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[Dresden Files] Miami Files - Die Ritter von Miami (a.k.a. "Die schönen Männer")
Timberwere:
Ricardos Tagebuch: Cold Days 2
16. November
Ach ja. Ich habe gestern völlig vergessen aufzuschreiben, dass wir ja noch die Idee hatten, vielleicht einfach einmal mit Odin zu reden. Auf der Hochzeit hatten wir uns ja immerhin, wenn auch nur kurz, auch unterhalten, bevor der Ärger losging. Mein Anruf bei Monoc Securities allerdings kam nicht durch – ich erreichte nur einen Anrufbeantworter auf Dauerschleife, dass Monoc Securities derzeit keine neuen Aufträge annehme und stattdessen Firma XY empfehle, herzlichen Dank für den Anruf, klick.
Dann eben anders. Wie schon einmal schaute ich irgendwo in die Luft und sprach Heimdall direkt an: Dass wir gerne wieder mit Mr. Vadderung sprechen würden, und dass wir es zu schätzen wüssten, wenn das möglich wäre.
Auf Anhieb geschah nichts, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Heimdall – bzw. Odin selbst – wird sich schon melden, wenn es passt, hoffe ich.
Jetzt wollen wir uns gleich auf der Thethys treffen, Totilas auf Stand bringen und Kriegsrat halten.
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Okay. Dann mal zu dem, was heute passiert ist. Oder genauer, zu dem, was heute passiert ist und zu dem, von dem ich heute früh erfahren habe, obwohl es gestern schon passiert ist.
Als Edward nämlich nach unserem gestrigen Treffen nach Hause kam, fand er dort einen offiziell aussehenden Brief vor, genau wie die 'Steuerbescheide', die er früher immer von Spencer Declan erhalten hatte. Als Absender war auch immer noch 'Spencer Declan, Warden des White Council“ angegeben, und es handelte sich um eine Aufforderung zur Steuernachzahlung für die Zeit von Declans Abwesenheit, 'kulanterweise' ohne Strafzinsen, weil ja während der Zeit keine Zalhungsaufforderungen versandt worden waren.
Also rief Edward bei unserer österreichischen White Council-Bekannten Vanessa Gruber an – und riss sie prompt aus dem Schlaf, weil er die sechs Stunden Zeitverschiebung nicht bedacht hatte.
Vanessa habe sich erfreut darüber gezeigt, dass der Warden nicht von den Fomori erwischt worden sei, wie sie das gedacht habe, woraufhin Edward meinte, er habe sich ein Knurren nicht verkneifen können und geantwortet, die Stadt sei so oder so nicht verloren, das könne er ihr versichern.
Aber jedenfalls habe er den ‚Steuerbescheid‘ geschickt, damit sie sich den einmal anschauen kann.
Als nächstes besprachen wir, dass wir ja Ximena auf Outsider-Korruption überprüfen wollten – zu dem Zweck will Totilas sie mit dem dritten Auge anschauen. Und damit sie nicht merkt, was Sache ist, sollte sie dabei am besten abgelenkt sein, also am Allerbesten bei einer Generalversammlung der Wächter in der Casa Guardián. Zum Glück hatten alle gleich noch am Vormittag Zeit.
Die ‚Steuerbescheide‘ waren auch gleich das passende Thema für die Versammlung, denn alle unsere Praktizierer hatten ein solches Schreiben erhalten.
Ximena erklärte auch gleich, sie habe ‚maßvoll, sachlich und angemessen‘ geantwortet. Ähm, ja. Sie gab uns den genauen Wortlaut wieder, und angemessen war das sicherlich, weil diese Steuergeschichte hanebüchener Quatsch ist, aber ‚sachlich und maßvoll‘? Ähm, nein. Das war ein ausgestreckter Mittelfinger in Schriftform. Aber Ximena meinte hitzig, sie sehe so überhaupt nicht ein, was das alles solle.
Jedenfalls, während sie sich ereiferte, hatte Totilas Gelegenheit, sie in der Sight anzuschauen, aber er konnte in dem, was er da sah – ein Drache? Feuer? Alles leuchtete um Ximena herum – keinen rechten Sinn erkennen. Er startete einen zweiten Versuch, aber was er dabei sah, war eher noch verwirrender. Hinterher gab er uns gegenüber zu, dass er gedacht habe, wenn er ihr Energie entziehen würde, dann würde er das alles höchstvermutlich verstehen, aber er hielt sich zurück und schloss sein inneres Auge erst einmal wieder.
Dann schrieb er Roberto eine Textnachricht, und die beiden trafen sich im Flur. Dort bat Totilas Roberto, dass der es doch einmal bei seiner Cousine versuchen möge, aber bevor Roberto in den Raum zurückkehrte, ging er erst einmal auf die Toilette, damit es nicht auffallen sollte, dass die beiden gleichzeitig weggewesen waren.
Es fiel aber natürlich doch auf. War ja klar. Dee, aufmerksam wie immer, und alles andere als blöd, sprach Ximena an und ging aus dem Zimmer, als Roberto gerade wieder hereinkam, dann folgten Fébé und Ilyana.
Mit einem anklagenden Blick auf Roberto und Totilas und entsprechendem Tonfall sagte Ángel: „Soll ich mit Bjarki vielleicht auch rausgehen? Ich dachte, wir vertrauen uns hier?!?“
„Totilas hat seine Tage“, versuchte Roberto zu scherzen, aber das verfing bei Ángel nicht.
„Ich weiß nicht, was das hier soll, aber es wäre besser, wenn wir mit offenen Karten spielen.“
„Es geht um diese Korruptionsgeschichte“, gab Roberto zögernd zu. „Bestimmte Personen sollten darauf überprüft werden.“ Woraufhin ich ergänzte: „Wir alle, eigentlich.“
Dee funkelte Roberto an. „Und woher sollen wir wissen, dass nicht gerade du die Korruption an dir hast?“
„Deswegen sage ich ja: Wir sollten uns alle gegenseitig überprüfen“, wiederholte ich, und dieser Gedanke fand bei den anderen – inzwischen waren auch alle wieder im Raum – allgemeinen Anklang.
Das praktische Wissen darum, wie man das dritte Auge öffnet, haben neben Roberto und Totilas auch Dee, Ximena und Ángel. Auch Cicerón und Fébe könnten es eigentlich, aber da Cicerón noch nicht völlig wiederhergestellt ist und Fébe gerade Shango in sich trägt, fielen die beiden aus.
Als unsere Sight-Bewanderten also reihum die anderen und einander anschauten, stellte sich heraus, dass Ximena glücklicherweise keinerlei Hauch von Outsider-Verderbnis an sich trägt, und sie hat auch keine dieser Dämonenmünzen berührt. Was Roberto allerdings an ihr sah, wie er uns später erzählte, war ein sehr großer Stolz darauf, eine fähige Magierin zu sein – noch kein Größenwahn, aber sie ist offenbar im Begriff, mehr Macht anzusammeln. Das könnte vielleicht irgendwann mal ein Problem werden, aber von den Outsidern verursacht oder beeinflusst ist es auf keinen Fall. In Gegenwart der anderen Guardians sagte er, nachdem er sein drittes Auge offenbar mit einiger Mühe geschlossen hatte: „Ich weiß schon, warum ich das nicht mag. Aber keine Korruption.“
Tatsächlich hatten alle ein leichtes Problem, ihre Sight wieder zu schließen, vor allem Dee, die sich Totilas vorgenommen hatte. Auch als die Begutachtung eigentlich schon vorbei war, schielte sie immer wieder zu unserem White Court-Kumpel. Aber die gute Nachricht war: niemand von uns war wies Outsider-Korruption aus. Lediglich bei Bjarki fanden sich ganz leichte Spuren von dem Trauma, das er durchgemacht hat; er muss ein bisschen aufpassen, dass er nicht vielleicht doch unter einen Einfluss gerät, aber alles in allem ist es bei ihm schon viel besser geworden. Strukturierte Aktivitäten helfen, das Outsider-Chaos zurückzudrängen, sagte er: aufräumen zum Beispiel oder Logikrätsel machen.
Als wir alle für sauber befunden worden waren, konnten wir uns wieder dem eigentlichen Thema zuwenden: Was sollten wir wegen Spencer Declan und den ‚Steuern‘ unternehmen?
Aus Edwards Bericht davon, dass er die Sache offiziell beim White Council vorgebracht habe, ergab sich die Frage, ob wir uns dem Magierrat gegenüber vielleicht formell als Gruppierung zu erkennen geben sollten, aber da war der allgemeine Konsens, dass das vielleicht im Moment noch nicht so klug sei und wir auch Declan gegenüber in dieser Beziehung den Ball flachhalten sollten.
Ich erwähnte, dass ich über Heimdall versucht hatte, Odin wegen der Idee des Fimbulwinters zu kontaktieren, was Bjarki zu der Frage brachte, ob wir von Eleggua gehört hätten. Nein, erwiderte Alex, aber der werde Odins Forderungen ohnehin nicht akzeptieren, soviel stehe schon fest.
Odin habe auch gar kein Anrecht auf ein Wergeld, stellte Bjarki noch einmal ganz klar – aber die Forderung nach Wergeld war ja ohnehin ganz offensichtlich nur ein Vorwand, da werde also wohl ziemlich sicher noch eine förmliche Kriegserklärung folgen, weil Odin eben denke, Eleggua sei an allem schuld.
Cielo. Da können wir ja nur froh sein, dass Odin nicht denkt, ich sei an allem schuld, immerhin war es meine Hochzeit, auf der Loki umkam.
Es sei ein wirklich unglücklicher Umstand (okay, „ein bisschen doof“ waren die genauen Worte), dass Odin einen seiner Raben verloren habe, fuhr Bjarki dann fort.
Naja, den Gedanken, dem Asen wieder einen Raben zu beschaffen, hatten wir ja auch schon gehabt. Aber ist das überhaupt möglich? Wo kamen Hugin und Munin ursprünglich her? Waren das normale Raben, die magisch aufgewertet wurden, oder waren die von Anfang an etwas Besonderes?
Bjarki wusste es nicht, aber er meinte, Haley oder Ratatöskr könnten vielleicht mehr dazu sagen.
Ratatöskr? Ach so, claro, dieses Eichhörnchen aus der nordischen Mythologie, das auf der Weltenesche herumläuft und Gerüchte verbreitet. Ratatöskr weiß wohl viel, aber alles nur so halb, da ist Haley wahrscheinlich die bessere Informationsquelle.
Da ich in letzter Zeit aber ziemlich häufig mit Haley geredet habe und schon diesen Job mit den Helheim-Touristen von ihr habe, und sie außerdem beim letzten Mal ein bisschen genervt klang, als ich sie anrief, beschlossen wir, dass diesmal vielleicht besser jemand anderes (i.e. Totilas) mit ihr reden sollte.
Aber zunächst einmal fuhren wir Byron besuchen, nachdem die Guardians-Versammlung sich aufgelöst hatte, weil wir ja wegen des Schwarzvampirproblems und wegen Sarkos mit ihm reden wollten. Haley hinterher.
Als wir an der Kommune ankamen, war Bob gerade dabei, eine Kiste mit Rollsplit in den Schuppen zu tragen – den habe er gerade billig bekommen, sagte er, und davon könne man nie genug haben. Quer über der Kiste balancierte eine Schneeschaufel. „Es liegt Winter in der Luft“, sagte Bob auf unsere Frage, „ich bin aus Norwegen, ich spüre das.“ Und vor allem ist er ein magisches Wesen aus Norwegen, hat also vielleicht ein besonderes Gespür gerade für Geschehnisse, die mit der nordischen Mythologie zusammenhängen? Ai, mierda.
Byron begrüßte uns mit den Worten: „Ich weiß, warum ihr hier seid. Wegen der Barriere.“
Eigentlich nicht direkt, aber ja, die Barriere war tatsächlich auch ein echt guter Punkt.
„Seit Declan und Donovan da wieder rausgekommen sind, ist der Weg dort permanent geworden“, fuhr Byron mit ernster Miene fort. „Keine Highway, nicht mal eine Dirt Road, aber schon ein Trampelpfad, und es könnten Dinge herauskommen.“
Aber als wir, vermutlich unvermeidlich, bei diesen Worten zu der Stelle hinspürten, bekamen wir sie aber nicht richtig zu fassen. Ja, weit draußen und beinahe außerhalb unseres Miami-Sense-Radius, aber vor allem diese typische Outsider-Verzerrung, wie sie auch bei Spencer Declans Haus herrscht. Nicht ganz so fiese Kopfschmerzen wie bei Declans Haus, aber detailliert hindenken konnten wir trotzdem nicht.
„Eventuell muss jemand in den sauren Apfel beißen und sich das verbotene Wissen aneignen“, überlegte Roberto langsam. „Der würde dann korrumpiert, aber vielleicht ist ja eine Reinigung möglich?“
„Bei Saltanda ging es ja auch“, warf Alex trocken ein, was ihm einen schiefen Blick von Edward einbrachte – Totilas und Roberto hingegen juckte die Erinnerung an die Art und Weise, wie dieses Reinigungsritual vonstatten gegangen war, offenbar gar nicht.
„Bei dem Grad an Korrumpierung, den man sich durch das Lernen der verbotenen Inhalte aneignen würde, wäre aber ein sehr starkes Ritual notwendig“, warf Byron ein. „Habt ihr schon eine Idee, wie das aussehen könnte?“
Noch nicht, aber vorerst waren wir ja auch wegen etwas anderem hier. Dieser Schwarzvampir, der durch die Stadt marodiert war, war erst einmal das deutlich drängendere Problem.
Leider wusste Byron über dieses Thema auch nicht so viel, sondern konnte uns nur sagen, dass die Conquistadores einen Black Court bei sich gehabt hätten, der wohl auch Sarkos zum Vampir gemacht habe. Deswegen sei der auch auf die Conquistadores gar nicht gut zu sprechen.
Tío. Genau diese Geschichte hatten wir ja schon gehört, aber dann ist Sarkos ja wohl wirklich schon richtig alt, das geht mir gerade erst so wirklich auf.
Aber vielleicht gibt es bei dem White Court ja noch etwas mehr an Hintergrndinformationen zu finden, zum Beispiel bei Totilas‘ Urgroßmutter, Großvater, Vater oder in der Bibliothek in Raith Manor.
Aber eine andere Frage gab es noch. „Weißt du etwas über Raben als Gedächtnis?“, wollte Totilas wissen. Leider konnte Byron auch dazu nicht wirklich viel sagen – nur, dass es tatsächlich möglich ist, ein Seelentier zu haben, und ja, dass man Teile seines Gedächtnisses auf dieses Seelentier auslagern könne. „Warum fragt ihr?“
Also erzählte ich ihm von Odin und dem Rabenproblem.
Byron brummte, dann sagte er: „Irgendwie war klar, dass das genau jetzt passiert. Denn die Sache in den Sümpfen wächst hier seit tausend Jahren – irgendwann zerfallen die Dinge. Ich dachte eigentlich, das sei der Grund, warum ich hier sei…“ Nachdenklich brach er ab, um dann doch noch anzufügen: „All diese Probleme haben ein und dieselbe Ursache. Wegen der Barriere habe ich eine Idee – ich werde mich melden, sobald die spruchreif ist.“
„Warum würde jemand seine Seele mit einem Tier verbinden?“, brachte Edward das Gespräch noch einmal auf unser voriges Thema zurück, und wieder gab Byron ein versonnenes Brummen von sich, bevor er antwortete. „Ganz unterschiedliche Gründe“, führte er aus, „es kann dir helfen, drüben Sachen zu sehen. Es kann dir helfen, Traumata zu verarbeiten: Manche Dinge sind leichter zu ertragen, wenn du sie auslagerst. Vielleicht hast du bestimmte Aufgaben, für die du so etwas brauchst, oder du suchst Hilfe. Ein Seelentier kann ein echter Teil von dir werden und dein Leben besser machen, oder vielleicht willst du auch einfach nur mehr Macht. Oder alles gleichzeitig. So oder so verbindet es dich mit der Welt.“
Wir redeten noch ein bisschen länger mit Byron, dann verabschiedeten wir uns.
Vom Auto aus rief Totilas bei Marshal an und schickte den zur Recherche über Schwarzvampire in die Raith’sche Bibliothek. Dabei ließ Marshal fallen, dass es in Raith Manor gerade schon wieder einen Sabotageakt gegeben habe, der die Renovierung des Herrenhauses wieder um Monate zurückwerfen wird. Marshal äußerte die Vermutung, dass mit Sicherheit ein anderer Zweig der Familie Raith bzw. eine andere White Court-Familie hinter den Anschlägen stünde, und Totilas stimmte ihm mit grimmiger Miene zu. Dann kam ihm der Gedanke, dass sich vielleicht ein zweites Gebäude, von dem niemand etwas wisse, heimlich aufpolieren ließe – dann könnten die Angriffe auf Raith Manor weitergehen und am Ende, wenn die Renovierung an dem zweiten Haus fertig wäre, könnte man das als neuen Herrensitz präsentieren und das alte Raith Manor aufgeben. Marshal sagte jedenfalls, er wolle sich einmal unaufällig nach geeigneten Objekten umhören.
Als nächstes kontaktierte Totilas Haley, wie abgemacht, und sie vereinbarten ein Treffen für abends an der Oper – weil das neutraler Boden sei, sagte sie. Seltsam… Bisher hat Haley nie auf neutralem Boden bestanden, um sich mit uns zu treffen.
Aber jedenfalls war noch den ganzen Nachmittag Zeit, um zu Tanit hinauszufahren. Dummerweise hatte Alex einen dringenden, unaufschiebbaren Termin, sodass wir irgendwie zusehen mussten, wie wir ohne ihn zum Cayo Huracán kamen.
Ein Boot war schnell gemietet, aber die Überfahrt gestaltete sich für Totilas, der am Steuer stand, deutlich schwieriger als gedacht. Nicht nur hatte er in der zunehmend rauhen See Schwierigkeiten, die Richtung zu halten, sondern am Ende rammten wir sogar einen Felsen auf und hatten Glück, dass wir das leckgeschlagene Boot irgendwie wieder in den Hafen bugsiert bekamen.
Statt dass Totilas dem Vermieter den Zusammenstoß mit dem Felsen einfach gestand – seine Versicherung würde die Instandsetzung ja ohnehin übernehmen –, log er dem Mann etwas vom Himmel herunter von wegen, dass wir von Piraten überfallen worden wären und das Boot bei diesem Angriff beschädigt worden sei. Der Bootsbesitzer nahm das sofort sehr ernst und bestand darauf, die Polizei zu verständigen, und wir waren eine ganze Zeit lang damit beschäftigt, uns da wieder herauszuwinden. Und alles dafür, dass am Ende trotzdem Totilas' Versicherung (oder, falls die Versicherung das wegen der Diskrepanzen bei Totilas' Aussage und der Nichtauffindbarkeit der 'Piraten' ablehnt, Haus Raith selbst) für den Schaden aufkommen wird. Seufz. Naja. Wenigstens hatte ich während des Wartens und auch hinterher noch etwas Zeit, um das alles aufzuschreiben, bevor wir uns später mit Haley treffen.
Aber jetzt erstmal Abendessen mit der Familie.
Timberwere:
Ricardos Tagebuch: Cold Days 3
Abends.
Wir trafen Haley im Café der Oper. Sie trug ihren üblichen Goth Look – schwarzer Anzug und Zylinder, kreidebleiches Gesicht – und nippte gerade an einem Glas Rotwein, als wir ankamen. Und irgendwie hatte ich den Eindruck, dass die Kellnerin uns einen erleichterten Blick zuwarf, als wir uns zu Haley gesellten und die nicht länger allein an ihrem Tisch saß.
Nach durchaus freundlicher Begrüßung fragten wir Haley nach Odin und seinem verlorenen Raben. Könnte man den vielleicht zurückbringen, oder wenigstens ersetzen?
„Nekromantie ist nie gut“, versetzte Haley trocken.
Mir kam ein plötzlicher Gedanke. „Aber ist der Rabe vielleicht ein Einherje geworden?“
Haley schüttelte den Kopf. „Selbst wenn, die Verbindung zu Odin wurde zerstört, als der Rabe starb, und ob Odin so viel kohärenter wäre, wenn er diesen Teil seines Gedächtnisses wiedererlangen würde, das ist auch noch die Frage.“
„Wie meinst du das?“, wollte Totilas wissen, also führte die Ase näher aus: „Loki ist zwar Odins Halbbruder, aber bei der Geschichte mit Baldur war die Tatsache, dass Loki sein Halbbruder ist, Odin auch herzlich egal. Ich glaube, der Zorn wegen Lokis Verlust war nur ein Vorwand – ich glaube, Odin ist einfach nur sauer auf Eleggua. Denn vergesst nicht: Es war ja eigentlich von Elegguas Seite aus noch gar nichts vorgefallen, und trotzdem war Odin sofort misstrauisch und gegen Eleggua eingestellt.“
Das gab uns einigen Stoff zum Nachdenken, auch, da Haley noch ergänzte: „Ich glaube, Odin hat einfach ganz generell die Schnauze voll.“ Was auch immer das heißen sollte.
So oder so aber sprachen wir Haley noch auf unseren Gedanken wegen des Fimbulwinters an. Mit dem Thema hatte unsere Asen-Bekannte sich bislang nicht konkret beschäftigt, aber sie klärte uns auf, dass der Fimbulwinter das erste Anzeichen für Ragnarök, den Weltuntergang, sei: drei Winter ohne Sommer, oder ‚Sommer‘, in denen die Sonne keinerlei Kraft habe, dann werde die Midgardschlange angespült, kann käme ein Schiff, das aus Fingernägeln gemacht sei, und dann würden sich alle umbringen.
„Also wer das erfunden hat, war ganz schön auf Pilzen“, knurrte Edward, woraufhin Haley ein schiefes, beinahe entschuldigendes Grinsen zeigte und zugab, dass die Asen von diesen Erzählungen in eine gewisse Rolle gedrängt wurden, aus der sie nun kaum – vielleicht sogar überhaupt nicht mehr – herauskommen könnten. „Das wurde alles so lange und so oft wiederholt, dass es wahr geworden ist und jetzt geschehen muss.“
Aber vielleicht nicht genau auf diese Weise, setzte Haley gleich darauf hinzu. „Dieser Outsider hat Loki getötet, damit ist Loki jetzt in ihm, also kann es passieren, dass der Outsider jetzt Lokis Rolle übernimmt. Aber wenn er die Prophezeiung soweit ändert, dass er selbst nicht dabei sterben muss, dann wäre das für einen Outsider natürlich perfekt: die Welt zerstört, alle Asen tot, aber der Loki-Outsider selbst noch am Leben und in der Lage, jede Menge Chaos zu stiften.
Autsch. Kein guter Gedanke. Aber mal gar nicht. Das mit dem Loki-Outsider auch, klar, aber vor allem natürlich, dass Odin ernsthaft dabei sein könnte, hier den Weltuntergang vorzubereiten.
Wann wäre denn der Point of no Return, wollten wir wissen; ab wann wäre das Ende der Welt nicht mehr abzuwenden? Sprich, wie lange haben wir, um das irgendwie zu verhindern?
Das wäre, sobald Fenrir die Sonne schluckt und nicht mehr ausspuckt, erwiderte Haley. Aber damit das passiert, müssen ja erst drei Winter am Stück auftreten, also bleibt noch etwas Zeit.
Dennoch. Ich wiederhole mich, aber: Autsch.
„Wo soll dieses Schiff denn landen?“, wollte Totilas wissen. „Ich fürchte, direkt hier“, antwortete Haley, was bei uns – vielleicht unvermeidlich – kurz zu etwas Rumgeblödel führte, ob man das Schiff nicht nach Chicago umleiten könne, das sei doch viel besser geeignet als Miami: Da sitzt doch dieser unsympathische Ratsmagier und Warden, mit dem Edward dieses unschöne Telefongespräch hatte und der zu allem Überfluss auch noch der Ritter der Winterkönigin Mab ist. Und darüber hinaus war Odin selbst ja auch schon einmal in Chicago gewesen, bevor diese ganze mierda losging. Wie gesagt, es war blödes Herumgeflaxe, aber Haley erwiderte relativ ernsthaft, dass eine sehr diplomatische Fraktion vielleicht versuchen könnte zu erreichen, dass Naglfar in Chicago erscheinen würde statt hier. Dabei schaute sie mich vielsagend an, hatte ich den Eindruck, aber… nein. Naglfar in Chicago wäre nicht besser als Naglfar in Miami. Bevor ich so etwas auch nur in Betracht ziehe, muss schon wirklich alles verloren sein.
Totilas hatte eine andere Idee. „Wie wäre es, wenn wir einen Film über Ragnarök drehen lassen und die Ereignisse darin ändern?“
Haley lachte auf. „Warst du in den letzten paar Jahren nicht im Kino? Den Film gab es schon! 855 Millionen Dollar Einspielergebnis! Millionen von Zuschauern! Und hat er was geändert? Hat er nicht, duh!“ Sie wurde wieder ernst und schüttelte den Kopf. „Diese Geschichte wurde vor 1000 Jahren geschrieben und hatte seitdem Zeit zu wirken. Da müsstest du schon das komplette Unterbewusstsein der Menschheit ändern.“
„Mit einem Ritual vielleicht?“, schlug Totilas vor, aber nun war es Edward, der den Kopf schüttelte. „Das würde gegen die Gesetze der Magie verstoßen. Du darfst Leuten nicht im Kopf herumspielen.“
Auch wenn so ein Ritual vielleicht eine Lösung wäre, dieser Aussage konnte ich nur aus vollstem Herzen zustimmen. Habe ich schon gesagt, wie sehr ich es hasse, hasse, hasse, wenn man mir im Kopf herumpfuscht?
Und überdies, waren wir uns auch sehr schnell einig, würde es auch mit neutralisiertem kollektivem Unterbewusstsein der Menschheit zu lange dauern, einen neuen Film mit der entsprechenden Botschaft vorzubereiten, zu produzieren und so zu verbreiten, dass er die gewünschte Wirkung zeigen würde. Also eine weitere Sackgasse. Mierda.
Bevor wir nach dem Gespräch mit Haley auseinander gingen, kamen wir aber noch überein, dass wir morgen nun aber wirklich zu Tanit müssen, auch wenn Alex immer noch damit beschäftigt ist, Eleggua davon abzuhalten, in den Krieg gegen Odin zu ziehen. Wir überlegten ein bisschen, ob vielleicht jemand von den Guardians in Frage käme, um das Boot zu steuern, und landeten bei Dee – die offensichtliche Wahl tatsächlich. Denn als Alex‘ Schwester hat sie zwar vielleicht nicht dessen instinktives und von seiner Tätigkeit für Eleggua verstärktes Talent für Fortbewegungsmittel aller Art, aber sie hat dieselbe Erziehung, dieselbe Kindheit und dieselben gut ausgebildeten mundanen Fähigkeiten. Als wir sie anriefen, war sie sofort voller Verständnis, dass Alex seinen Patron im Zaum halten muss, und erklärte sich bereit, uns morgen zum Cayo Huracán zu bringen.
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17. November
Nachdem wir – wieder bei demselben Bootsverleiher, der eigentlich wenig Lust hatte, uns noch einmal eines seiner Fahrzeuge anzuvertrauen, sich aber von einigen wohlgesetzten Worten, Dees großem Bootsführerschein und dem umfassenden Versicherungsschutz des Hauses Raith doch überzeugen ließ – eine Möglichkeit zur Überfahrt gefunden hatten, brachte Dee uns diesmal tatsächlich sicher zum Cayo Huracán.
Tanit empfing uns höflich, hörte uns an und bestätigte noch einmal, dass dieser Winter nicht von den Feenhöfen ausgehe. Ganz ähnlich wie Hurricane vorgestern erklärte auch sie in gleichmütigem und nicht sehr interessiertem Ton, sie sei nicht eifersüchtig, weil eine andere Macht den Winter beschwöre – wenn es ein konkurrierender Feenhof gewesen wäre, vielleicht, aber so empfinde sie das nicht als Bedrohung oder Herabsetzung ihrer eigenen Stellung.
Als Totilas aber erwähnte, dass bei diesem Winter höchstvermutlich die Outsider ihre Finger im Spiel hätten, wurde Tanit doch hellhörig. Dass sie selbst gesagt habe, es sei zu früh für die Outside, ihre, Tanits, Vorbereitungen seien noch nicht fertig, fügte ich noch hinzu.
„Ich fürchte, mein Gegenpart hat einen Einfallswinkel für diese… diese Wesen geöffnet, als er die Einherjer an seinen Hof ließ und den Schutz seines Hofes Odin unterstellte.“
Autsch. Ja, es war natürlich Pan gewesen, der die letztendliche Entscheidung darüber traf, aber die Idee mit den Einherjern war von mir gekommen. Also eigentlich genau genommen von Pan, der den Gedanken nach der Sache mit den Sonnenhaaren hatte, aber ich war es, der die Idee trotz meiner leichten Zweifel aufnahm, noch einmal nach Heorot reiste und die weiteren Einherjer holte. Und ja, die Situation war nach dem Verlust der Sidhe-Ritter dramatisch gewesen, und eine Lösung hatte keinen Aufschub geduldet, aber trotzdem. Autsch.
„Ich habe versucht, ihm das zu erklären“, fuhr Tanit trocken fort, „aber da funkte ja sein Ritter dazwischen.“
Doppel-Autsch. Ich habe mir seither schon mehr als einmal Vorwürfe deswegen gemacht, dass ich den Raum in dem Moment betreten habe, aber die Auseinandersetzung klang so … nun, so hitzig und unversöhnlich. Es ist mir schon mehrfach durch den Kopf gegangen, ob Pan und Tanit einfach so heftig streiten müssen, ob das bei Sommer und Winter nicht anders geht und bei ihnen immer so ist, und ob, wenn ich das Ganze hätte laufen lassen, der Streit nicht am Ende doch in ihrem üblichen Hasslieben-Streit-Versöhnungssex geendet hätte. Und Tanit schien ja jetzt tatsächlich davon auszugehen, dass sie, sobald der Sturm abgeebbt wäre, noch eine Chance gehabt hätte, zu Pan durchzudringen… Ai, mierda. ¡Mierda y cólera!
„Vermutlich hätte es aber ohnehin nicht geklappt“, lenkte die Sturmgottheit nun ein, „er war in letzter Zeit noch störrischer als sonst.“ – ob sie das wirklich glaubte, oder ob sie mich aus Höflichkeit beruhigen wollte, das sei einmal dahingestellt.
Groß weiterhelfen – außer unseren Verdacht des Fimbulwinters weiter zu erhärten – konnte uns die Winter-Herzogin jedenfalls nicht, und so kehrten wir, zum Glück wieder ohne irgendwelche Havarien, nach Miami zurück. Auch der Bootsverleiher zeigte sich extrem erleichtert, dass diesmal alles gutgegangen war und er nicht ein zweites Boot zur Reparatur aus dem Verkehr ziehen musste.
Auf dem Weg vom Hafen zurück ins Stadtzentrum rief Dora vom Donutladen bei Edward an: Eine junge Frau hätte nach uns gefragt. Sie hätte etwas von einem Orkus gesagt und sich Lucretia genannt. Ja, sie sei gerade noch da, sie würde auf uns warten.
Das tat sie auch wirklich. Als wir im Dora’s ankamen, sprang die junge Frau auf, setzte sich dann wieder, und wir gesellten uns zu ihr.
Lucretia sah etwas müde aus, sogar anämisch. Uns allen kam sofort die Idee, dass sich vermutlich ein Schwarzvampir an ihr genährt haben könnte.
„Ich bringe eine Nachricht von meinem Herrn Orkus.“
„Ach, der ist wieder da?“, konterte Edward in etwas sarkastisch-zweifelndem Tonfall.
„Ja“, erwiderte Lucretia, „es war immer nur eine Frage der Zeit, bis er zurückkehren würde. Sarkos wollte aufbegehren, doch dieser Versuch war selbstverständlich zum Scheitern verurteilt. Doch jetzt hat Sarkos‘ alter Feind ihn in seinem Visier.“
Lucretias Stimme klang eindeutig gestelzter und formaler als bei unseren letzten Treffen, beinahe monoton, und ihre Augen wirkten irgendwie glasig. Sie erschien mir deutlich weniger wie sie selbst und mehr wie die reine Inkarnation der Hohepriesterin einer römischen Gottheit.
Plötzlich jedoch wurde ihr rechtes Auge klar, und jemand anderes schaute heraus, schien Lucretia dabei zu beobachten, was sie sagte – oder ihr vielleicht gar die Worte in den Mund zu legen? Dieses Gefühl hatte ich ganz stark.
„Im Moment ist Orkus noch etwas zu geschwächt, um gegen Sarkos‘ Feind vorzugehen, und so bietet Orkus euch die Chance, dem Feind eine Falle zu stellen.“
„Was für eine Falle?“, fragte Roberto.
„Der Feind denkt, Orkus sei Sarkos.“
„Ach, und warum denkt er das?“ Wieder Edward, in demselben sarkastischen Tonfall wie zuvor.
„Sarkos war närrisch und wollte Orkus übernehmen, doch Orkus war natürlich zu mächtig.“
„Hatte Sarkos vielleicht einen von diesen Dolchen?“, wollte ich nun wissen, was Lucretia etwas aus der Rolle der Hohepriesterin fallen ließ und sie wieder mehr wirkte wie das junge Goth Girl, das sie eigentlich ist. „Jaaaaa? Vielleicht?“
„Was für eine Falle?“, wiederholte Roberto.
„Die genaue Beschaffenheit der Falle würde er in seiner Großzügigkeit euch überlassen.“
Hah. Ahahaha.
Wir könnten Orkus heute Abend treffen, sagte Lucretia, in einem kleinen Bistro im Theaterdistrikt. Das Bistro kenne ich sogar – vor einer Weile waren Lidia und ich im Theater und gingen hinterher in genau dort etwas essen. Für ein italienisches Restaurant verwenden sie dort erstaunlich wenig Knoblauch. Damals fiel uns das zwar auf, aber es ließ bei mir keine Alarmglocken klingeln. In diesem Zusammenhang jetzt allerdings regte sich bei mir – und Roberto, der den Laden ebenfalls kannte – das Misstrauen: Ob das vielleicht ein Treffpunkt für Schwarzvampire ist, wie es The Whispers für die Rotvampire war? Und wird das da heute Abend vielleicht eine Falle für uns?
Wir werden hingehen… aber wir werden auf jeden Fall Knoblauch und Weihwasser dabei haben. Und mein patentiertes Sonnenlicht.
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Wir sind von dem Treffen zurück. Unversehrt und ungebissen, wohlgemerkt. Es war tatsächlich keine Falle.
An einem Tisch in dem Bistro saß eine Person, die wir noch von der Auktion damals in Erinnerung hatten: in dunkler Kleidung, vergleichsweise jung und für einen Schwarzvampir verblüffend wenig tot und verfallen aussehend – und definitiv nicht die Gestalt von Orkus, wie wir den in der Gruft auf dem Friedhof kennengelernt hatten, sondern eben die von Sarkos.
Nach der höflichen, aber eher zurückhaltenden Begrüßung begann unser Gegenüber das Gespräch:
„Ich denke, wir haben alle ein gemeinsames Interesse daran, diesen Gegner auszuschalten.“
„Vermutlich schon“, brummelte Edward einigermaßen widerwillig.
Ich schaltete mich ein, bevor der zweifelnde Tonfall meines besten Freundes Anstoß erregen konnte. „Was gibt es über ihn zu wissen?“
„Er ist sehr alt, er ist sehr katholisch, er will die Sünder bestrafen und er glaubt, er tue Gottes Werk.“
Ich hob die Brauen. „Katholizismus und Vamprismus – das ist doch ein kolossaler Widerspruch in sich?“
„Warum?“, fragte Totilas und schien die Frage völlig ernst zu meinen.
Zugegeben, meine Antwort klang vielleicht ein bisschen ungläubig: „Ähm, weil Schwarzvampire keine Kreuze vertragen?“
„Er kasteit sich gerne damit“, erläuterte unser Gesprächspartner.
„Wie heißt er? Also, wie hieß er früher?“
Ein Schulterzucken. „Vielleicht hatte er einmal einen Namen. Aber jetzt nennt er sich nur noch Salvador Ultimo.“
Salvador Ultimo. Der letzte Retter. Hah.
„Und wie stellst du dir das jetzt vor?“
„Salvador sucht Sarkos – er will Rache.“
„Rache? Wofür?“
Das Lächeln unseres Gegenübers war dünn, maliziös und trug einen Hauch von Triumph in sich.
„Er hat nicht ohne Grund 300 Jahre lang geschlafen.“
Totilas schaltete sich ein: „Wer hat ihn denn aufgeweckt, und warum?“
„Das war wohl ein Fehler. Vor etwa dreißig Jahren hat Sarkos gegen einen Gefallen den Körper Joseph Adlene überlassen – der wollte wohl Experimente damit durchführen.“
„Aber warum wurde er dann gerade jetzt wieder aufgeweckt?“
Wieder ein Schulterzucken. „Vermutlich, weil Adlene mit diesen seltsamen Wesen zusammenarbeitet? Aber jedenfalls würde ich es gerne vermeiden, dass Salvador Sarkos und seine Zuflucht findet. Sarkos kann nicht gut gegen Salvador vorgehen, auch wenn er inzwischen stärker ist als Salvador, aber…“
„… er hat dich gemacht“, beendete ich den abgebrochenen Satz.
„Ja.“
„Also bist du gar nicht Orkus.“
Über das Gesicht unseres Gesprächspartners zog ein halb schuldbewusstes, halb schelmisches Lächeln. „Das ist eine zutiefst philosophische Frage. Niemand sonst außer mir ist Orkus. Aber ja, es stimmt schon, ich bin deutlich mehr Sarkos als Orkus.“
Ich nickte. „Und Lucretia wäre dir eine bessere Hohepriesterin, wenn du sie nicht weiter aussaugst.“
Wieder dieser etwas undefinierbare Gesichtsausdruck. „Ja, da hast du wohl recht.“
„Wie hast du dir diese Falle denn nun vorgestellt?“, nahm Edward den Faden wieder auf, und Sarkos führte aus, dass wir Salvador an einen noch näher zu bestimmenden Ort locken sollten. Er, Sarkos, würde sich Salvador zeigen, der würde ihn verfolgen, und Sarkos würde ihn eben zu diesem Ort ziehen, wo wir auf ihn warten würden.
Wie wir miteinander kommunizieren sollten, dazu hatte er auch bereits eine Idee. Nicht Lucretia, wie wir überlegten, sondern er holte eine Kröte aus der Tasche – Moment, der hatte eine lebende Kröte in der Tasche?? – und gab sie uns. „Redet mit der Kröte, ich kann euch über sie antworten. Aber seid vorsichtig – wenn ihr die Kröte mit in die Glades nehmt, bevor der Moment gekommen ist, dann könnte Salvador sie wittern.“
Es war zu spüren, dass Sarkos sich alle Mühe gab, höflich zu sein, aber er konnte nun einmal nicht aus seiner Haut. Er war nun einmal ein eiskalter Meistervampir und entsprechend herablassend, auch wenn er sich bemühte, das nicht zu zeigen.
Aber immerhin hatten wir ein gemeinsames Interesse, nämlich diesen Feind auszuschalten, den wir alle aus dem Weg räumen wollen.
Sobald wir auseinandergegangen waren, beschlossen wir, dass wir für die Detailplanungen der Salvador-Falle natürlich die anderen Guardians mit ins Boot holen müssen, oder zumindest diejenigen von ihnen, die Zeit haben. Und dann treffen in der Casa Guardián.
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Bevor wir uns in der Casa Guardián mit den anderen treffen konnten, bekam Totilas einen Anruf von Marshall Raith, der uns etwas über die Sozialstrukturen des Black Court erzählen konnte: Sie leben üblicherweise in einem Nest, das von einem Meistervampir angeführt wird und ansonsten einige intelligente Sprösslinge und etliche wilde Jungvampire beherbergt. Mit genügend Zeit werden die Jungvampire zu Sprösslingen und diese irgendwann selbst zu Meistervampiren – aber der Großteil kommt nicht so weit, sondern wird noch im ersten Stadium entweder von Menschen oder von den Sprösslingen getötet, wobei die Sprösslinge sich eigentlich recht gut unter Kontrolle hätten, sagte Marshall. Für den Meistervampir jedenfalls sei die Kontrolle umso schwerer, je mehr Unterlinge er unter sich habe – und im Umkehrschluss ist ein großes Nest ein Hinweis auf einen mächtigen Meistervampir.
Marshall hatte auch Informationen über Salvador Ultimo herausgefunden – zwar nicht den Namen des Mannes selbst, aber immerhin den Namen eines Schiffes, der Santa Clara.
Vor dem Treffen mit den anderen wollen wir erst noch dieses Schiff recherchieren – vielleicht kann das ja auch etwas zur späteren Planung beitragen.
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Nachdem Totilas einige Kontakte abtelefoniert hatte, Edward Zeitungen wälzte und ich das Internet durchforstete, landeten wir schließlich bei einem Museum, das alte Seefahrtsarchive beherbergte, darunter auch jahrhundertealte Schiffsmanifeste. Und im Manifest der Santa Clara fanden wir unter anderem den folgenden Eintrag:
Sarg des Caballero Juan Ramos de Alcazár
¿Que demonios?
Ich wiederhole mich, aber: ¿¡Que demonios!?
Okay, die Namensgleichheit muss nicht bedeuten, dass dieser Caballero wirklich ein Vorfahr oder entfernter Verwandter von mir ist, aber trotzdem. Das muss ich erst einmal verdauen.
Oh, und die Tatsache, dass der Leichnam in dem Sarg als Caballero bezeichnet wird und nicht als Mönch, dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit bedeuten, dass Juan Ramos de Alcazár nicht der wahre Name von Salvador Ultimo ist, weil er als Mönch höchstvermutlich einen Glaubensnamen angenommen hat, der dann zu seinem wahren Namen wurde, aber immerhin, es ist ein Name, der zumindest einmal zu ihm gehört hat. Damit können wir – kann Edward – dann hoffentlich etwas anfangen.
Timberwere:
Nach dem Treffen
Fébé und Cicerón waren noch immer anderweitig beschäftigt, aber Ilyana wollte auf jeden Fall dabei sein, immerhin betraf die Sache die Everglades.
Ximena, Ángel und Bjarki waren in ihre Forschungen vertieft, wie man einem Outsider beikommen könnte, wenn man ihn erstmal zu fassen bekommt, und Dee sagte, sie würde überwachen, was sonst noch so alles in der Stadt auftaucht, und den Kontakt zu Alex halten, damit nicht plötzlich Eleggua auftaucht und Asgard plattmachen will.
Ilyana wiederum konnte einiges über Sarkos berichten, der sich ja üblicherweise in den Everglades aufhält. Er habe keinen Kult, sagte sie – oder zumindest bislang nicht gehabt: In letzter Zeit seien doch immer mal wieder einige, zumeist junge, Gruftis in den Glades aufgetaucht. Das mit den Gruftis konnten wir aufklären: dass das eben Anhänger des Orcus seien und die römische Totengottheit nun in Gestalt des Schwarzvampirs verehren wollten. „Hm, dann hat er vielleicht demnächst doch einen Kult“, sinnierte Ilyana trocken.
Kurz kamen wir auch auf Odin und den drohenden Fimbulwinter zu sprechen, aber gerade ist der Schwarzvampir und die Falle für ihn das deutlich drängendere Problem.
Zunächst: das Wo. Ilyana schlug ein verlassenes Haus in den Everglades vor, und tatsächlich kannte auch Roberto den Ort, weil er irgendwann einmal ein Fotoshooting dort gehabt hatte.
Dann: all die Dinge, die uns dabei helfen können, Salvador Ultimo anzulocken.
Wir haben seinen Namen, oder zumindest den, den er vor seiner Berufung in den Mönchsorden trug, und wir haben die Kröte, über die wir uns mit Sarkos verständigen können.
Der Sarg, mit dem er auf der Santa Clara über das Meer kam, wäre auch eine Möglichkeit – oder genauer gesagt, auf diese Idee kam Totilas, Salvadors Heimaterde aus dem Sarg wäre noch viel besser.
Außerdem könnte ein geweihtes Kreuz helfen – erst, so katholisch wie dieser Black Court ist, um ihn anzulocken und vor Ort zu halten, aber dann vielleicht – hoffentlich – auch, um ihn zu bekämpfen.
Roberto schlug noch vor, ihn dann, wenn er an Ort und Stelle wäre, mit ‚möglichst viel Sünde‘ zu provozieren, und Totilas will ihn mittels seiner Kräfte an Ort und Stelle festhalten, damit er nicht einfach abhauen kann.
Die benötigten Gegenstände wollen wir jetzt erst einmal beschaffen, frei nach dem Motto: „Okay, ich besorge ein Kreuz, Alex und Edward holen die Erde, Roberto dragqueent und Totilas whitecourtet“, dann geht es an die Detailplanung.
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Ich habe ein Kreuz bekommen, auch wenn es nicht ganz das war, was ich eigentlich wollte. Mir hatte ein stark verziertes, deutlich katholisches Kreuz vorgeschwebt, aber die einzigen Kreuze, die ich in der Kürze der Zeit finden konnte, waren schlichte, unverzierte. Also muss jetzt so eines herhalten, aber immerhin konnte ich es noch von Pater Antonio weihen lassen.
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Roberto und Totilas sind als Sexy Red Nun bzw. in goldenem Lackleder mit jeder Menge Bändern und Ketten hier aufgeschlagen. Wie war das gleich mit ‚Roberto dragqueent und Totilas whitecourtet‘? Volltreffer.
Edward und Alex haben Salvadors Sarg, aber das war gar nicht so einfach. Der befand sich nämlich nicht im Gewahrsam des SID, sondern im zuständigen Polizeirevier, und der Desk Sergent dort war wohl … schwierig. Aber Ende gut, alles gut, Formular hin, Fax her, am Ende waren sie doch erfolgreich.
Also der Sarg, das Kreuz, und jede Menge Weihwasser von der Kirche, an der Salvador Ultimos Angriff stattfand, haben wir ja auch noch.
Bleibt die Frage, wie wir gegen einen so alten Schwarzvampir vorgehen können, der immerhin so nette Fähigkeiten hat, wie sich in Nebel zu verwandeln. Vor allem mit Sonnenlicht, stellte sich heraus, denn nur im Sonnenlicht ist er überhaupt irgendwie verwundbar. Ohne das können wir es gleich vergessen, aber sobald das Sonnenlicht kommt, wird er natürlich versuchen, abzuhauen, und das müssen wir irgendwie verhindern.
Der Plan: Ich mache Sonnenlicht, dann sorgt Totilas mittels seiner White Court-Methoden dafür, dass Salvador nicht auf die Idee kommt, abzuhauen, dann weichen die Jungs ihn auf, und am Ende wird er geköpft. Und zwar von mir, da ich dank Jade und Eileen der einzige Schwertkämpfer unter uns bin.
„Bist du bereit dazu?“, fragte Totilas unvermittelt.
Nanu? Wo kam das jetzt her? Etwas verwirrt antwortete ich: „Ja.“
„Obwohl er vielleicht ein Verwandter von dir ist?“
Das ließ mich kurz innehalten, aber nicht lange. „Ja. Er ist ja kein direkter Verwandter, und selbst wenn er ein entfernter Vorfahr von mir ist, er ist ein Vampir, und er ist untot, also ja.“
Aber gut, wir fahren jetzt los. Himmel steh uns bei!
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Alle noch am Leben. Das war erstaunlich einfach, wenn man bedenkt, mit was für einem Wesen wir es da eigentlich zu tun hatten. Gute Vorbereitung zahlt sich eben doch aus. Aber der Reihe nach.
Wir waren bereits vor Ort an diesem Haus in den Glades, da hatten Totilas und Edward die geniale Idee, die Heimaterde aus dem Sarg, hinter der Salvador ja vermutlich her sein würde, mit Sonnenlicht zu durchfluten und quasi eine Landmine daraus zu machen, die ihm ins Gesicht explodieren sollte, sobald er sie anfassen würde. Das wären dann eben zwei getrennte Rituale: erst die Bombe bauen und dann den Black Court anlocken, aber für Edward können es ja ohnehin nie genug Rituale sein.
Für die Landmine packten wir neben der Heimaterde des Schwarzvampirs und dem von mir gewirkten Sonnenlicht noch etwas von unserem Weihwasser in den Beutel, und in die rituelle Verbindung wob Edward auch noch Salvadors wahren, na gut, nicht seinen wahren, aber seinen weltlichen Geburtsnamen. Bei all diesem explosiven Potenzial wäre Edward das Ritual beinahe um die Ohren geflogen, aber es gelang ihm, die Kontrolle zu behalten und das Säckchen wie gewünscht zu präparieren.
Währenddessen legte ich auch noch eine Aura aus Sonnenlicht auf Jade – natürlich kamen von den Jungs blöde Sprüche von wegen ‚Lichtschwert‘, aber damit hatte ich schon gerechnet. Bei uns geht es einfach nicht ohne blöde Sprüche, und normalerweise bin ich bei sowas ja auch immer gut mit dabei.
Dann jedenfalls war es soweit, und Edward begann sein Ritual, um den Vampir anzulocken. Während er zauberte, hielt Totilas den Beutel mit der präparierten Erde fest… und das war auch gut so, denn während das Ritual noch lief, flog plötzlich die Tür der Hütte auf, und der Vampir stand im Raum. Und er war verdammt schnell. Wenn Totilas nicht selbst auch über übernatürliche Reflexe besäße, dann hätte der Black Court sich einfach das Säckchen mit der Erde geschnappt und wäre weg gewesen. So aber konnte Totilas in letzter Sekunde ausweichen, und Salvador Ultimos Krallen rissen ihm ‚nur‘ die Seite auf. Totilas schlug zurück, traf seinen Gegner jedoch nicht – aber da noch kein Sonnenlicht herrschte, war der Vampir ohnehin noch nicht zu verwunden.
Kein Sonnenlicht? Das konnte ich ändern. Anders als das konzentrierte Sonnenlicht für den Bombenbeutel oder die Aura, die ich um Jade gelegt hatte, beherrsche ich meinen patentierten Zauber, mit dem ich einfach Tageslicht auf die Szenerie lege, inzwischen vollkommen im Schlaf. Mit einem kurzen Gedanken rief ich die Magie herauf, und es wurde taghell im Raum. Salvador Ultimo fauchte auf, entweder erbost oder vor Schmerz, und auch von der Eingangstür kamen wütende Zischlaute. Dort hatten ein ganz offensichtlich untoter Alligator und ein ebenso offensichtlich ganz frisch erschaffener Jungvampir des Typs Fastfood-Bauch und Baseballkappe wohl gerade hereinstürmen wollen, trauten sich jetzt aber nicht mehr ins Licht. Alex packte sein mit Weihwasser gefülltes Super Soaker-Gewehr fester und stellte sich den beiden Gegnern an der Tür in den Weg, während Roberto mit seinem eigenen Spritzgewehr den Meistervampir durchnässte und eine provokante Beleidigung nach der anderen auf ihn abfeuerte. Als Edward dann auf Salvador Ultimo losging und mit seinem magischen Handschuh nach ihm schlug, brachte er dem Schwarzvampir eine so hässliche Wunde bei, dass der eigentlich schon im Begriff war, umzudrehen und den Rückzug anzutreten, aber nun kam Totilas ins Spiel, der lockend den Beutel mit der präparierten Erde vor der Nase des Black Courts herumschwenkte. Dem Zwang, seine Heimaterde in die Hände zu bekommen, konnte der Schwarzvampir nicht widerstehen, und so schnappte er danach.
Der Beutel explodierte Salvador Ultimo ins Gesicht, und der Vampir wurde zurückgeschleudert – und es war ihm anzusehen, dass ihn die Bombe tatsächlich richtig schwer verletzt hatte.
Bevor er sich aufrappeln konnte, war ich bei ihm und köpfte ihn.
Okay, okay, okay. Vorher rief ich auch noch etwas. „Juan Ramos Alcazar, es ist mir egal, ob du mein Vorfahr bist oder nicht, in meiner Stadt wirst du kein Unheil mehr anrichten!“
Santisima madre, jetzt wo ich das aufschreibe, klingt es fürchterlich kitschig, kitschiger als alles, was ich Eric Albarn je sagen lassen würde. Aber vermutlich hatte mir die mögliche Verwandtschaft zu dem alten Monster unterbewusst doch mehr zugesetzt, als ich mir das selbst hatte eingestehen wollen, also möge man es mir nachsehen, Römer und Patrioten.
Jedenfalls wirkte der Black Court für einen Augenblick beinahe ungläubig-verwirrt, dann zerfiel er zu Staub, und im selben Moment brachen vor der Tür auch der untote Alligator und der Nachwuchvampir zusammen. Von dem Staub nahm Edward etwas mit – zu Analysezwecken, wie er sagte.
Totilas war ja als einziger von uns verwundet, und so wollten wir uns natürlich um ihn kümmern, aber als wir uns ihm näherten, winkte er heftig ab und scheuchte uns zurück. Seine Augen waren seltsam – sie flackerten zwischen seinem üblichen Grau und dem Silberton seiner White Court-Seite hin und her, ganz so, als führe er mit seinem Dämon einen Kampf um die Kontrolle über seinen Körper… oder zumindest, als führe er mit seinem Dämon eine hitzige Diskussion.
Ja, da war es wohl tatsächlich besser, dass wir uns fernhielten, auch wenn Totilas dann einige Mühe hatte, die Wunde in seiner Seite selbst irgendwie mehr schlecht als recht zu verbinden.
Als unser White Court-Kumpel sich dann endlich wieder soweit im Griff hatte, dass wir gefahrlos gemeinsam zurück in die Stadt fahren konnten, kamen wir natürlich ins Sinnieren. War diese ganze Sache mit Salvador Ultimo jetzt nur ein Ablenkungsmanöver von Adlene gewesen, oder war hatte das gesollt? Höchstvermutlich schon, waren wir uns einig, denn irgendetwas hatte Adlene mit der Erweckung des Schwarzvampirs ja bezweckt.
Aber wo wir schon über Adlene redeten, was ist eigentlich mit dem? Von dem haben wir schon verdächtig lange nichts mehr gehört.
Und apropos Adlene, und apropos Adlene und Jak, wo hatte Sarkos eigentlich den Dolch her, um Orkus zu töten?
Wir müssen dringend noch einmal mit Sarkos reden. Am besten gleich noch heute Abend. So spät ist es ja tatsächlich noch nicht.
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18. November
Wir trafen uns wieder in derselben Pizzeria wie beim letzten Mal. Als wir ankamen, las der Schwarzvampir gerade die Theaterseiten der New York Times, und so ergab sich zwischen ihm und mir ein kurzes und reserviertes, aber durchaus höfliches Geplänkel über Broadway-Stücke und die Theaterszene in New York und Miami sowie die besondere Stimmung am Broadway und dass Sarkos unbedingt Hamilton sehen wolle.
Dann kamen wir zum Thema und fragten nach dem Dolch, und Sarkos erzählte ganz offen, dass er den von Jak bekommen habe. Auf unsere nachfolgende Frage nach dem Warum gab Sarkos zur Antwort: „Er sucht wohl Verbündete.“
„Und bist du einer?“, fragte Roberto.
„Ich bin sicher, Jak denkt das."
„Aber bist du?“
„Er ist ein Outsider“, schoss Sarkos in angewidertem Tonfall zurück.
Hier schaltete Totilas sich ein. „Das sagt alles und nichts. Gib mir die konkrete Aussage, dass du kein Verbündeter Jaks bist.“
„Das werde ich nicht tun. Zu diesem Thema habe ich alles gesagt, was zu sagen ist.“
„Weil du es nicht kannst“, erwiderte Totilas anklagend, „weil du eben doch mit den Outsidern arbeitest, habe ich recht? Wenn du es nicht ausdrücklich verneinst, dann müssen wir davon ausgehen, dass du mit den Outsidern gemeinsame Sache machst. Also sag es uns explizit.“
Sarkos‘ Stimme blieb höflich, wurde aber mit einem Mal eiskalt. „Willst du mir etwa drohen, kleiner White Court?“
Ich versuchte, vermittelnd einzugreifen, dass Totilas das sicherlich nicht als Drohung gemeint hätte, aber Sarkos war schon aufgestanden.
„Ich unterhalte mich gerne wieder einmal über Kultur, aber grillen lasse ich mich nicht“, sagte er kühl und ging.
Seufz.
Als wir wieder unter uns waren, schlug Edward vor, dass wir aufhören sollten, Jak bei diesem Namen zu nennen, um ihm nicht unnötig Macht zu geben. Denn vielleicht könne er es ja doch spüren, wenn man von ihm rede, und vielleicht könne er uns ja dann sogar belauschen, Wenn wir einen anderen Namen wählen, meinte Edward, dann machen wir ihn vielleicht nicht jedesmal darauf aufmerksam, dass wir über ihn reden, oder sogar, was wir über ihn reden.
Dass er uns belauschen kann, ist vielleicht ein wenig arg paranoid, aber wie heißt es so schön: Dass du paranoid bist, heißt nicht, dass sie nicht hinter dir her sind, und außerdem haben Namen ja wirklich eine gewisse Macht, und er hat diese Bezeichnung vermutlich nicht völlig ohne Grund gewählt. Schaden kann eine neue Bezeichnung also auf keinen Fall.
Roberto schlug ‚Es‘ vor, „nach dem Film um den Clown mit den Ballons“ („Roman!“, korrigierte ich), aber Edward kannte weder Roman noch Film, also gab ich ihm erst einmal einen kurzen Abriss der Prämisse und schlug dann vor, statt ‚Es‘ doch vielleicht lieber ‚Pennywise‘ zu nehmen, wie sich der Clown im Buch ja nennt. Die Idee fanden die anderen gut, also nennen wir den Outsider mit den Ballons ab jetzt ‚Pennywise‘.
Bevor wir uns trennten, machten wir mit den übrigen Guardians wieder ein Treffen für den nächsten Tag – also heute – aus. Da muss ich auch gleich los, aber ich wollte das hier erst noch loswerden.
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Nach dem Treffen – wieder mal
Bei der Versammlung gaben wir natürlich ein Update in Sachen Salvador Ultimo, aber ansonsten ging es vor allem um das Problem mit Odin.
Ángel berichtete, dass die Orunmila sich voll hinter Eleggua stellen (was keine Überraschung ist) und für einen offenen Konflikt oder gar Krieg planen. Und das hätte es zwar vielleicht nicht sein sollen, aber das Ausmaß dieser Vorbereitungen war tatsächlich schon eine Überraschung für mich.
Cicerón hatte etwas Ähnliches zu sagen. Er schickte Dee kurz hinaus, sie solle sich doch mal bitte die Nase pudern, und meinte dann, er habe Waffen für den Konflikt besorgt. „Nichts für ungut, Cardo.“
So ganz konnte ich den Frust nicht aus meiner Stimme heraushalten, als ich antwortete: „Schon okay, ich will ja auch nicht auf Odins Seite gezwungen werden, nur weil der jetzt wegen der Einherjer Pan unter seiner Fuchtel hat.“
Am Allerbesten wäre es natürlich, überlegten wir, wenn Pan sich komplett von Odin lossagen und die Einherjer wegschicken würde. Dann wäre zwar der Palast ungeschützt, aber Sir Aidan und Sir Fingal haben ihre Sühnequesten ja inzwischen beendet (oder genauer gesagt, Sir Aidan ist bereits geläutert zurück, Sir Fingal ist noch unterwegs), und vielleicht haben sie ja an den anderen Sommerhöfen genügend gut Wetter für Pan gemacht, dass doch wieder Sidhe-Ritter von anderen Höfen zurück nach Miami kommen wollen und wir die Einherjer ersetzen können?
Daraufhin schlug jemand, ich weiß gar nicht mehr genau, wer eigentlich, vor, dass wir doch vielleicht Titania involvieren könnten. Immerhin sei sie die Königin des Sommers und damit Pans ‚Chefin‘ – vielleicht könne sie etwas bei ihm ausrichten?
Das war eine ganz ausgezeichnete Idee, aber Alex hatte völlig recht, als er meinte, dass ich zu dieser Audienz vermutlich besser nicht mitgehen sollte, weil Pan ja doch trotz allem mein Herzog ist und ich die Etikette wahren und nicht so offen an ihm vorbei agieren sollte. Also einigten wir uns darauf, dass Alex und Roberto den Besuch bei der Sommerkönigin antreten werden.
Totilas und ich werden in der Zeit seine Großmutter am Coral Castle aufsuchen. Vielleicht hat sie eine Ahnung, was Joseph Adlene gerade im Schilde führt und mit seinem Salvador Ultimo-Ablenkungsmanöver verschleiern wollte.
Und Edward will sich mal bei unserer Bekannten Vanessa Gruber aus dem Magierrat melden.
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Tío. Ich hatte völlig vergessen, was für eine schreckliche Nervensäge Camerone Raith sein kann! Ich meine, nein, natürlich hatte ich es nicht wirklich vergessen. Sie war schon zu Lebzeiten der Inbegriff einer intriganten Weißvampirin, und als Geist hat sich das in keinster Weise geändert. Aber trotzdem. Tío, ist die anstrengend!
Als wir ankamen, Totilas mit den Lieblingsblumen seiner Großmutter als Geschenk im Arm, und zwar im Topf, nicht als Schnittblumen, bemerkten wir gleich auf den ersten Blick, dass Camerone wirkte wie die sprichwörtliche Katze, die den Kanarienvogel gefressen hat. Oder vielleicht auch den Sahnetopf ausgeschleckt hat, egal.
„Aaaah, Totilas, mein Lieblingsenkel!“, begrüßte sie uns in ihrem üblichen zuckersüß-boshaften Ton.
„Hallo Camerone“, erwiderte Totilas. „Geht es dir gut?“
„So gut es einem gehen kann, wenn man von einem Krokodil gefressen wurde.“
„Du siehst zufrieden aus“, sagte Totilas.
Camerone zeigte ein im selben Maße triumphierendes wie maliziöses Lächeln. „Ja. Willst du wissen, warum?“
„Willst du es mir erzählen?“
Camerones Lächeln wurde wenn möglich noch etwas boshafter. „Aaaah, Frage und Gegenfrage, wie habe ich das vermisst.“
Daraufhin erwiderte Totilas sehr höflich und formell: „Es würde mich sehr freuen, wenn du es mit uns teilen würdest.“
Seine Großmutter lachte hell auf. „Du bist zwar mein Lieblingsenkel, aber wenn es dir Freude macht, dann will ich es nicht. Und überhaupt, es wäre so schön, wenn ihr mich ein einziges Mal einfach mal nur besuchen kommen würdet, ohne dass ihr irgendwas wollt.
Mierda. Das lief überhaupt nicht gut. Totilas schien gerade schon protestieren zu wollen, aber das würde Camerone vermutlich nur noch sturer machen, deswegen schaltete ich mich ein:
„Okay, weißt du was? Jetzt sind wir hier und besuchen dich einfach mal nur und reden, und dann gehen wir wieder, ohne dass wir was gewollt haben, und dann kommen wir morgen mit unserem Anliegen wieder.“
Camerone blinzelte. „Das… ist akzeptabel“, sagte sie dann, und zu Totilas gewandt: „Nimm dir ein Beispiel an deinem Schriftsteller-Freund.“ Leise – aber nicht so leise, dass ich es nicht gehört hätte – fügte sie hinzu: „Den hast du schon gehabt, oder?“
Tío. Während Totilas überlegen lächelte, Marke: „der Gentleman genießt und schweigt“, versuchte ich, ein Pokerface beizubehalten und einfach gar nicht zu reagieren.
Den Rest des Besuchs verbrachten wir tatsächlich mit Smalltalk. Auf Camerones Aufforderung hin erzählte ich eine Geschichte, während Totilas von der Familie berichtete und die Fragen seiner Großmutter beantwortete. Auch der nicht enden wollende Bau an Raith Manor kam zur Sprache, woraufhin Camerone die Augen verengte und dann sagte: „Ich gebe dir einen ernsthaften Rat, weil du mir Blumen gebracht hast und mein Lieblingsenkel bist und Zeit mit mir verbringst: Finde heraus, wer die Baustelle sabotiert, denn wenn du den- oder diejenigen nicht findest, dann werden sie eskalieren.“
Und mit diesen Worten verabschiedete sie sich.
Bereits während des Gesprächs hatten wir immer wieder bemerkt, dass irgendetwas los sein musste. Mehrfach tauchten Geister bei Camerone auf und gestikulierten bzw. sprachen so, dass wir Lebenden sie nicht verstehen konnten, aber die tote White Court-Vampirin hatte sie immer fortgeschickt.
Nun, als wir gerade im Gehen begriffen waren, sahen wir noch, wie Camerone sich abrupt umdrehte und in herrischem Ton rief: „Jetzt mal Ruhe hier!!!“, bevor sie durchsichtig wurde und verschwand.
Sehr spannend. Was das wohl gewesen sein mochte? Vielleicht finden wir das ja morgen heraus. Aber jetzt erst mal wieder mit den anderen treffen.
Timberwere:
Madre de Dios. Nein, ¡hijo de puta! ¡Puta mierda! Das schlimmste Schimpfwort, das mir nur einfällt!
Darauf reicht ein Schnaps nicht. Auch zwei nicht.
Aber der Reihe nach.
Als wir uns wieder trafen, berichtete Edward, dass er Vanessa Gruber in Dänemark erreicht habe. (Und nebenbei hat er ein neues Ritual gelernt, eine Kommunikation mit Spiegeln, die die für Magier ja extrem unzuverlässigen bis unbenutzbaren Handys ersetzt.)
Jedenfalls habe Edward bei unserer österreichischen Bekannten kurz erwähnt, dass Ragnarök komme („aber das haben wir unter Kontrolle“), sich dann aber vor allem auf die Frage nach dem Vorgehen gegen Outsider konzentriert. Vanessa schlug wohl kurz den Warden von Chicago vor, was Edward aber angesichts des unschönen Telefonkontaktes zwischen den beiden als „Uh, nicht so gut“ ablehnte, dann den Warden von Miami, bei dem Edward aber auch ausweichend mit einem „Uh, mit dem kann ich auch nicht so gut“ antwortete. Gefragt, woran das liege, rückte er nicht mit der ganzen mit-den-Outsidern-im-Bunde-Sache heraus, weil wir dafür nicht ausreichend Beweise haben, sondern zog sich auf die Geschichte mit dem Schutzgeld den Steuern zurück.
In diesem Zusammenhang empfahl Vanessa dringend, die Steuern zu zahlen, bis diese Sache grundsätzlich vor dem Rat geklärt sei. Eventuell würde Edward die gezahlten Beträge dann zurückerhalten, aber bis dahin solle er auf jeden Fall zahlen und keine eintreibbaren Schulden anhäufen, das könne unangenehm werden.
Was die Outsider angeht, will sie sich wohl umhören, ob sich jemand mit dem Thema besonders gut auskennt, und sich dann wieder melden.
Alex, Roberto und Yolanda in ihrer Rolle als Richterin des Sommerhofes waren indessen bei Königin Titania.
Als Ausgangspunkt für ihren Weg wählten sie Pans Palast, weil sich dort ein sehr guter Verbindungspunkt befindet, bei dem man sehr nah an Titanias Residenz herauskommt. Dabei fiel ihnen auf, dass in Pans Palast inzwischen richtig viele Einherjer aufgetaucht sind. Die zwölf aus Heorot, die ich damals geholt habe, natürlich, und von der Verstärkung durch die Berserker wussten wir ja auch schon, aber inzwischen sind da laut Roberto und Alex richtige Hundertschaften, die heftig exerzieren und sich offenbar auf einen echten Krieg vorbereiten. Außerdem hätten sie Alex, dem man seine Verbindung zu Eleggua ja auch an der Nasenspitze ansieht, wenn man weiß, wo und wie man schauen muss, richtig finster angestarrt und mehrfach feindselig angerempelt. Mierda.
In ihrer eigenen Domäne jedenfalls war Königin Titania höchst erbost über die Störung durch Roberto, den sie ja noch immer für einen Verräter hält (nicht ganz zu Unrecht, muss ich aus meiner sommermantelgefärbten Sicht sagen). Beinahe hätte sie einen Blitz auf ihn abgeschossen, aber Roberto konnte sie gerade noch rechtzeitig soweit beruhigen, dass sie ihm wenigstens zuhörte und sein Gastgeschenk in Form eines Obstkorbs annahm.
Roberto schilderte die Situation mit Pan und Odin, und Königin Titania war überhaupt nicht amüsiert. Von den Einherjer aus Heorot hatte sie natürlich gewusst, das ging gar nicht anders, aber das waren keine Einherjer im klassischen Sinne, und es waren nur zwölf, und es war eine Notsituation, um gegen Winter bestehen zu können, und sie hatten auch das Sommergefüge nicht durcheinander gebracht. Die direkte Verbrüderung mit Odin jedoch war mehr als problematisch, denn Odin als nordische Gottheit ist ja eher mit dem Winter verbunden und somit Anathema zu Sommer.
Sie beauftragte Roberto, Pan vor die Wahl zu stellen: Sommer oder Odin. Denn Pan ist ja selbst keine Fee, sondern eine Gottheit, auch wenn er sich mit dem Niedergang des hellenistischen Pantheons den Sommerfeen angeschlossen hat, und so könnte er sich vom Sommer lösen, wenn er das wollte. Und wenn er sich für Odin und gegen den Sommer entscheide, dann – und das zitierte Roberto wortwörtlich: „dann muss der Sommerritter als Regent die Geschäfte führen, bis ein neuer Herzog gefunden ist.“
Puta mierda. Auf diese Aussage brauchte ich erst einmal einen Schnaps, den ich in einem Schluck herunterkippte, und dann gleich noch einen zweiten, den ich langsamer trank. ¡Tío! Die Vorstellung, Sommerherzog zu werden, auch wenn es nur vorübergehend wäre, musste ich erst einmal verdauen. Ich bin keine Fee, verdammt! Ich wollte ja noch nicht mal Sommerritter werden, auch wenn ich mich mit dem Sommermantel inzwischen ja abgefunden und sogar angefreundet habe. Aber Herzog??? Was würde das mit meiner Menschlichkeit, mit meinem Menschsein anstellen, wenn nicht sofort, dann über kurz oder lang? Padre en el cielo, ayudame.
Aber es hilft ja alles nichts. Königin Titanias Botschaft muss überbracht werden, und zwar wie befohlen von Roberto. Ich als Pans Ritter hingegen sollte mich tunlichst heraushalten, wenn Roberto die Nachricht überbringt, sonst spannt Pan mich noch für seine Seite ein. Deswegen werde ich mit den anderen draußen warten, während Roberto und Yolanda reingehen.
Bitte, bitte, Herr im Himmel, lass Pan vernünftig sein und sich von Odin lossagen!
Aber ich muss aufhören, wir wollen los
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19. November
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Das fühlt sich alles so… so unbegreiflich an, im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich fange einfach mal an, vielleicht hilft mir das, meine Gedanken zu ordnen.
Als wir beim Palast ankamen, konnten wir den Aufmarsch von Odins Truppen und deren feindseliges Verhalten gegenüber Alex mit eigenen Augen beobachten. Wenn überhaupt, war das Treiben eher sogar noch martialischer, als die anderen es zuvor beschrieben hatten.
Es war mir sehr wichtig, mit Sir Anders zu sprechen, bevor Roberto und Yolanda Pan aufsuchten, damit ich ihn vorwarnen konnte, dass da vielleicht ein Konflikt kommen könnte. Eigentlich wollte ich auch gerne mit Halfðan reden, aber den konnte ich in dem Getümmel nicht ausmachen. Sir Anders hingegen fand ich am Strand, wo der Sidhe-Ritter mit abwesender Miene im Sand saß, auf das Meer hinausstarrte und dabei sein Schwert wetzte.
Mir war schon klar gewesen, dass Sir Anders nicht offen gegen Pan würde reden können, immerhin war das sein Herzog. Aber subtil und vorsichtig, in allgemein gehaltenen Formulierungen und durch die Blume gesprochen, wurde doch sehr schnell klar, dass ihm die neuen Einherjer und Pans Allianz mit Odin gar nicht passten und dass die Loyalität zum Sommerhof bei ihm über der zu der Person Pans stand. Genau dieselbe Formulierung, „Und auch ich diene Sommer“, gab ich ihm zurück und ließ ihn damit wissen, dass es bei mir ganz genauso bestellt war.
Als Roberto und Yolanda sich dann in das Palastinnere aufmachten, bereitete Alex ein Tor vor, durch das wir abhauen könnten, falls nötig, während Edward und Totilas mit ihnen gingen, um vor der Tür Wache zu stehen und dafür zu sorgen, dass sie nicht gestört werden würden.
Während wir da zusammen am Strand standen, erzählte Sir Anders noch, dass vor einigen Tagen eine Sidhe-Ritterin, Sir Liane, kurz hier gewesen sei, weil Sir Fingal auf seiner Bußequeste wohl Werbung für Pans Hof gemacht hatte, die Ritterin angesichts der vielen Einherjer aber sehr schnell wieder verschwunden sei.
Interessant, dachte ich noch bei mir, da muss ich doch gleich mal fragen, von welchem Hof diese Sir Liane kam; vielleicht lässt sie sich ja doch überzeugen, zurückzukommen, sobald die Einherjer weg sind.
Eben wollte ich den Mund auftun und die Frage stellen, da dröhnte plötzlich die Stimme des Herzogs unnatürlich laut über das ganze Gelände: „Ich bin Pan! Niemand stellt mich vor eine Wahl, und schon gar nicht so eine kleine Fee!“ Und dann, wenn das überhaupt möglich war, noch lauter und donnernder: „Ich! Wähle! ODIN!“
Bei diesen Worten erzitterte der gesamte Palast in seinen Grundfesten wie unter einem heftigen Erdbeben, und ich wusste, dass dieser Ausbruch eigentlich im ursprünglichsten Sinne des Wortes heillose Panik in mir hervorrufen wollte. Doch in diesem Moment überkam mich ein völlig überwältigendes Gefühl, der jeglichen Gedanken an panische Flucht davonfegte.
Es war wie ein sonnengoldener Strom, der in mich hineinfloss, so dass ich beinahe davon weggerissen worden wäre. Das war die gesamte Sommermagie Pans, die da auf mich überging, was ich aber erst später so richtig begriff. Nur am Rande war mir bewusst, dass ich zu leuchten begonnen hatte und dass Blumen zu meinen Füßen sprossen, und dass es immer und immer und immer mehr wurde, weil Pan offenbar jetzt aktiv den Sommer aus seinem Palast vertrieb und alle, wirklich alle Sommermagie, die in Pan und im Palast gebunden gewesen war, nun in mir Zuflucht suchte.
Aber nicht nur alle Sommermagie floss aus dem Palast. Auch alle gestalterischen Elemente, die explizit für den Sommerhof der Feen gestanden hatten, verschwanden nun. Stattdessen nahm der Palast ein noch deutlich griechischeres Aussehen an, als er das zuvor immer schon gehabt hatte, und von drinnen waren das meckernde Gelächter der Satyre und die stramm-martialischen Rufe der Einherjer deutlich zu hören.
Über Sir Anders‘ Gesicht flog ein Ausdruck unendlicher Erleichterung. Ohne jegliches Zögern ging er auf ein Knie nieder und fragte in zackigem Tonfall: „Eure Befehle?“
Kurz überkam mich der Impuls, die griechische Gottheit gleich direkt hier und jetzt anzugehen und zu verhindern, dass er unsere Bastion des Sommers einfach so übernahm. Aber gleichzeitig spürte ich, dass ich schlicht nicht dagegenhalten konnte, nicht einmal mit all dieser neuen Macht des Sommers in mir. Zu neu, zu ungewohnt, zu überwältigend war sie – wenn ich das jetzt versuchte, dann würde Pan mir das Gehirn herausblasen, soviel stand fest.
Daher wandte ich mich an Sir Anders und kommandierte: „Sammelt alle, die dem Sommer treu sind! Treffpunkt bei Alex!“
Yolanda hatte dem Ausbruch des vormaligen Sommerherzogs nicht standhalten können und war bei dessen Geschrei wortwörtlich panisch aus dem Palast gerannt gekommen. Jetzt stellte ich mich meiner Schwester in den Weg und konnte sie tatsächlich einigermaßen beruhigen, während Edward und Totilas gerade Roberto aus dem Palast halfen.
Das wusste ich in dem Moment zwar noch nicht, aber später erzählten die beiden, dass Roberto das Panik-auslösende Gebrüll zwar eigentlich recht gut weggesteckt hatte und nicht weggerannt war, dann aber einen Spruch von sich gab von wegen: „Ich bin doch nur der Bote…“, und das wiederum war bei Pan gar nicht gut angekommen. Die bocksbeinige Gottheit schleuderte Roberto quer durch den Raum und mit vollem Karacho gegen eine Wand, wo unser Kumpel zu Boden ging und Edward und Totilas ihm erst einmal auf- und dann eben ins Freie halfen.
Auf dem Weg zu Alex kamen wir an einem Trupp Einherjer vorbei, darunter auch Halfðan. Sie ließen uns gehen, ohne sich uns in den Weg zu stellen, und ich konnte sehen, dass Halfðan eine bedauernde Miene zeigte und so wirkte, als wollte er etwas sagen, aber dann waren wir auch schon vorbei, und er seufzte nur und hob ganz leicht die Hand in meine Richtung.
Sir Anders brachte einige wenige treue Gefolgsleute mit zu dem Tor, das Alex inzwischen geöffnet hatte. Inmitten der wenigen Handvoll Personen war natürlich Sir Aidan, aber auch Saltanda – die Nymphe hatte offenbar mitbekommen, dass Roberto Pan verließ, und wollte selbst wiederum Roberto nicht verlassen. Oder so kam es mir jedenfalls vor. Saltandas und Robertos Tochter Lily war natürlich ebenfalls dabei, und ein wenig überraschend, aber sehr zu meiner Freude, schloss Sindri sich ebenfalls an. Edwina Ricarda hätten wir eigentlich auch gerne mitgenommen, aber die blieb als Pans Tochter verständlicherweise bei ihrem Vater.
Ein Schritt durch das Tor, und wir befanden uns anderswo im Nevernever, wo wir – oder zumindest ich – noch nie gewesen waren. Ich habe die leise Vermutung, dass die Wahl des Ortes nicht ganz unwesentlich von mir, bzw. dem Zusammenspiel aus der Sommermacht in mir und meiner Persönlichkeit mitbestimmt wurde, denn es war ebenfalls ein Strand, aber einer, der irgendwie sehr südamerikanisch wirkte… kubanisch vielleicht? Aber idealisiert kubanisch? Anders kann ich es nicht beschreiben.
Hier jedenfalls entlud sich die Sommermacht, die ich aus Pans Palast mitgebracht hatte, in die, und auch das kann ich wieder nicht anders beschreiben, Erschaffung einer neuen Domäne für den Sommerhof von Miami. Während die Magie in einem starken, stetigen Strom aus mir herausfloss, bildete sich vor unseren Augen ein Palast, der sehr stark an die Casita aus dem Disney-Film Encanto erinnerte, bunt und sommerlich, und ich hatte das Gefühl, dass es auch sehr lebendig war, sich bewegen konnte und zumindest teilweise über eine eigene Persönlichkeit verfügte. Wie im Film eben. Oder war das vielleicht nur der Überschuss an Magie, der aus mir herauskam und in diesem Moment ein Ventil suchte?
So oder so fühlte ich mich unendlich erleichtert, als ich diese überwältigende Macht nicht mehr in mir spürte und das Leuchten aufhörte, auch wenn ich merkte, dass mehr Magie zurückblieb, als ich zuvor in mir gehabt hatte. Als der Magiestrom endete, wurden mir die Knie schwach, und ich wäre im Sand zusammengesackt, wenn Casita mir nicht rechtzeitig einen Strandsessel untergeschoben hätte. Da saß ich erst einmal und kam allmählich wieder zu mir, während die anderen um mich herum neugierig ihre Umgebung begutachteten.
Ich hatte gerade einigermaßen realisiert, was da soeben eigentlich geschehen war, und wie ich so in meinem Sessel saß, allmählich wieder zu Atem kam und über das Meer schaute, bemerkte ich einen Regenbogen am Horizont.
Oder genauer, zuerst bemerkte ich den Regenbogen am Horizont, dann fiel mir auf, dass etwas seltsam daran war, und dann erkannte ich, dass dieser Regenbogen auf uns zukam. Und dann, dass es eigentlich eine Brücke war. Bifrøst, die Regenbogenbrücke. Und dann wiederum eine Gestalt, die auf dieser Brücke auf uns zukam. Heimdall. Er trat von dem regenbogenfarbigen Leuchten zu uns auf den Strand und sagte in drängendem Tonfall:
„Wir müssen reden!“
sindar:
Ach du grasgrüner Käse. Das liest sich ja nach richtig üblem Salat. Zumal ich durchaus davon ausgehe, daß Pan da die falsche Wahl getroffen hat - nach dem Wenigen, das ich über ihn (Pan) weiß, sollte der mit der eher kalten Art Odins langfristig seine Probleme bekommen. Oder versucht Heimdall gerade, das Kuddelmuddel irgendwie zu bereinigen?
Mit so einer Entwicklung hätte ich im Traum nicht gerechnet (Ricardo ja wohl auch nicht, oder?).
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