maiskorn vor, Tochter des Zwillingsgottes Siebentod, und sie war extrem neugierig. Sie stellte uns eine Menge Fragen: Wer wir seien, was wir hier machten, warum wir gekommen seien. Sie grillte uns regelrecht, auch wenn sie dabei höflich und freundlich blieb. Sie sagte, sie habe das Gefühl, etwas stimme hier nicht, und sie wolle dem auf den Grund gehen.
Wir gaben ihr offen Auskunft, dann kehrten wir endlich zurück zu Ahalphus Residenz. Dort stellten wir dem Seuchengott die drei Seelen vor, die wir aus dem Haus der Prüfungen gerettet hatten, und Ahalphu stellte auf einen Blick fest, dass sie tatsächlich nicht hierher gehörten. Er fragte sich, wie das kommen könne, und wir erzählten ihm von den Rotvampiren und dem Roten König, der nach allem, was wir wussten, schon Jahrhunderte alt war und aus Mesoamerika stammte.
Aus unserer Beschreibung und nach einigen Nachfragen seitens stellte sich heraus, dass der Rote König offenbar Camasotz war, einer der niederen Götter Xibalbás. Der habe auf der Erde nichts zu suchen, erklärte Ahalphu ungehalten; er werde das untersuchen und sich der Sache annehmen.

Was jetzt allerdings unseren Rückweg beträfe, so könne der schwierig werden, weil uns vielleicht die Anti-Autorennen-Protestierer angreifen könnten. Am besten wäre es, so Ahalphu, wenn wir unter so viel Aufsehen wie möglich und in Begleitung einer großen Eskorte die Stadt verlassen würden.
Genauso machten wir es auch: Eine Gruppe von Rennfahrern führte uns bis vor das Tor, wo es sicher war, dann kehrten sie um, und wir setzten unseren Weg alleine fort.
Der Rückweg war auch nicht mehr so verwirrend wie die Gegenrichtung, einfach weil wir die Gegend jetzt schon kannten – aber vor allem, weil die Wege nicht mehr versuchten, uns in die Irre zu leiten. Sie waren nur etwas verwirrt, weil wir uns von der Stadt entfernten und nicht dorthin reisen wollten, aber sobald Alex ihnen klar machte, dass das Absicht war, gaben sie Ruhe.

Das Tor zurück in unsere Welt war noch da – offenbar waren wir entweder nicht so lange fort gewesen, oder es war schon die nächste Nacht. Aber das fühlte sich irgendwie nicht so an.
Auf der anderen Seite war alles ruhig und wie erwartet. Während Canchés Seele losflog, um ihren Körper zu suchen (was natürlich nur Alex sehen, wir anderen uns aber denken konnten), ließ die Wiedervereinigung mit ihren Seelen Sancía und Pedro unter dem emotionalen Ansturm taumeln und ziemlich die Orientierung verlieren, so dass Richard seine Frau stützen musste und Roberto Pedro half.
Eigentlich hatten wir vorgehabt, in der Nähe des Autos in Deckung auf Canché zu warten, deren Vampir-Ich ja das Ritual des Roten Königs hatte ausspionieren gehen wollen und die versprochen hatte, so bald wie möglich zu uns zurückzukommen. Aber vermutlich würde Canché durch die Wiederbeseelung ähnlich desorientiert werden wie die anderen beiden Vampire, also würde sie höchstwahrscheinlich Hilfe benötigen.
Wir hatten gerade beschlossen, nach Chichén Itzá zu schleichen und zu sehen, ob und was wir für sie tun konnten, da ging etwas durch den Wald. Ein metaphysischer Ruck, eine magische Druckwelle, besser kann ich es nicht beschreiben, und Sancía und Pedro kippten davon um wie gefällte Bäume. Aber – und das war seltsam für Rotvampire – sie waren am Leben, und damit meine ich wirklich Leben: Beide hatten einen langsamen und schwachen, aber gleichmäßigen Puls.

Jetzt mussten wir erst recht nach Chichén Itzá. Wir, damit meine ich uns fünf: Richard Raith wollte natürlich seine Frau nicht alleinlassen, und unsere Red Court Infected, die ebenfalls von der übernatürlichen Erschütterung erfasst worden waren und sich erst langsam wieder zu erholen begannen, blieben auch lieber am Auto zurück.

Uns bot sich ein seltsames Bild. Als wir uns der Kultstätte näherten, sahen wir zahlreiche Personen, die völlig verwirrt wirkten und sich kein Stück um uns kümmerten – vermutlich ebensolche Infizierte wie unsere eigenen Verbündeten –, aber keinen  echten Rotvampir. Wir fanden Canché auf den Stufen der Pyramide, genauso reglos wie Sancía und Pedro, aber genauso am Leben.
Mit vereinten Kräften schafften wir Canché zurück zum Auto, und dann sahen wir zu, dass wir von dort verschwanden.

Die Fahrt verging erstaunlich ereignislos und ohne Probleme – es gab keinerlei Patrouillen mehr, keinerlei Straßensperren, aber dafür sahen wir erstaunlich viele Menschen, die entweder verwirrt umherstreiften oder beinahe verwundert aus ihren Häusern schauten, als hätten auch sie gemerkt, dass etwas anders war.
Und es war tatsächlich etwas anders: Als sie sich soweit wieder erholt hatten, wurde sehr schnell klar, dass unsere Verbündeten nicht mehr infiziert waren. Sie konnten es spüren, sagten sie - sie hatten keinerlei Verlangen mehr nach menschlichem Blut, und sie hatten auch keine der übernatürlichen Fähigkeiten mehr, die sie als Infizierte schneller und stärker gemacht hatten. Was auch immer da geschehen war, es hatte den Vampir-Anteil in ihnen ausgelöscht.
Wir kamen ungehindert zurück nach Cancún, wo wir uns von den St. Giles-Leuten trennten, die hier etwas Ordnung in das entstehende Chaos bringen wollten. Sie behielten auch Pedro bei sich, der ja ebenfalls hier lebte, der aber wie Sancía und Canché noch immer ohne Bewusstsein war. Wir kamen auch ungehindert zurück auf unser Boot, ungehindert aus dem Hafen... und da sind wir jetzt, unterwegs zurück nach Hause. Richard weicht nicht von Sancias Seite, und auch Totilas ist häufig bei seiner Mutter in der Kabine. Hoffentlich wachen Canché und sie bald auf!

Timberwere:
Ricardos Tagebuch: Changes 4

26. Februar

Zurück in Miami. Zeit zum Nachdenken.

Sancía und Canché kamen noch auf dem Boot wieder zu sich, und beide haben, wie sage ich das, ihre Menschlichkeit zurück, sind keine Vampire mehr. Das muss daran liegen, dass ihre Seelen schon wieder in ihrem Körper waren, als das was-auch-immer-es-war dem Rest des Red Court passierte. Denn alle anderen Rotvampire sind verschwunden. Robertos Bekannte Lucia. Orféa Baez, die Anführerin des Red Court. Felipe Gomez, dieser Barbesitzer, dem wir zuletzt im September bei dem Wohltätigkeitsjahrmarkt wegen Hurricane Irma begegnet waren. Überhaupt ist das Whispers komplett verlassen, und es sieht wirklich so aus, als gebe es zumindest in Miami, wenn nicht auf der ganzen Welt, keinen einzigen roten Vampir mehr. Huh. Ob das Ahalphu zu verdanken ist? Hat er vielleicht eingegriffen und Camasotz zurück nach Xibalba geholt, und alle Rotvampire gleich mit?

Sobald uns das klar wurde, haben wir natürlich den Rest unserer Ritualgruppe darüber informiert, dass sich offenbar gerade ein ziemliches Machtvakuum aufgetan hat. Das ist etwas, in das niemand unvorbereitet reinlaufen sollte, auch wenn wir nicht alle von denen unsere Freunde nennen. Pan berichtete ich natürlich ebenfalls darüber, wobei dem das relativ egal war, solange noch genug andere Quellen bleiben, um seinen Hof mit Partydrogen zu versorgen. Ach, seufz.

Ach ja, aber eine rundherum gute Nachricht gibt es: Macaria Grijalva, die ja letzten September bei dem Kampf an der Waystation von einem Rotvampir gebissen worden war, ist auch nicht mehr infiziert.

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28. Februar

Hm. Unser Freund Adlene gibt keine Ruhe. Seit wir zurück sind, gab es weiterhin jeden Tag mindestens einen, aber häufig auch mal mehr als einen, Angriff von zufälligen Leuten, die von irgendwelchen Geistern übernommen werden und dann versuchen, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen – ganz egal, ob wir gerade in Sachen Ritual unterwegs waren oder nicht. Das nervt. Wobei... vielleicht waren die Geister auch gar nicht von Adlene geschickt. Alex hatte den Verdacht, dass da vielleicht eher Adlenes Kumpan Jak seine Finger im Spiel haben könnte.
Aber apropos Jak: Kuchen ist in letzter Zeit keiner mehr aufgetaucht, zumindest nicht so, dass wir davon wüssten. Von Spencer Declan und Pater Donovan fehlt auch weiterhin jede Spur – die stecken vermutlich immer noch in den Sümpfen fest. Nicht zu wissen, was mit den beiden los ist, beunruhigt mich immer noch, aber wir können nun mal nichts daran ändern, falls sie da drinnen wirklich irgendwelche Fiesheiten anstellen, und können nur hoffen, dass sie da nicht mehr rauskommen.

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2. März

Sagte ich vorgestern, die Geisterangriffe nerven? Die Winterfeen nerven auch. Da kommen seit ein paar Tagen auch ständig welche an und wollen sich mit mir anlegen. Warum? Na, weil ich Sommer bin und sie Winter, natürlich. Blöde Frage. Brauchen sie etwa einen anderen Grund? Haha. Es ist ihnen zwar nicht bisher nicht gelungen, mir 'die Fresse zu polieren', wie sie das wollen, aber trotzdem. De madre, ernsthaft.

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3. März

Mehr beunruhigende Nachrichten. Das Machtvakuum zeigt Auswirkungen: Es ist ein regelrechter Bandenkrieg ausgebrochen, komplett mit Gewalt und Straßenkämpfen, mit Verletzten und Toten. Wir hatten ja erwartet, dass so etwas passieren könnte, und haben uns und unsere Freunde und Verbündeten darauf vorbereitet, aber trotzdem hat Edward, hat das gesamte Miami PD, in gewissen Bereichen der Stadt alle Hände voll zu tun, und auch für uns bedeuten die Auseinandersetzungen Stress und Sorgen.

Für mich persönlich jetzt gar nicht so direkt, auch wenn ich mir natürlich Sorgen um die Familie mache.
Aber alles in allem ist die Lage gerade einfach ziemlich unsicher, und vor allem Totilas und Cicerón Linares haben im Moment einiges damit zu tun, ihr jeweiliges Revier zu verteidigen und beisammenzuhalten.
(Also nicht, dass es mir nicht deutlich lieber wäre, wenn die Geschäfte unseres White Court-Kumpel nicht ganz so illegal daherkämen, aber naja. Daran kann ich wohl auch nicht so wirklich etwas ändern.)

Von anderswo kommen die Informationen in bezug auf den verschwundenen Red Court und die daraus folgende Lage auch nur tröpfchenweise, nur ist inzwischen das Gerücht aufgekommen, dass der Magierrat irgendwie das Verschwinden des Red Courts zu verantworten habe. Aber es sieht anderswo wohl ganz ähnlich aus wie hier, und in Mittel- und Südamerika scheint unter den Drogenkartellen völliges Chaos zu herrschen. Aus Kuba ist nichts Spezielles zu hören, aber ich muss immer wieder an Enrique denken und frage mich, wie es dem wohl geht. Und ob Ciélo Canché durch das Ereignis jetzt ebenfalls kein Red Court-Infected mehr ist. Wenn dem so wäre, und wenn es bei Ocean Raith wirklich wahre Liebe zu Ciélo war und sie deswegen ihren White Court-Dämon losgeworden ist, dann haben die beiden vielleicht jetzt endlich die Chance auf ein ganz normales Leben. Ich hoffe und wünsche es ihnen. Falls nicht Ocean schon vor Jahren wegen der wahren Liebe zu einem normalen Menschen wurde und Ciélo dann seinem Blutdurst nachgegeben und sie umgebracht hat. Oh Ciélo – in beiden Bedeutungen des Wortes – ich hoffe nicht! 

Aber apropos Canché: Ciélos Vorfahrin hat auch ganz schön zu knabbern. Da ist sie jetzt, die Seele eines 17-jährigen Maya-Mädchens, in einer völlig unbekannten neuen Welt, in der sie sich erst einmal zurechtfinden muss. Wenigstens hat ihr Körper die Erinnerung an die englische Sprache beibehalten, sonst wäre sie völlig aufgeschmissen. Momentan sucht sie vor allem viel Halt bei Sancía, die aber ebenfalls mit der neuen Situation zurechtkommen muss, wenn auch der Schnitt für Totilas' Mutter nicht so extrem ist wie für Canché. Sie und Richard müssen jetzt beide erst einmal wieder richtig zueinanderfinden, wirken aber beide sehr glücklich und sehr verliebt. Es tut gut, das zu sehen.

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4. März

Ich habe es ja schon im Januar geschrieben: Internal Affairs hat Edward genau für den Tag des Calle Ocho-Festivals zu diesem Verhör Termin geladen.
Einfach ignorieren will Edward die Vorladung natürlich nicht, aber hingehen geht halt eben auch nicht, wenn wir das Ritual nicht riskieren wollen. Wir brauchen Edward dabei; der ist ein unabdingbarer Teil derjenigen von uns, die die Magie wirken müssen. Und selbst wenn er keine direkte Magie dabei wirken würde – so wie ich beispielsweise – wäre er immer noch Teil der Genius Loci-Gruppe und des großen Ganzen.

Also hat Edward Marshal Raith um Rat gefragt. Der ist selbst zwar Fachmann für Steuerrecht, aber er hat Kontakte und kannte da wen. Dieser andere Anwalt hat Edward gestern folgende rechtlichen Empfehlungen gegeben:
Am besten soll er den Termin wahrnehmen. Falls das partout nicht ginge, hätte er mehrere Optionen.
Er könnte den Dienst bei der Polizei quittieren, das ginge natürlich immer. Dann könne es allerdings sein, dass Internal Affairs den Fall an die normale Polizei abgebe. Aber die normale Polizei wolle den Raiths ja schon lange ans Bein pinkeln, und das sei auch noch nicht passiert.
Seine Empfehlung sei, dass Edward sich im Zuge seiner Arbeitsverrichtung anschießen lasse und dann deswegen aus dem Polizeidienst ausscheide. Oder sonst einen triftigen Grund zu finden, den er angeben könne, warum er das Miami PD verlasse, und eben nicht nur, weil er das Gespräch mit Internal Affairs vermeiden wolle.

Edward will jetzt versuchen, den Termin auf nach dem Ritual zu verschieben.

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5. März

Wir haben beschlossen, das wir Adlenes Geister ablenken müssen. Nicht nur bringen sie Unschuldige in Gefahr und stören uns bei den Vorbeitungen; das Ritual selbst könnte auf dem Spiel stehen, wenn sie uns dabei unterbrechen.
Also hatte Alex die brilliante Idee, dass wir es so aussehen lassen könnten, als sei das, was wir da vorgehabt hatten, schon gelaufen, dass unsere großen Vorbereitungen eben darauf abzielten, bei der Entstehung des Machtvakuums zu helfen. Der Weiße Rat darf gerne den ganzen Ruhm einheimsen, den die Gerüchte ihm zugestehen, aber wir wollen diese Gerüchte noch dadurch ergänzen, dass wir den Ratsmagiern mit unseren Anstrengungen ein bisschen unter die Arme gegriffen haben, dass diese Anstrengungen jetzt aber vorüber sind. Kein Grund also, uns länger anzugreifen. Wir sind ganz unschuldig *pfeif* *träller*.
Alex will das Gerücht unter seinen Geisterkontakten verbreiten – mal sehen, ob es hilft.

Ach ja, und Edward hat es geschafft, die Vorladung auf in drei Wochen zu verlegen. Offenbar hat er dafür auch 'nur' die persönliche Assistentin des Commissioners bestechen müssen, die den entsprechenden Kalender pflegt. Mit Geld? Mit einem Date? Mierda. Ich will es gar nicht wissen.

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7. März

Halfðan hat eben angerufen – sie hätten einen Winterriesen getötet, sagte er, direkt außerhalb von Pans Domäne.
Auf mein Nachfragen erzählte er, am Strand hätten in der echte-Welt-Nevernever-Grauzone ein paar Studenten um Hilfe gerufen, weil ein Ungeheuer einen ihrer Freunde weggeschleppt hätte. Als die Einherjer dem Ruf gefolgt seien, hätten sie einen hässlichen Riesen besiegt, der dann zu Matsch und Knochen zerfallen sei. Ja, die Knochen seien noch da, Halfðan und seine Einherjer hätten nur ein paar davon weggenommen, um sich Trophäen daraus zu schnitzen. ¡Ay, comemierdas!
Man nimmt doch nicht einfach irgendwelche unbekannten Knochen, ohne dass man weiß, was die für magische Eigenschaften haben!

Ich fahre dann mal los.

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Abends. Wieder zuhause.

Das Skelett der Kreatur war tatsächlich noch da, als wir ankamen. Sowohl die Knochen als auch der Schädel waren grob humanoid, wenn auch größer als bei einem Menschen und etwas verkrümmt. Aber wenigstens trugen sie keine offensichtlichen Anzeichen von Outsidern oder dergleichen, so dass sich meine Sorgen angesichts der Trophäen, die Halfðan und Co. sich weggenommen hatten, etwas schwanden.

Trotzdem wollten wir gerne wissen, um was genau es sich bei diesem Ding handelte – mit Halfðans Beschreibung konnten wir nämlich nicht so richtig viel anfangen, und Wesen, die mit ihrem Tod zerfielen, fielen uns auf Anhieb auch keine ein.

Edward schlug vor, dass wir ein Ritual durchführen könnten, um die Gebeine zu analysieren. Natürlich tat er das. Aber es war ja keine schlechte Idee, vor allem, da wir uns ja gerade in Pans Palast befanden und eine Verbindung zum Nevernever hatten, was ja höchstvermutlich die Heimat des Riesen war.
Während von Roberto Räucherkerzen abbrannte, die eine eine hypnotische Stimmung erzeugen sollten, und ich mit zwei der Knochen einen passenden Rhythmus trommelte, versenkte Edward sich in eine meditative Trance und beschwor ein Bild davon herauf, wo die Ungeheuer herkamen. Er hatte eine Vision von einer kargen, öden Gegend voller Krater, als hätte dort gerade ein heftiger Krieg getobt. In diesem wüsten Land streiften Riesen wie der, den Halfðan beschrieben hatte, und bekämpften sich, wann immer sie einander begegneten, indem sie einander mit Dingen bewarfen: mit riesigen Felsbrocken, mit Bäumen, die sie aus dem Erdboden rissen, und so weiter; deswegen war es dort auch so wüst und leer. Wenn sie anderen Wesen begegneten als Angehörigen ihrer eigenen Art, dann fraßen sie die auf. Charmante Zeitgenossen, ¡de verdad!

Es steht zu befürchten, dass wir von den Gestalten nicht zum letzten Mal etwas gesehen haben, aber wenigstens ist dieser hier erledigt, und der Winterhof war heute auch erstaunlich friedfertig. Mal sehen, wie lange das so bleibt.

Ach ja, und wo wir ohnhin in Pans Palast waren, ging ich natürlich meinem Herzog meine Aufwartung machen, und meine Patenkinder besuchte ich auch gleich mit. Sindri geht es gut, und Edwina Ricarda ist gerade in einem richtig goldigen Alter.

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11. März

Es ist soweit. Das Calle Ocho-Festival! Das Ritual ist zwar erst heute Abend – das Feuerwerk soll um 20:00 stattfinden –, aber bis dahin gibt es noch viel zu tun. Lidia und die Mädchen wollen natürlich zum Festival kommen, und das Feuerwerk können sie auch gerne noch mit ansehen, aber ich bin ziemlich froh, dass Lidia sie gleich anschließend nach Hause und ins Bett bringen wird. Ich habe Lidia in groben Zügen erzählt, was wir vorhaben, damit sie sich nicht wundert, dass ich nicht mit ihr und den hijas nach Hause komme, und damit sie sich keine allzu großen Sorgen macht, aber auf die genauen Details unseres Plans bin ich nicht eingegangen. Wir treffen uns heute nachmittag auf dem Festival; nach dem Frühstück muss ich erstmal los alleine los.

Erst treffe ich mich mit den Jungs wegen der Unterdrückung unserer Einflüsse. Oder besser, ich treffe mich mit Totilas, Roberto und Alex. Totilas hat seine Kontakte zu Hillary Elfenbein genutzt und von ihr einen Blister Risperdal für uns besorgt. Mir ist zwar nicht ganz wohl bei dem Gedanken, unsere übernatürlichen Einflüsse mit einem Neuroleptikum zu unterdrücken, aber die einmalige Einnahme wird uns hoffentlich nicht schaden. Edward lässt sich derweil von Vanguard dabei helfen, seine Wutbestie vorübergehend auszuschalten, und kommt dann zum Spa. Da treffen wir uns dann auch mit dem Rest der Gruppe, und Ilyana Elder kümmert sich um Totilas' Dämon.

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Am Spa. Ich habe Zeit für ein paar Sätze, bis Ilyana und Totilas fertig sind. Aber so richtig viel gibt es eigentlich gar nicht zu schreiben gerade. Nur dies: Alex, Roberto und ich haben das Risperdal genommen. Ich fühle mich... hm, wie fühle ich mich? Schwer zu sagen. Ich komme gerade nicht an meine Sommermagie, und das fühlt sich ein bisschen so an wie letzten September in dem magieunterdrückenden Feld der Sinfonia de la Tranquilidad, aber doch auch ganz anders. Damals verschwanden all diese kleinen, warmen Funken in mir auf einen Schlag komplett, diesmal ist es mehr so, als ob sie … hm, als ob jeder einzelne dieser kleinen Funken in mir von Watte umgeben ist. Ein ziemlich seltsames Gefühl, tatsächlich, aber ich gewöhne mich gerade daran, und ich denke, es wird mich nachher nicht behindern. Andere Nebenwirkungen des Risperdons fühle ich bisher keine, und ich hoffe, das bleibt so. Keine Müdigkeit, kein Schwindel, keine Störungen des Bewegungsapparats oder Sehstörungen, gracias a Dios. Den anderen beiden anderen geht es zum Glück auch damit. Und wie heute früh schon mal geschrieben: Es ist ja nur die eine einzige Dosis. Das geht hoffentlich.

Ah, da kommen Ilyana und Totilas wieder. Nachher mehr.

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Das Reinigungs- und Aufeinandereinstimmungsritual war ein voller Erfolg. Wir fühlen uns noch mehr als vorher als Gruppe, als Team, trotz unserer unterschiedlichen Ausrichtungen und Herkünfte, und sogar Dee und Cicerón Linares scheinen ihr Kriegsbeil für den Moment begraben zu haben. Sehr schön. Dann können wir ja jetzt zum Domino Park. Es wird eine Weile dauern, dort alles fertig vorzubereiten.

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Puh. Wir sind gerade am Domino Park angekommen, und es liegt eine enorme Anspannung in der Luft. Klar, es ist das Calle Ocho-Festival, das ist immer eine tremenda pachanga, aber irgendwie kommt es mir dieses Jahr mehr vor als üblich. Ja, es sind dieselben Buden, Bühnen und Grillstände aufgebaut wie sonst immer, es sind dieselben Massen an Leuten unterwegs, dieselbe bunte Kleidung, die chongas, die Fahnen aus allen Teilen Lateinamerikas, die Musik. Und trotzdem wirkt es... greller. Die Menschen sind aufgekratzter, das Lachen lauter, die Stimmung aufgeheizter. Nicht gewalttätig aufgeheizt, aber... überdreht irgendwie, so wie übermüdete Kinder überdreht werden.

Man kann die Energie, die in der Luft hängt, regelrecht spüren. Da liegt ein leichter Geschmack nach Eisen auf der Zunge, und es hängt eine salzige Brise vom Meer in der Luft, obwohl wir ja doch gut zwei Meilen vom Meer entfernt sind. Ich habe das Gefühl, als hätten die Büsche und Bäume am Rand des Platzes einen Schimmer um sich, und irgendwie ist fast alles um uns her leicht elektrostatisch aufgeladen. Und Alex sagte auch gerade, die Geisterwelt wirke für ihn bunter als sonst.
Er sagte auch, er spüre einen Druck auf die Realität – den bemerken gerade all unsere Magiebegabten in der Gruppe. Dieser Druck muss in die richtigen Wege geleitet werden, sagen sie, sonst wird das richtig, richtig unschön.

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Der Ritualkreis ist fertig. Oder besser: die Ritualkreise. Im ersten Kreis wird derjenige stehen, der gerade den aktiven Teil übernimmt – und das muss jeder von uns einmal sein, auch die unmagischen Personen unter uns, um uns mit dem Ritual und dem Genius Loci zu verbinden. In einem zweiten Kreis außen herum stehen alle anderen, nachdem sie dran waren bzw. bevor sie dran sind, und in einem dritten Kreis noch weiter außen haben unsere Spezialisten die stärksten Wards gezogen, die sie zustande bringen konnten.

Wir haben alle etwas zur direkten Vorbereitung des Rituals beigetragen. So hat zum Beispiel Roberto die Erde für die Grundstruktur der Kreise aus den Everglades geholt und mit Kräutern aus seiner Botanica durchsetzt. Außerdem haben wir unterschiedliche Materialien für die Symbole der Kreise beigesteuert – ich selbst habe zum Beispiel Kieselsteine aus dem Coral Castle und Sand vom South Beach mitgebracht. Und Totilas hat eines der Zeichen mit einem feinen weißen Pulver gezogen, das mir verdächtig nach Kokain aussah. Aber das will ich gar nicht genauer wissen, glaube ich. Alex und Dee haben die Abflusskanäle und Leylinien vorbereitet, damit die Energie, die bei dem Ritual freigesetzt werden wird, gut aufnehmen können. Und Edward hat bei sich im Labor ein Mittel zusammengebraut, das er gerade im innersten Kreis verteilt hat, damit die Magie besser darin fließen kann, wie er sagte.

Ich werde anfangen, weil das Ritual gleich nach dem Feuerwerk mit der Ode an Miami beginnen soll. Als wir das letztens besprachen, konnte ich Linares deutlich ansehen, dass ihm das gar nicht passte, dass er eigentlich fest davon ausgegangen war, dass er den Anfang machen würde, weil das seinem Selbstverständnis als Alphamännchen und Bandenboss entsprochen hätte. Aber er ist nun mal ein Bandenboss und hat einen entsprechenden Ruf, und wenn ich anfange, dann ist weder das Recht noch das Verbrechen in unseren Reihen bevorzugt. Außerdem bin ich, auch wenn das jetzt vielleicht arrogant klingt, in Miami und darüber hinaus auch einigermaßen bekannt, und es ist dramaturgisch einfach sinnvoll, die Ode an den Beginn zu setzen.

Muss aufhören. Lidia und die hijas sind gleich da.

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Es wird ernst!

sindar:
Hat Edward es dann also geschafft, dabeizusein? Ohne ihn schien es ja nicht zu gehen.

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