Ja, selbst in Runden die phantastische Elemente haben, waren die Nicht-Phantastischen das Reizvollste für mich: Der von meinem SL realistisch gehaltene Krieg in Ussura bei 7te See, der vier gestandene Montaigner an ihre physischen und psychischen Grenzen bringt. Das Beziehungschaos und der Umgang mit den neuen Kräften und Pflichten in unseren Teenage-Werwolf-Runden. Das kalte Hassliebe-Verhältnis zwischen einem jungen Drachenblütigen und seinem Vater bei "Exalted". Das alles hätte auch ohne phantastische Elemente genau so gut funktioniert...
Hast du das ausprobiert?
Meine rein theoretische Sicht zu den phantastischen Elementen im Spiel ist, dass sie bestimmte Konflikte überhöhen und so leichter verständlich machen, dass sie Konflikte leichter akzeptierbar machen, und dass sie eine Abwechslung bieten, die es ermöglicht, mit den realen Konflikten umzugehen.
Wenn du den Typen im Büro spielst, der täglich in der Mittagspause von seinen Kollegen gedisst wird und mit niemandem darüber reden kann, dann ist die Gefahr groß, dass dich das als Spieler schnell an deine eigenen Leistungsgrenzen bringt (es sei denn das Thema „von Kollegen gedisst werden“ wäre für dich unbedeutend - dann wäre das Spiel nur langweilig). Wenn du jetzt Dämonen und Superkräfte einwirfst und das an einer Schule spielen lässt, hast du die Geschichte jedes zweiten Animes. Die Dämonen machen auch nichts anderes als den Charakter zu dissen, und statt zu Antworten und dann deine Superkräfte zu nutzen, könntest du auch einfach antworten. Aber indem du sie zu Dämonen machst, werden ihre Motivationen leichter verständlich - und das Spiel muss nichtmal schwarz-weiß werden: Auch die Dämonen haben Gründe, eine Vergangenheit, usw. Aber es wird leichter zu erfassen. Echtes Sozialleben ist verdammt kompliziert - es ist Arbeit. Rollenspiel-Sozialleben zwischen Elfen, Zwergen und Dämonen ist abstrahierter und so leichter zu verstehen. Auch bei den Werwölfen ist das deutlich: Hier werden bestimmte Konflikte durch ein Übernatürliches Element verstärkt. Diese Elemente sind Analogien - und du kannst deine eigenen Konflikte einfließen lassen, ohne dich bloßzustellen.
Und das ist der zweite Punkt: Wenn ich mit Fremden rede, die ich nie wieder sehen werde, kann ich viel freier sprechen, als wenn ich mit Leuten rede, deren Meinung über mich für meine Zukunft wichtig sein könnte (und sei es, weil ich sie als Freunde behalten will). Wenn ich nicht in die Rolle einer realen Person schlüpfe, sondern in einer phantastischen Welt spiele, ist es plausibler, dass ich als meine Maske spreche und nicht als ich selbst. Entsprechend muss ich nicht fürchten, dass meine moralisch fragwürdigen Handlungen als Schwarzmagier meine Freunde verschrecken - und es daher wagen, diese Handlungen auszuspielen (egal, wie ich selbst zu ihnen stehe). Stell dir vor, du würdest stattdessen den Angestellten spielen, der über Wochen hinweg intrigiert und dann seinen Kollegen beim Management anschwärzt, um eine Beförderung zu bekommen - und damit wissentlich dessen Zukunft ruiniert. Wird das die Sicht deiner Freunde auf dich verändern? Masken geben Freiheit.
Und drittens gibt das Fantasy-Element eine Möglichkeit, durch emotional einfachere Konflikte Kraft zu schöpfen. Ich habe mal eine Runde zu Motivation geleitet. Ein England der heutigen Zeit, das vor 100 Jahren von einer Demotivations-Kirche übernommen wurde, die das Land so umgestaltete, dass die dort Arbeitenden alle Motivation verlieren. Das lief ein paar Runden lang gut, aber die Stimmung wurde immer gedrückter - verständlicherweise. Dann habe ich ein zweites Element eingebaut: Zwischenszenen, in denen die Charaktere 5 Jahre später den letzten Sturm auf die Kirche durcchführten. Jetzt nicht mehr schwach und auf der Flucht, sondern mächtig. Und damit konnten sich die Spieler auch wieder viel mehr auf die heftigen Demotivationsszenen einlassen, in denen sie darum kämpften, einige Dörfler aus der Apathie zu reißen und ihre eigene Motivation zu erhalten.