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[Dresden Files] Miami Files - Die Ritter von Miami (a.k.a. "Die schönen Männer")

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Timberwere:
Immer noch 20. November, früher Abend, im Dora‘s

Jahaa. Y una leche. Das Ritual, um Baldur zu finden, wird nicht so einfach, wie Haley sich das vorgestellt hat. Denn um jemanden per Ritual ausfindig zu machen, braucht es ja etwas von der Person, und das haben wir nicht. Tatsächlich haben wir sogar überhaupt nur sehr vage Informationen, von einem persönlichen Gegenstand ganz zu schweigen. Aber was für eine nordische Gottheit spielend einfach klingt, ist es für unsereins eben noch lange nicht.

Jedenfalls, wenn dieses Ritual jemand von uns durchführt, dann wäre es mir lieber, ich steuere nur Sommermagie dazu bei, halte aber nicht selbst die Fäden in der Hand, denn die Energie, deren reiner Überfluss sich immer noch ziemlich überwältigend anfühlt, in das Ritual zu kanalisieren, dürfte schon anstrengend genug werden, da muss ich mich nicht auch noch auf ein komplexes Ritual konzentrieren. Und von den anderen am besten Roberto, nicht Edward, weil Edward sich zwar auf Rituale spezialisiert hat, aber Roberto sich besser mit Divinationsmagie auskennt, also der Kunst, Dinge in Erfahrung zu bringen.

Um uns der Sache anzunähern und um abzuschätzen, ob ein solches Ritual überhaupt von Erfolg gekrönt sein könnte, trugen wir erst einmal zusammen, was wir denn überhaupt über Baldur wussten, also neben der Geschichte um seinen Tod. Die Hauptinformation: Baldur ist der Ase der Reinheit, der Sonne und der prophetischen Träume, und was den Bereich ‚Sonne‘ betraf, konnte ich, weil Sonne und Sommer ja ziemlich deutlich zusammengehören, ein paar Vorschläge machen, wie man diese Eigenschaft Baldurs in das Ritual einbeziehen könnte.

Roberto hat ja seine Botanica und seinen Fokus auf wissensbasierte Magie, aber das war nicht genug, bei weitem nicht.

Aber dann kam mir noch ein Gedanke: Wenn Baldur doch auch der Ase der prophetischen Träume ist, wer fällt uns – okay, wer fällt mir – beim Thema Träume als erstes ein? Richtig. George.
Ich glaube, es ist Zeit für ein kleines Nickerchen.

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Abends.

Ich traf meinen Wyldfae-Freund in einem ziemlich wilden, actionfilmartigen Traum, in dem Eric Albarn und Tom Cruise in einer sommerlichen Umgebung (James Bonds Dr. No lässt grüßen) in eine wilde Verfolgungsjagd verstrickt waren und sonstige Agenten-Dinge taten. George beobachtete das Treiben von dem Sonnenschirm-beschatteten Tisch eines Straßencafés aus, und ich setzte mich kurzerhand zu ihm. Währenddessen wurde der Actionfilm um uns her noch etwas wilder, mit Gesichtstausch-Elementen à la Face Off, aber darum kümmerten wir uns nicht mehr groß. George machte nur eine Bemerkung zu den Abenteuergeschichten, die ich häufig träumen würde, und ich sagte, ich müsse ihn unbedingt mal mit ins Kino nehmen. Und dann musste ich erstmal erklären, was Kino überhaupt ist.

Und natürlich bemerkte auch der Wyldfae die neue, stärkere Sommermagie an mir, also erzählte ich auch ihm erst einmal, was geschehen war, bevor wir auf das Thema Baldur und prophetische Träume kamen. George schlug vor, dass wir doch selbst einen prophetischen Traum zu Baldur haben sollten, was eine ausgezeichnete Idee war, auf die wir eigentlich auch selbst hätten kommen können. Aber hey, so konnte ich wenigstens ein Kino-Date mit meinem Wyldfae-Kumpel ausmachen. Dann betrieben wir noch ein bisschen Smalltalk, wobei wir darauf achteten, dass wir beide dem jeweils anderen schön ausgewogen gleich viel erzählten, damit der Informationsfluss in beide Richtungen ging (Feen! Feen und ihre Abneigung dagegen, bei anderen in der Schuld zu stehen!), dann wurde ich wieder wach und gab Georges Vorschlag an die anderen weiter.

Für Hilfestellung beim Auslösen eines prophetischen Traumes fiel uns Byron ein. Immerhin hat der schon mehr als einmal eine Visionsreise für uns geleitet. Einen kurzen Anruf später waren wir auf dem Weg zum Sunny Places.

In der Kommune waren sie gerade dabei, ein großes Lagerfeuer aufzubauen. Eigentlich war es gar nicht kalt, aber irgendwie fühlte es sich dennoch so an. Also nicht für mich, so von Sommer erfüllt, wie ich gerade bin, aber die anderen erzählten hinterher, sie hätten durch aus so etwas gespürt. Metaphysische Kälte, gewissermaßen.

Klar, dass ich auch Byron erzählte, was in Sachen Pan und Sommerherzogswürde Sache war, bevor ich ihm unsere Überlegungen schilderte und ihn um seine Hilfe bat. White Eagle erklärte sich auch gleich bereit, uns bei dem prophetischen Traum zu unterstützen, meinte aber, zuerst müsse das Feuer entzündet werden, und ob ich das vielleicht übernehmen könne? Das wäre schneller und einfacher, weil Byron irgendwie das Gefühl hatte, als könnte sich das auf normalem Wege gerade etwas zäher gestalten als sonst.
Kein Problem, sagte ich, und ich war beim Hochrufen der Magie auch extra vorsichtig… dachte ich.

Jahaa. Y una leche. Egal, wie vorsichtig ich war, es machte dennoch vernehmlich whooosh, und der Scheiterhaufen stand lichterloh in Flammen. Während ich in jeder Zelle meines Wesens spüren konnte, wie das Feuer mich erfüllte, grinste Totilas, der in weiser Voraussicht ein Stück zurückgetreten war, ein hab-ich’s-doch-gesagt-Grinsen.

Im von Rauch erfüllten Schwitzzelt versenkten wir uns kurze Zeit später unter Byrons Anleitung in die uns bereits bekannte Trance, die uns hoffentlich einen prophetischen Traum bescheren würde.

Und tatsächlich hatten wir alle denselben Traum: Wir alle sahen die unterschiedlichsten Postkarten, darunter eine, die besonders herausstach. Das Motiv war offenbar Nepal, oder zumindest der Himalaya. Die Karte, deren Motiv sich bewegte und auf der halb durchsichtige Gestalten zu sehen waren, steckte in einem Stapel mit Fotos. Ja, dachte ich sogar im Traum, Haley hatte ja erzählt, dass Baldur gerne mal Postkarten verschickt… Und der Stapel mit Fotos, vielleicht die aus Lokis Ausstellung? Die hatten wir uns doch ohnehin ansehen wollen. Aber bei den Fotos waren doch gar keine Postkarten dabei!

Als ich mit diesem Gedanken aufwachte, gleichzeitig mit den anderen, brannte das Schwitzzelt. ¡Ay, mierda!

Beschämt fragte ich, nachdem die Flammen gelöscht waren, natürlich sofort, ob ich das doch sehr stark verkohlte Zelt irgendwie ersetzen könne, aber Byron, der ziemlich angefressen aussah, in seiner Wortwahl und Stimmlage aber so ruhig und höflich klang wie immer, erklärte, es sei seit Generationen in seiner Familie weitergegeben worden und bestünde aus Büffelhaut. „Also, wenn du auf die Büffeljagd gehen willst?“

Doppel-mierda. ¡Mierda y cólera!

„Oh Dios, es tut mir so unendlich leid, wirklich! Und wenn ich kann, ja, dann mache ich das! Aber nach der Ragnarök-Krise?“

Byron nickte. „Ja, lass erst einmal Ragnarök verhindert sein, dann sehen wir weiter.“

Gut. Also Lokis Fotos näher begutachten. Das geerbte Zelt und die Kiste mit den Fotos bewahre ich in einer Mini Storage Facility relativ nah unserer Wohnung auf, wo ich allen möglichen Kram untergebracht habe, zum Beispiel auch, was an Requisiten vom Eric Albarn-Film bei mir gelandet ist.

Da wir beschlossen hatten, dass Roberto sich Lokis Fotos mit dem Dritten Auge anschauen würde, blieben Totilas und Edward von vorneherein hinter unserem Santero-Freund zurück. Ich selbst ging anfangs mit in den Verschlag und kramte den Karton mit den Fotos heraus. Roberto nahm die Bilder an sich und bekam den Gesichtsausdruck, der mir sagte, dass er nicht mehr auf der physischen Ebene auf die Dinge blickte – und sofort zuckte Roberto zusammen. Als er mir dann sagte, dass ich in der Sight eine beinahe unerträglich helle und glühend heiße Aura hätte, ging ich natürlich auch hinaus und ließ ihn mit den Fotos allein.

Etwas später kam Roberto zu uns zurück. Er sagte, er habe in dem Bilderkarton tatsächlich einige Postkarten gefunden, die in der Sight leicht geleuchtet hätten. Und nein, es waren vorher tatsächlich nur Fotos in der Kiste gewesen, soweit ich das sagen konnte, also auf welchem magischen Weg auch immer diese Karten dort hineingelangt sein mochten. Jedenfalls war eine dieser Karten tatsächlich aus Nepal gewesen, mit dem Motiv derselben Berglandschaft, wie wir sie im Traum gesehen hatten, und den Mauern eines alten, vermutlich buddhistischen Klosters. Und während der Verfasser zwar nicht Loki gezielt ansprach und nicht mit ‚Baldur‘ unterzeichnet hatte, so war dem ‚lieber Onkel‘ und ‚dein Neffe‘ doch zu entnehmen, dass wir hier das Richtige in der Hand hielten. Der Text sprach von einem ‚neuen Projekt hier am Makalu‘, dem der Kartenschreiber sich nun eine Weile widmen wollte, und der Poststempel trug ein Datum von vor einigen Monaten.

Mit Glück ist Baldur also noch genau dort, in diesem Kloster, mit seinem Projekt beschäftigt.

Wir haben recherchiert, um welches Gemäuer es sich auf der Karte handelt. Der Berg, auf dem es liegt, ist der Makalu, der vierthöchste Berg Nepals und der fünfthöchste der Welt. Es war wirklich einmal ein buddhistisches Kloster, aber offiziell ist es seit Jahrhunderten verlassen. Also keinerlei Möglichkeit, jemanden zu erreichen, der sich dort gerade aufhält. Also zumindest nicht per Telefon, Internet, Telegramm oder dergleichen. Und das wiederum heißt: Auf nach Nepal!

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Nächster Morgen, 21. November

Ach, eines habe ich ja gestern Abend im Tran ganz vergessen zu erzählen. Irgendwann im Gespräch fiel uns plötzlich auf, dass Roberto ganz seltsame Augen hatte, die Pupillen vergrößert, flach und mit unregelmäßig gewellten Rändern, ein bisschen wie bei einer Lavalampe.

Bei uns klingelten natürlich sofort die Alarmglocken, auch und gerade angesichts all unserer schlechten Erfahrungen mit Beeinflussung und Besessenheit, vor allem, da es uns erst so vorkam, als wolle Roberto, darauf angesprochen, dem Thema ausweichen. Totilas war derjenige, der erkannte, dass es Augen waren wie bei einem Oktopus, und tatsächlich erzählte Roberto schließlich doch, dass er auf einem der bewegten Bilder in Lokis Sammlung einen Oktopus gesehen habe. Eigentlich sei das ein ganz normales Motiv von einem Segelschiff auf einem leicht bewegten Meer gewesen, auf dem irgendwo am Rand andeutungsweise ein Krake zu sehen gewesen sei, aber in der Sight sei dieser Krake auf Roberto zugeschwommen und habe ihn ganz aus der Nähe angeschaut – und Roberto habe ihn sich gründlich angeschaut, weil er – vor allem seine Augen – so faszinierend gewesen sei.

Es war klar, dass Totilas und Edward unseren Kumpel nun ebenfalls magisch untersuchten, ob diese Begegnung mit dem Kraken irgendwelche bleibenden Schäden oder unterschwelligen Beeinflussungen bei Roberto hinterlassen hatte. Dies war offenbar nicht der Fall – oder besser, eine leichte Beeinflussung war wohl doch zu merken, die aber hoffentlich recht bald verschwinden wird, wenn Roberto dem Bild nicht erneut ausgesetzt wird, was die Bindung vertiefen könnte.

Also war es ebenso klar, dass wir die Postkarte, die Roberto aus dem Lagerhaus mitgebracht hatte, wie er etwas zähneknirschend zugab, einkassierten. Auch hierbei zeigte unser Santeria-Freund sich etwas widerwillig, rückte das Bild mit der Krake dann aber doch heraus.

Als ich es an mich nahm, warf ich einen kurzen Blick auf dessen Motiv, und tatsächlich erschien es auch mir, als komme da etwas aus dem Hintergrund nach vorne in meine Richtung geschwommen – aber da hatte ich das Bild aber schon eingesteckt, ohne abzuwarten, bis die Krake größer wurde.

Und bevor ich nach Hause fuhr, verstaute ich die Postkarte wieder sicher in ihrem Karton im Lagerraum.

Und jetzt also auf nach Nepal!

Natürlich nicht sofort, nicht heute und vermutlich auch nicht morgen, je nachdem, wann es Flüge gibt, aber doch sobald wir können. Uns treibt alle ein Gefühl der Dringlichkeit um, dass es eben keine Minute zu verlieren gilt!

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Ich habe etwas recherchiert.

Und ich war etwas überrascht – ich hatte schon mit schrecklicher Kälte und unwirtlichen Temperaturen gerechnet, aber offenbar haben wir tatsächlich eine ganz gute Zeit erwischt, um den Himalaya zu besuchen.
Denn – ich muss einfach mal den sabihondo machen – in Nepal wird das Jahr nicht in vier, sondern in sechs Jahreszeiten aufgeteilt, und zwar in Frühling, Frühsommer, Sommermonsun, Frühherbst, Spätherbst und Winter. Die beste Reisezeit ist entweder Mitte März bis Mitte Mai, also im Frühling nach der Schneeschmelze, oder Mitte September bis Mitte November, sprich im Frühherbst. Für Mitte November sind wir zwar eine Woche zu spät dran, aber wir schaffen es hoffentlich trotzdem, bevor der erste Schneefall einsetzt.

Die Reisezeit beträgt insgesamt etwas über einen Tag: von Miami aus sind es 20 Stunden bis Kathmandu, mit einem Zwischenstop in Doha, und von Kathmandu aus geht es dann noch einmal mit einem Inlandsflug weiter. Die USD 35.000,--, die der Flug für uns alle kosten wird, kann ich mir zum Glück problemlos leisten. Und es gibt doch morgen schon einen Flug, auf dem noch fünf Plätze frei sind!

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Ich habe mit Lidia geredet. Verständlicherweise war sie nicht gerade  begeistert davon, dass ich so kurzfristig für mindestens mehrere Tage nach Südostasien reise und mich dabei möglicherweise in Gefahr begeben muss, Aber zum Glück hatte sie Verständnis.

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Die Jungs haben kein Problem damit, morgen schon zu fliegen. Alles klar. Tickets buchen jetzt.

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Die Guardians sind auch informiert – wir hatten eben ein Treffen.
Jetzt noch den Rest des Tages und des Abends mit Lidia und den Hijas auskosten, und morgen dann, ich wiederhole mich, aber: Auf nach Nepal!

Timberwere:
22. November, im Flugzeug.

Eigentlich gibt es gar nicht viel zu schreiben. Wir haben noch etwas über eine Stunde bis zu unserem Zwischenstopp in Doha. Die 13 Stunden Flug bis hierher waren ereignislos, das Essen in Ordnung, die Filmauswahl ebenfalls.

Roberto trägt übrigens die ganze Zeit seine Sonnenbrille und hat sie auch an Bord nicht abgelegt, damit man seine Krakenaugen nicht bemerkt. Ich hoffe wirklich, die normalisieren sich bald wieder.

Da der Flug in Miami abends gegen 21:00 Uhr abging, fühlte es sich, sobald das an Bord servierte Abendessen abgeräumt worden war, nach unserer inneren Uhr relativ bald wie Schlafenszeit an. Und da der komplett in die Waagerechte zu bringende Sitz in der Business Class tatsächlich gar nicht unbequem ist, habe ich fast acht Stunden lang geschlafen. Ich wachte erst auf, als das Licht heller wurde und der Duft nach frisch gewaschener Wäsche – oder was auch immer es ist, das sie da nutzen, ein ganz typischer Duft eben, mit dem vermutlich das Aufwachen unterstützt werden soll – durch die Kabine wehte, und ich fühle mich munter und ausgeruht. Dann gab es 'Frühstück', auch wenn es nach Ortszeit gerade schon Nachmittag ist, und danach habe ich ein paar Notizen für einen nächsten Roman gemacht. Ich spiele ja eigentlich schon seit einer Weile mit dem Gedanken, auch mal etwas außerhalb der Eric Albarn-Reihe zu schreiben; so in Richtung magischer Realismus im kubanischen Unabhängigkeitskrieg, aber mal sehen. Diese Notizen waren aber erst einmal wieder für Eric und Catherine. Vielleicht könnte es die ja auch mal ins Ausland verschlagen.

Wir befinden uns gerade über Ägypten. Diese beigefarbene Wüstenlandschaft durchzogen vom saftigen Grün des Nildeltas ist wunderschön.

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Zwischenstopp. Doha International Airport.

Okay, man kann hier ausgezeichnet essen, stelle ich fest. Und einkaufen, wenn einem danach ist. Ich hätte zwar nicht übel Lust, mich nach Mitbringseln für die Familie umzusehen, aber erstens will ich mich auf dem Hinweg damit nicht belasten, zweitens gibt es vielleicht auch in Nepal etwas Schönes, und falls nicht, ist hoffentlich bei der Zwischenlandung auf dem Rückweg auch noch Zeit. Oh, und die haben hier tatsächlich im Terminal-Gebäude einen richtigen, echten Wald. Ich bin fasziniert und irritiert gleichermaßen.

Wir haben eine Stunde Aufenthalt – nicht genug, um sich alles anzusehen, was es hier gibt, aber muss ja auch nicht. Ein bisschen herumschlendern reicht mir schon.

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23. November

Wir sind im Flieger nach Kathmandu. Eben wurden schon die ersten Getränke gebracht; bestimmt wird gleich auch schon wieder eine Mahlzeit serviert. Mein Zeitgefühl beginnt zu verschwimmen, vor allem, weil die Uhren ja immer sofort auf den Zielort eingestellt werden, sobald man an Bord geht, und laut Bordzeit deswegen 22:30 ist, drei Stunden weiter als in Katar. Ich glaube, nach dem Essen versuche ich, ein bisschen zu dösen, wenn nicht sogar zu schlafen, auch wenn es nach Miami-Zeit gerade erst Mittag wäre.

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24. November, früh morgens

Okay, das ist jetzt das komplette Kontrastprogramm zu dem glatten und geleckten Großraumflugzeug mit den Annehmlichkeiten der Business Class. Wir sitzen als einzige Ausländer in einer kleinen Propellermaschine mit sage und schreibe ganzen 30 Plätzen, umgeben von den unterschiedlichsten Leuten, und wenn ich das richtig sehe, ist im hinteren Teil der Maschine sogar ein abgeteilter Bereich für Tiere. Ich glaube, da sind Hühner und Ziegen, Himmel steh uns bei.

Der Flughafen von Kathmandu ist winzig und provinziell im Vergleich zu dem von Doha. Irgendwelche Mitbringsel kaufen werde ich auf dem Rückweg wohl nicht kaufen können – es gibt auf dem Flughafen von Kathmandu keinerlei Läden, soweit ich das sehen konnte, nur ein paar 'Tea and Confectionary Shops'. Ob ich da etwas finden werde, wage ich zu bezweifeln – überprüfen konnte ich es nicht, da wir nachts um 01:00 Uhr landeten und alles geschlossen hatte. Nachdem wir die Einreiseformalitäten hinter uns gebracht hatten, konnten wir also nicht viel tun, außer im Wartebereich auf unseren Anschlussflug zu warten. Die Sitze in der Wartehalle sind nicht mit denen in Doha zu vergleichen, aber immerhin ließen sie sich ausklappen, sodass wir doch zumindest etwas in der Art wie eine bequeme Position einnehmen konnten. An Dösen war nicht wirklich zu denken, da unsere inneren Uhren uns sagten, es sei Nachmittag, nicht Nacht, aber zumindest etwas ruhen konnten wir, bis um kurz nach 08:00 die kleine Propellermaschine abhob.

Und jetzt wie gesagt der etwas über halbstündige Flug ins Hinterland – ich höre jetzt auf zu schreiben und schaue lieber aus dem Fenster, die Aussicht auf das Gebirge ist nämlich traumhaft. Und ich fühle mich erstaunlich wach – mal sehen, wie lange das so bleibt.

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24. November, nachmittags

Ooookay. Das muss ich jetzt alles erst einmal verarbeiten. Wir haben nicht nur Baldur gefunden, sondern sind auch der Shinto-Gottheit Izanami begegnet, der japanischen Gottheit des Todes. Und wir haben jetzt zumindest eine Ahnung, wer diese anderen internationalen Gäste sind, Himmel steh uns bei. Die werden wir auch gleich suchen gehen, sobald ich das hier fertig aufgeschrieben habe.

Aber der Reihe nach.

Nachdem wir aus dem Flugzeug gestiegen waren und unser Gepäck in Empfang genommen hatten, verschwanden die anderen Mitreisenden in sagenhafter Geschwindigkeit um uns her, und wir – wie gesagt die einzigen Ausländer auf dem Flug – standen etwas verloren auf dem Flugfeld. Ein Taxi war weit und breit nicht zu sehen.

Da kam ein junge einheimischer Mann auf uns zu, der zwar kein Taxifahrer war, aber Englisch sprach und sich als Prasad vorstellte. Er bot sich uns als Führer an und auf unsere Frage erklärte, eigentlich gebe es hier auch ein Taxi, das sei aber gerade nicht da, das mache aber nichts, es sei ein kleiner Ort hier. Prasad war es auch, der uns den Weg zum einzigen 'Hotel'  im Ort (in Anführungszeichen, da klein und eher ein B&B als ein echtes Hotel) zeigte, wo wir Glück hatten, dass wir noch Zimmer bekamen. Es seien nämlich auch andere Touristen da, sagte der Wirt, deswegen sei fast alles belegt.

Andere Touristen? Ach ja? Interessant! Vor allem, als der Wirt weitererzählte, das seien wohl Wanderer, denn sie hätten so komische Stäbe dabei. Ach ja?!?

Instinktiv hatte ich den Verdacht, bei der Gruppe könnte es sich um Warden Hawkins und andere Magier aus England handeln, oder um unseren alten 'Freund' Ebenezer McCoy, aber dem war nicht so. Der Beschreibung nach klangen die Magier eher wie Südamerikaner, und auch nicht wie irgendwer, dem wir schon mal begegnet wären.

Da es ja noch früh am Vormittag war und wir alle uns ziemlich munter fühlten und unsere inneren Uhren ohnehin komplett durcheinander geraten sind, wollten wir am liebsten gleich in Richtung dieses Klosters aufbrechen. Den einzigen echten Bergführer im Ort hatten die südamerikanischen Magier engagiert, aber Prasad kannte jemand anderen, der zwar nicht lizensiert, aber auch sehr gut sei. Okay, sagten wir dann gerne der, nur zu.

Der junge Mann hieß Ram Agrawal und sprach nur sehr rudimentär Englisch, aber es klappte schon einigermaßen mit dem Verständigen. Jedenfalls erklärte er sich bereit, uns das Nötige an Ausrüstung zu stellen und uns zu diesem Kloster zu führen, das ungefähr fünf bis sechs Wegstunden entfernt sei, meinte er. Es gehe hoch in die Berge, und ob wir fit seien? Naja, Miami ist zwar jetzt nicht gerade ein Dorf in den Alpen, aber unsportlich sind wir ja alle nicht.
Zudem kannte Prasad auch eine alte Dame, die uns einen Esel für unsere Ausrüstung vermieten konnte, das würde den Aufstieg hoffentlich etwas erleichtern.

Nachdem wir also den Großteil unserer Sachen im Hotel abgeladen hatten, ging es los. Für November lag tatsächlich noch erstaunlich wenig Schnee, kaum eigentlich, nur ein ganz leichter Puderzucker, und es war längst nicht so kalt, wie man erwartet hätt (aber trotzdem kalt genug für meinen vom Sommerhof beeinflussten Geschmack – ich war sehr froh, dass ich vorgestern vor dem Abflug noch eine dicke Jacke und Hose, warme Socken und Outdoor-Stiefel gekauft hatte), und wir kamen gut voran. Beste Reisezeit eben.

Es war schon deutlich am Nachmittag, und laut Ram war es gar nicht mehr so weit bis zu dem Kloster, als uns plötzlich völlig unverhofft von einer Kippe, an der wir gerade vorbeigingen, mit einem donnernden Krachen und aufspritzenden Steinchen eine menschengroße Statue vor die Füße fiel. Der Esel wieherte auf, riss sich los und rannte davon, zurück in Richtung Tal, und auch Ram, der sich zuerst offenbar nur erschrocken zu haben schien, nahm schreiend Reißaus, als die Statue plötzlich anfing, sich zu bewegen.

Die Figur sah irgendwie südamerikanisch aus und wirkte sehr lebensecht, nicht so, als hätte ein Bildhauer ein Kunstwerk geschaffen, sondern als sei ein echter Mensch versteinert worden. Die Statue bewegte die Lippen und tastete suchend um sich her, sah aber nicht so aus, als könne sie aufstehen und herumlaufen oder sonst groß aktiv werden.

Edward mit seinem großen theoretischen Wissen um magische Dinge kam auf die Idee, dass man den Zustand der Versteinerung vielleicht mit einem kleinen Blutopfer wieder lösen könne, also gab ich mich dafür her und versetzte mir selbst einen leichten Schnitt in den Daumenballen, und nachdem einige Tropfen Blut auf dem Arm der Statue gelandet und sofort von dem Stein absorbiert worden waren, kam die Gestalt tatsächlich zu sich.

Zuerst sprach er eine Sprache, die keiner von uns verstand (Alt-Aztekisch vielleicht?), aber als wir ihn auf Englisch ansprachen, antwortete er auch auf Englisch.
Wir fragten nach Baldur und erfuhren, dass der sich tatsächlich mit einer Frau namens Iza-irgendwas oben im Kloster befinde. Seinen eigenen Namen wusste er gar nicht mehr, aber er wusste noch, dass er einst, vor langer, langer Zeit, eine Gottheit gewesen sei. Ihn hätten Fremde abgeschossen und dann die Klippe heruntergestürzt. Er begleitete uns ins Kloster, das tatsächlich nicht mehr weit war, wo uns ein nett aussehender, hübscher junger Mann, den wir sofort als Baldur erkannten, erst ein wenig misstrauisch, dann aber freundlich begrüßte, als wir erklärten, wir seien Freunde von Haley und wir seien eigens hergekommen, um ihn zu suchen. Im Kloster befanden sich auch zahlreiche andere Gestalten, manche ziemlich normal aussehend, andere fast durchsichtig.

Baldur erzählte uns freimütig von seinem derzeitigen Projekt: Zusammen mit Lady Izanami, der japanischen Totengöttin, die jetzt ebenfalls zu uns trat, höflich-kühl, aber nicht unfreundlich, sei er dabei, vergessene Gottheiten zu retten, damit sie nicht spurlos vergingen.

Oder Adlene in die Hände fallen, dachten wir sofort, und erzählten dem jungen Asen von Adlene und seiner Versklavung der zu Geistern gewordenen Götter. Aber noch vorher berichteten wir von Odins durch die Outsider beeinflusstem Plan, Ragnarök auszulösen, und dass Baldur der einzige sei, der Odin vielleicht von diesem Plan abbringen könne, daher unsere Bitte, mit uns zu kommen und Odin zu überzeugen.

Von dieser Idee war Baldur nicht gerade begeistert – Odin denke, Baldur sei tot, und eigentlich hätte er gerne, dass das so bliebe, aber gut, Ragnarök zu verhindern sei ein Argument.

Zunächst allerdings muss das Problem hier gelöst werden: Diese fünf 'Touristen' sind Magier, die die verlorenen Götter jagen und umbringen. Sie seien seit kurzem hier in der Gegend und täteten, wen sie erwischen könnten, aber so richtig in das Kloster selbst hineingetraut hätten sie sich noch nicht.
Wir beschlossen also, diese Magier suchen zu gehen, vielleicht lässt sich ja mit ihnen reden.

Wie gesagt: Es ist zwar schon Nachmittag, wir haben also nur noch so etwa zwei oder drei Stunden, bis es dunkel wird, aber bis morgen wollen wir nicht warten, dafür drängt die Zeit zu sehr.
Die Zeit, um das hier aufzuschreiben, habe ich mir aber trotzdem genommen, das hat nicht so lange gedauert, und außerdem haben wir gerade auch noch etwas gegessen.

Aber jetzt brechen wir auf – Padre en el cielo, schenk uns Deinen Segen!

sindar:
Glückwunsch, Baldur so schnell gefunden zu haben! Das habe ich mir schwieriger vorgestellt.

Timberwere:
Gerade noch 24. November, kurz vor Mitternacht

zurück im Dorf. Alle noch am Leben. Naja, alle Lebenden jedenfalls*. Würde gerne sofort noch mehr schreiben, aber zu müde.
Hoffe morgen. Sonst... weiß nicht wann. Egal. Schlafen.


*Args, Alcazár, was war das denn gestern Abend für ein Meisterwerk an Formulierung? „Alle Lebenden noch am Leben“. Ja was denn sonst, duh...
Nur wie hätte ich es denn sonst formulieren sollen? Alle noch am Leben bis auf die toten Gottheiten? Ja, das wäre vermutlich klarer gewesen.
Aber das zeigt nur, wie platt ich gestern war.

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25. November

Jedenfalls, wie ich eigentlich gestern abend schon geschrieben hätte, wenn ich nicht so fertig gewesen wäre:

Es kam gar nicht dazu, dass wir aufbrachen.

Wir waren gerade im Innenhof des Klosters kurz vor dem Tor, als plötzlich um uns herum die Hölle losbrach. Ein ohrenbetäubendes Krachen, mit dem das Tor ebenso wie ein Teil der Mauer explodierte, und Steine und Bruchstücke wurden in alle Richtungen geschleudert. Wir alle wurden von herumfliegenden Splittern getroffen, und wir alle bekamen blutige Schrammen ab, aber dem Himmel sei Dank war es nichts Schlimmes.

Im so abrupt erweiterten Eingang standen drei Männer: ein älterer, einer in mittlerem Alter und ein junger. Der ältere und der junge Mann trugen Magier-Stäbe, der dritte hatte eine Maschinenpistole in der Hand.
Aber wir hatten ja von fünf Ratsmagiern gehört – es mussten also noch zwei irgendwo sein.

Bevor einer von uns anderen reagieren konnte, rannte Totilas mit seiner übermenschlichen Schnelligkeit los und riss dem Bewaffneten die Maschinenpistole aus der Hand. Roberto war so klug und sprang in Deckung, während Alex, ebenfalls einigermaßen in Deckung, die Umgebung in Augenschein nahm. Edward hingegen tat das, was Edward eben tut: Er rannte zu dem jüngeren der beiden Magier und tackelte ihn um – und er hatte so viel Schwung, dass die beiden vom Eingang aus die abschüssige Rampe herunterzurollen begannen.
Und ich – ich tat auch das, was ich eben tue: Ich blieb in voller (lebensmüder *hust*) Absicht mitten im Hof stehen, wo ich gerade stand, machte eine möglichst entwaffnende Geste und rief: „Wartet! Hier sind Menschen! Lasst uns doch erstmal reden, verdammt!“

Die beiden noch oben stehenden Männer stutzten, und vor allem der ältere Magier machte ein verwirrtes Gesicht, als würde er mir nicht glauben. Aber sie sie griffen mich nicht an, wie ich da mitten im Hof stand, soweit so gut. Das Problem war nur, der Mann, dem Totilas die Maschinenpistole aus der Hand gerissen hatte, trug noch mehr Waffen bei sich. Er zog  eine Pistole und schoss auf den einen unter uns, der deutlich nicht als Mensch zu erkennen war – unser Weißvampir-Kumpel Totilas, der ihn ja noch dazu eben angegriffen hatte. Von dem Treffer wurde Totilas zurückgeschleudert, über die Felskante hinaus, wo er sich aber festhalten konnte.

Jetzt, wo Totilas keine direkte Gefahr mehr darstellte, wandte der Bewaffnete sich zu mir und zuckte mit den Schultern. „Klar können wir reden“, gab er gelassen zurück, „aber ich bin hier nur die Muskeln. Ich habe keinen Einfluss. Aber was meinst du von wegen 'Menschen'? Ihr habt einen Vampir und eine Fee!“
„Fee? Wie kommst du denn dar--“

… Oh.

Nein, verdammt, ich bin keine Fee! Ich habe es höchst offiziell von Haley, dass ich noch ein Mensch bin! Okay, da ist gerade eine ganze Menge Sommerfeenmagie in mir, aber – egal. Ich hatte keine Zeit, das diesem Typen jetzt zu verklickern.

An der Felskante trat plötzlich aus einem Schleier der Unsichtbarkeit eine mit einem Schwert bewaffnete Kämpferin heraus – klar, da fehlten ja noch zwei! – und gab einen kraftvollen Hieb auf Totilas ab, dem dieser gerade so ausweichen konnte.

Der ältere Magier stieß mit seinem Stab fest auf den Boden und sprach einige Worte, die ich nicht verstand. Daraufhin erzitterte die Erde und bekam Risse, und eine Art Iglu bildete sich um den Mann herum.

Wie er hinterher berichtete, versuchte Roberto an dieser Stelle herauszufinden, was der alte Magier da machte, aber er konnte lediglich erkennen, dass der Südamerikaner in dem Erd-Iglu offenbar begonnen hatte, ein Ritual zu wirken... aber was für ein Ritual, das konnte Roberto nicht sagen.

Gerade schlug die Schwertkämpferin noch einmal zu, und diesmal traf sie. Totilas packte die Klinge mit bloßen Händen und konnte auf diese Weise verhindern, dass der Schwerthieb ihn tötete, aber schwer verwundet wurde er dennoch. Totilas ließ los und stürzte mit voller Absicht den Abhang hinunter. Seine Gegnerin schien kurz zu überlegen, ob sie ihm folgen sollte, entschied sich dann aber offenbar dagegen.

In dem Moment wurde auch eine zweite Frau sichtbar – das musste die Magierin sein, die den Schleier für sich und die Kämpferin gewirkt hatte und die ihren Zauber jetzt fallen ließ – vielleicht, weil niemand schoss, vielleicht aber auch, weil sie in den Kampf eingreifen wollte und ihr dies ohne den Schleier besser möglich war.

Oben im Hof versuchte ich es derweil ein letztes Mal mit einem Appell. „Stop! Stop! Können wir nicht verdammt nochmal erstmal reden?!“
Der Leibwächter stutzte wieder und schaute mich zum ersten Mal genauer an. „Warte, du bist ja Ricardo Alcazár! Wahnsinn, Ricardo Alcazár hier! Aber... bist du echt eine Fee?“

Padre en el cielo, gib mir Kraft. „Oh, ach so, nein, das ist kompliziert, aber ich bin keine Fee. Aber ist egal jetzt, es ist dringend, Stop!“
„Was macht der Magier da?“, fragte Roberto in den angespannten Waffenstillstand hinein.
„Ich bin hier nur die Muskeln“, wiederholte der Leibwächter, „aber wenn ich das richtig verstanden habe, dann ein Ritual, um alle toten Gottheiten ein für alle Mal zu bannen.“
„NEIN!“, rief ich, „wir brauchen Baldur!“
„Warum das denn?“
„Weil Ragnarök kommt! Weil Odin von den Outsidern beeinflusst ist und Ragnarök ausgelöst hat! Und weil wir Baldur brauchen, damit der Odin davon abbringt! Verdammt nochmal, es ist dringend!“

„Das geht aber nicht“, schaltete die junge Magierin sich jetzt ein, „das Ritual kann nicht mehr aufgehalten werden. Das Iglu ist unzerstörbar und schalldicht, Ermano kann dich nicht hören. Das war Absicht, damit ihn nichts und niemand ablenkt oder behindert.“

Oh, mierda.

„Wie lange dauert das noch?“
„Er ist gleich fertig!“

Oh, Doppel-mierda.

Alex war so schlau gewesen und hatte bereits eine Rückzugsmöglichkeit ins Nevernever vorbereitet, falls die Dinge zu haarig werden sollten. Jetzt öffnete er das Portal und rief: „Hier rüber!“

Wir hatten keine Zeit, lange verlorene Gottheiten einzusammeln. Baldur war derjenige, der wichtig war, und Lady Izanami war ebenfalls in Reichweite. Beide allerdings wirkten jedoch durch das Ritual bereits derart geschwächt, dass es nicht so aussah, als könnten sie sich von selbst in Bewegung setzen. Deswegen rief Roberto seine patrona Oshun um Hilfe an, um ihm die Kraft und Schnelligkeit zu verleihen, durch die er Baldur rechtzeitig mit sich ins Nevernever ziehen konnte, während ich einen Sommersturm beschwor, der die japanische Totengottheit durch das Tor fegte, bevor ich ihr folgte.

Wir hätten keine Sekunde länger zögern dürfen – kaum waren wir durch das Tor hindurch, konnten wir noch spüren, wie in der menschlichen Welt etwas, wie beschreibe ich das... explodierte? Eine metaphysische Druckwelle, die von dem in sich einstürzenden Erdiglu ausging und an das sich schließende Portal andonnerte, aber nicht hindurchkam, weil die Verbindung zwischen den beiden Welten in genau dem Moment verschwand.

Tío. Durchatmen. Und lieber eine Weile abwarten – wer weiß, wie lange dieses Ritual brauchte, um zu wirken. Nicht dass wir zu früh zurückkehrten und Baldur und Izanami doch noch in Gefahr brachten.

Inzwischen – auch das erfuhr ich natürlich erst später, aber chronologisch gehört es an diese Stelle, deswegen füge ich es hier schon ein – waren Edward und der junge Magier den ganzen Abhang hinuntergekugelt und hatten schon den ganzen Weg nach unten miteinander gerungen. Unten wurde das Ganze zu einer ausgewachsenen Prügelei, bis der Magier plötzlich ausstieß: „Warum macht ihr das?“
Edward, der gerade zu einem weiteren Schlag ausgeholt hatte, hielt inne. „Machen wir was?“
„Warum macht ihr gemeinsame Sache mit den Outsidern? Ihr seid doch Menschen! Naja... bis auf den Vampir und die Fee...“
Edward war so baff, dass er die erhobene Faust jetzt ganz sinken ließ. „WAS?!? Wir kämpfen gegen die Outsider! Und was für eine Fee meinst du?“

Langer Rede kurzer Sinn, die beiden stellten fest, dass sie offenbar doch nicht auf völlig gegensätzlichen Seiten standen und einigten sich auf einen Waffenstillstand. „Solange ihr uns nicht angreift.“ „Und solange ihr uns nicht angreift!“ „Und du euren Vampir unter Kontrolle hältst!“ „Solange niemand irgendwen angreift, sag ich doch!“

Magier und Lykanthrop kehrten gemeinsam nach oben zurück und kamen gerade dort an, als wir durch das Tor sprangen, das Ritual auslöste und das Iglu wieder zu normalem Erdboden zerging. Und so konnte Edward auch sehen, wie alle verlorenen Gottheiten, bis auf die beiden, die wir ins Nevernever geschafft hatten, sich auflösten.

Da Alex, Roberto und ich aus Gründen der Vorsicht eine Weile drüben abwarteten und Totilas es für sicherer hielt, gebührenden Abstand zu wahren, bis die Situation sich etwas beruhigt hatte, war es an Edward, die fünf Südamerikaner auf Stand zu bringen. Vor allem mit dem älteren Magier, der das Ritual gewirkt hatte, unterhielt er sich eingehend – Edwards Faszination für Rituale stellte sich tatsächlich als guter Eisbrecher heraus, und die beiden fanden einiges an Gemeinsamkeiten. Ja, es schien sogar, als würde Edwards magisches Wissen den alten Magier einigermaßen beeindrucken.

Irgendwann kehrten wir, nachdem Alex als Vorhut überprüft hatte, dass die Luft rein war, aus dem Nevernever zurück, und auch Totilas kam zurück in den Klosterhof gehinkt, sobald er sicher sein konnte, dass ihm von den Magiern* keine Gefahr drohte.

Während des Gespräches erklärten wir die Lage und erfuhren im Gegenzug, dass die Magier bei einer ersten schnellen Sondierung der Lage auf den ersten Blick gesehen hatten, dass Totilas ein White Court-Vampir war. Bei dieser ersten schnellen Erkundung hatten sie mich tatsächlich für eine Fee gehalten, aber jetzt bei näherer Betrachtung konnten sie bestätigen, dass ich ein Mensch war, auch wenn jede Menge Feenmacht durch mich floss. Ich wiederhole mich, aber: puh.
Also erklärte ich ihnen im Detail, wie das kam, und dass mir nichts lieber wäre, als das geschäftsführende Herzogsamt wieder abzugeben, dass wir aber eben erst einmal Ragnarök verhindern mussten.

Und wo wir schon einmal dabei waren, Ratsmagiern alle möglichen Dinge und Zusammenhänge zu berichten, sprach ich auch unsere Vermutungen – bzw. unser Wissen – über Spencer Declan und Joseph Adlene offen aus, dass sie gemeinsame Sache mit den Outsidern machten.
„Das sind schwere Anschuldigungen“, meinte Ermano.
„Das ist mir bewusst“, erwiderte ich, „und dennoch spreche ich sie aus, eben weil sie so ernst sind. Wahrscheinlich kostet uns das Kopf und Kragen, weil Declan beim Rat am deutlich längeren Hebel sitzt und das Wort eines Wardens tausendmal mehr gilt als das eines magischen Niemands, aber dennoch. Wir haben stichhaltige Gründe für die Annahme.“ Die ich ihm dann natürlich auch darlegte.
„Nun gut, junger Mann“, sagte Perez schließlich, ich glaube Ihnen, dass Sie zumindest selbst von dem überzeugt sind, was Sie sagen. Ich werde einige Erkundigungen anstellen – vorsichtig natürlich, um niemanden aufzuscheuchen. Wenn Sie recht haben,

In bezug auf Edward lobte der alte Magier erneut dessen Talent und deutete sogar an, ihn beim White Council  sponsorn zu wollen, falls Edward jemals um Aufnahme in den Magierrat ersuchen sollte. Allerdings fehlten Edward für eine offizielle Bewerbung noch einige Fähigkeiten, sagte Perez – die sollte er sich aber, so Ermano, mit etwas Übung durchaus aneignen können.

Dann aber mussten wir entscheiden, wie wir am schnellsten und besten nach Miami zurückkehren konnten. Die Zeit drängte – mit dem Flugzeug würde es vermutlich zu lange dauern, ganz abgesehen von der Tatsache, dass Baldur keinen Pass hatte. Er meinte zwar, das sei grundsätzlich weniger ein Problem, meistens könne er die Leute mit seinem Charme einfach überzeugen, dass sie ihn dennoch passieren ließen. Aber die Zeit war eben doch ein entscheidender Faktor, also musste ein übernatürlicher Weg her.
Am besten vielleicht über Helheim und von dort aus durch das Portal in Bjarkis Gartenlaube, das Haleys „Touristen“ auch immer benutzen?

Dazu mussten wir allerdings Haley erreichen, und ich habe zwar ihre Telefonnummer, aber so weit oben in den Bergen gab es kein Netz, dazu mussten wir zurück ins Dorf.
Und auch sonst konnten wir nicht sofort aufbrechen. Es war ein langer, langer Tag gewesen, unsere inneren Uhren waren völlig durcheinander, und der Jetlag machte sich bemerkbar – drängende Zeit oder nicht, wir mussten erst einmal wenigstens ein paar Stunden schlafen. Und wenn wir zum Telefonieren ohnehin ins Dorf mussten, dann konnten wir das auch in unseren Gastzimmern tun... nicht zuletzt, damit die Leute sich nicht wunderten, wenn wir von unserer Wanderung nicht zurückkamen, sondern einfach spurlos verschwanden. Unser Bergführer hatte auch so ohnehin bestimmt schon genug Panik verbreitet.

Gemeinsam mit den Magiern kehrten wir ins Tal zurück. Ziemlich bald wurde es dunkel, und normalerweise wäre es Selbstmord gewesen, in unserem übermüdeten Zustand bei tiefster, mondloser Finsternis einen Bergpfad hinabzuwandern, aber Soleil Cruz verstand sich glücklicherweise nicht nur auf Schleiermagie, sondern – Nomen est Omen! – auch darauf, den Weg und unsere Umgebung flutlicht-hell zu zaubern. Und so kamen wir zwar völlig fertig, aber in einem Stück, wieder im Dorf an.

Der Hotelbesitzer wunderte sich zwar etwas, dass wir so lange weggeblieben waren, aber wir erfanden eine Ausrede von einer früheren Rückkehr und einem gemeinsamen Abendessen mit den anderen Touristen, die er nicht weiter hinterfragte. Auch die Gegenwart von Baldur verwunderte den Mann nicht weiter – wie er selbst schon sagte, der Charme und die magische Überzeugungskraft der nordischen Gottheit wirken Wunder.

Bevor wir schlafen gingen, tauschten wir Kontaktdaten mit den südamerikanischen Magiern aus, und ich versprach Gonzago eine signierte Ausgabe von Siren's Call.
Außerdem kontaktierten wir Haley wegen des Weges durch Helheim, aber sie meinte, wir seien Lebende, und jetzt, wo Ragnarök so nah sei, würden die zugewiesenen Rollen der Asen stärker greifen, und da könne sie keine Lebenden nach Helheim lassen. Baldur wieder hinauszulassen, wenn er zurückkehre, sei eine andere Sache, den habe sie immerhin schon einmal gehen lassen, aber der sei offiziell tot, der gehöre nach Helheim, deswegen könne er auch wieder dorthin kommen.
Aber wir? Wenn wir nach Helheim kämen, müsse sie uns töten, und das war nun wiederum gar keine Option. Aber wir hätten doch Kontakte nach Xibalba, schlug Haley vor – Ahalphu sei nicht gerade von irgendwelchen festgefügten Regeln betroffen, und in Xibalba seien wir doch schon einmal gewesen und mit heiler Haut wieder zurückgekommen.

Soweit so gut... jetzt müssen wir nur noch einen Ort finden, von dem aus wir nach Xibalba überwechseln können. Baldur kann von überall aus nach Helheim, aber wir brauchen einen Ort mit, wie nenne ich das, ah, ich weiß. Resonanz.

Und siehe da, in der Hauptstadt Kathmandu gibt es tatsächlich den so genannten südamerikanischen Friedhof, auf dem zahlreiche Südamerikaner, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Nepal kamen, ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Das klingt perfekt für das, was wir vorhaben!

Also sitzen wir jetzt gerade wieder im Flugzeug nach Kathmandu, sind tatsächlich schon fast am Ziel, und ich habe die Flugzeit zum Schreiben genutzt.
 


*Ermano hieß ihr Anführer übrigens, Ermano Perez. Timoteo Capelo war der junge Magier, mit dem Edward sich geprügelt hatte, und Soleil Cruz hatte den Schleier gewirkt. Der Name der Schwertkämpferin, die Totilas verwundet hatte, war Julia Gomez, und der Bodyguard mit den Schusswaffen – mein Fan – hieß Gonzago Donnell.

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In Kathmandu, am südamerikanischen Friedhof

Ich habe nicht viel Zeit zum Schreiben, nur soviel: Wir werden gleich ein Tor nach Xibalba öffnen. Oder genauer gesagt, Alex und Edward werden wie so oft die eigentliche Arbeit leisten, aber Totilas, Roberto und ich konnten uns zumindest mit der Beschaffung von Zutaten und Informationen für das Ritual beteiligen.
So habe ich beispielsweise bei einem Juwelier etwas Goldschmuck mit Jade besorgt – immerhin sind Gold und Jade wichtige Materialien in der Kultur und Religion der Maya.
(Und bei der Gelegenheit habe ich auch gleich für Lidia und die hijas hübschen Schmuck gekauft, wo ich schon mal in dem Laden war. Das musste einfach sein und hat nicht viel Zeit gekostet.)

Jedenfalls geht es gleich los, und mit etwas Glück werden wir in Xibalba nicht lange aufgehalten.

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Padre en el cielo! Ich hoffe und bete, dass wir nicht zu spät sind! Komm schon, Alex, fahr!

Kurz mit Schreiben ablenken.

Zurück in Miami. Xibalba war kein großes Problem – das Ritual in Kathmandu klappte anstandlos, die lebendige Straße benahm sich, die Wächter an Xibalbas Stadttor machten keine Schwierigkeiten, Ahalphu ließ uns auch problemlos gehen, und wir kamen an der Grotte heraus, die Haley damals gefunden hatte, als es darum ging, Ahalphu auf seiner “Rundreise” zu beschwören und zu überreden, wieder nachhause zu gehen.

Und im selben Moment, als wir wieder auf Miamis Gebiet waren, überfiel uns das Bewusstsein, dass in Miami das reine Chaos herrscht. Ein Krieg tobt. Und es ist kalt, viel zu kalt, eisig kalt – es schneit sogar! Ragnarök! Ragnarök hat angefangen!

Wir konnten uns nicht mit Feinheiten aufhalten – Alex knackte ein Auto.
Und jetzt fahren wir in Richtung Bjarkis Haus... hoffentlich ist Baldur dort!
Oh bitte, Padre en el cielo, lass meine Familie in Sicherheit sein! Und steh uns bei!

Ich wiederhole mich, aber: Alex, fahr!!!

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