#36: Niobaras VermächtnisAutor: Fabian Sinnesbichler, Björn Hinrichs, Philipp Neitzel, Normal Kobel, Tjorven Müller, Nikolai Hoch
System: Das Schwarze Auge
Erschienen: 2017
Umfang: Mini-Kampagne (25-40 Stunden Spielzeit)
Warum habe ich das AB gelesen?Die Ankündigung - eine archäologische Schnitzeljagd durch ganz Aventurien, bei denen Rätsel und alte Geheimnisse im Mittelpunkt stehen - das klang ganz nach meinem Lieblingsthema.
PlotDie Helden folgen einer Rätselspur, die Niobara von Anchopal und Rohal der Weise vor über 500 Jahren gelegt haben, damit genau jetzt genau unsere Helden in den Besitz wichtiger Informationen gelangen.
EindruckPuha. Ich bin mir ja durchaus darüber im Klaren, dass sich Autoren viel Mühe mit ihren Abenteuer geben, dass viel Herzblut in so einen über 100 Seiten langen Abenteuerband fließt und auch, dass es für einige Autoren sogar ihr Erstlingswerk ist. Und ich weiß, wie weh es tut, wenn jetzt so jemand wie ich daherkommt und alles in Fetzen reißt. Aber gerade deshalb müssen sich die erfahrenen Leute - und damit meine ich insbesondere die Redaktion - den Vorwurf gefallen lassen, hier einen gewaltigen Bock geschossen zu haben, indem sie nicht lenkend eingegriffen haben. Denn bis auf die Rätsel stimmt hier eigentlich überhaupt nichts.
Da ist zunächst einmal die Sache mit dem
roten Faden. Die Helden befinden sich hier eigentlich auf einer epischen Queste, wovon sie aber mindestens die Hälfte der Zeit lang gar nichts merken. Stattdessen werden sie mal mit dieser, mal mit jener Begründung von wechselnden Auftraggebern (die ebenfalls nichts von der Queste wissen) hierhin und dorthin geschickt und stolpern dort zufällig immer wieder über Fragmente, die alle zum großen Rätsel gehören. Schon toll, wie Niobara das so geplant hat... (für Ironieresistente: hat sie nicht, es ist schlicht Quatsch.)
Auch die Chance, die (während der ganzen Mini-Kampagne präsenten)
Gegenspieler zu nutzen, um ein Gefühl von Bedrohung, Zeitdruck oder wenigstens Zusammenhang zu schaffen, wird nicht genutzt. Die bleiben die ganze Zeit über incognito, so dass die Gruppe bis zuletzt gar nicht weiß, mit wem sie es zu tun haben oder dass die gelegentlichen Anschläge irgendwas miteinander zu tun haben.
Dann ist da die Sache mit den
Rätseln selbst. Rätsel sind ja an sich eine tolle Sache, aber eigentlich nur für Old-School-Gruppen, die auch Spaß daran haben, Rätsel zu lösen. Da sowas ja aber außer Mode ist, wird hier stattdessen vorgeschlagen, dass man irgendwelche Proben würfelt und sich den Sinn des Rätsels dann vom Spielleiter erklären lässt. Was schade ist, denn eine Old-School-Gruppe mit guten Aventurienkenntnissen würde hieraus wohl den größten Teil des Spielspaßes ziehen - die meisten Rätsel sind ohne gute Kenntnisse aventurischer Geschichte, Geographie und Religion kaum verständlich.
Randbemerkung: Die meisten Rätsel sind in Gedichtform oder was Rollenspielautoren dafür halten. Kleiner Tipp: Ein richtiges Gedicht zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass die Zeilen ungefähr ähnlich enden, sondern besitzt auch ein Versmaß. Ignoriert man dieses, so erhält man die Sorte Reime, die man aus typischen Karnevalsvorträgen kennt. Es klingt gewollt und nicht gekonnt.Ziemlich übel ist auch die allgemeine Haltung, dass die Handlungen der Helden letztlich
keine Konsequenzen haben dürfen. Wenn sie rumtrödeln, möge ihnen der Spielleiter doch bitte für die nächste Etappe schnellere Fortbewegungsmittel verschaffen. Wenn sie gut sind, möge er ihnen doch bitte zusätzliche Steine in den Weg legen. Fallen machen kaum Schaden, Stürze genausowenig, und wenn die Bösen einen Anschlag verüben, dann schicken sie ein paar drittklassige Schläger oder tischen den Helden Essen mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum auf. Was aber irgendwie auch nichts macht, denn am Ende des Abenteuers erhalten die Helden verschiedene Sternbilder, von denen keinesfalls klar ist, welches jetzt eigentlich eintritt (es ist nur klar, dass es Veränderungen geben wird - na, das wussten wir ja auch vorher noch nicht). Ach ja, und den Bösewicht sollen die Helden natürlich nicht besiegen, denn der wird später in Aventurien noch gebraucht...
Am schlimmsten aber finde ich das völlige
Fehlen von Abenteuern in diesem Abenteuerband. Ja, ernsthaft: hier werden Rätselfragmente gesucht und Proben auf Sozial-, Wissens- und Handwerkstalente gewürfelt, aber nach Abenteuer fühlt es sich eigentlich so gut wie nie an. Ja, es wird ernsthaft so getan, als sei "Bibliotheksrecherche" etwas, was so spannend sei, dass man es mit eigenen Regeln versehen und alle paar Stunden Spielzeit wieder ausspielen müsse. Und wenn wirklich mal die Chance vorbeikommt, unterwegs ein wenig Indiana Jones zu spielen, dann wird sie konsequent weggeschmissen. Einige Beispiele (Vorsicht, Spoiler):
- Als die Gruppe nach Wagenhalt kommt, wird dort gerade die Ruine einer Magierakademie aus der Zeit der Magierkriege freigelegt. Das Kopfkino läuft Amok, was man alles da erleben könnte, aber nein: Man verhandelt lediglich mit der Obrigkeit, um Zutritt zu bekommen, holt das nächste Rätselfragment und zieht weiter. Ernsthaft.
- Die Gruppe besucht Fasar - nach meiner Erfahrung eine der abenteuerlichsten Städte Aventurien. Aber auch hier passiert nichts außer einem Besuch im Nandus-Tempel.
- Das Hesinde-Kloster in den Goldfelsen antwortet nicht mehr. Nicht einmal auf Liturgien. Also eilen die Helden da hin. Man hofft auf einen coolen Krimi- oder vielleicht sogar Horrorplot, aber was ist? Der Abt war nur abgelenkt, aber die Helden können gerne Pflanzenkunde (Nutzpflanzen) benutzen, um hier bei der Pflege der Nutzgärten zu helfen. Kein Scherz, das steht wirklich so da drin.
- Am Ende geht es sogar nach Altaia. "Eine Aufgabe für echte Abenteurer", wie der Abschnitt anfangs verspricht. Aber auch hier passiert: Nichts. Keine Piraten, kein dreckiges Charypso, keine wüsten Eingeborenen, keine alten Ruinen, keine Vulkanausbrüche, keine gefährliche Dschungelreise. Kann man doch auch alles über eine Sammelprobe erledigen (deren Ergebnis auch noch egal ist, weil man im schlimmsten Fall Zeit verlieren kann, die einem der SpL dann ja ohnehin demnächst wieder zurückschenkt). Auf Altaia gibt es dann ein "Rätsellabyrinth", das keines ist (wer dort ein Rätsel falsch löst, der läuft halt eine halbe Stunde durch den falschen Teil des Labyrinths, ohne dass das irgendwelche Konsequenzen hat).
Ganz ehrlich: Ich könnte heulen über so etwas. So viele gute Ansätze, und sie werden alle, alle einfach verschenkt. Oder dem Spielleiter überlassen - soll der sich doch was einfallen lassen, wir liefern hier nur die Rätsel. Ich würde ja gerne sagen: "Wir liefern die Rahmenhandlung und die Rätsel", aber die Rahmenhandlung gibt es ja auch nicht.
Im Vergleich dazu sind die
Logiklücken fast nicht mehr erwähnenswert, aber ich spreche sie der Vollständigkeit halber trotzdem noch an. So gibt es in Vinsalt eine eigentlich ziemlich coole Spur aus Licht, das von diversen Spiegeln zurückgeworfen wird, bis es zum entscheidenen Hinweis führt. Allerdings befinden sich diese Spiegel in einem 500 Jahre alten Haus, dessen Besitzer nichts von seiner Besonderheit wissen. Sie haben die Spiegel verrotten lassen, aber kein einziger Spiegel wurde in all der Zeit entfernt. Schon toll, wie Rohal der Weise das vorhergesehen hat, dass das Haus 500 Jahre lang unverändert stehenbleiben würde... Ähnlich seltsam finde ich auch, dass die Gruppe inmitten der Wüste Gor (zur Erinnerung: mausetot, völlig trocken) über einen See stolpert und eine Quelle, die so kräftig ist, dass sie ein Mühlrad antreiben kann. Am übelsten aufgestoßen hat mir aber, dass (1) das Verfolgen des Rätselpfades in weiten Teilen schlicht Zufall zu sein scheint und dass Rohal / Niobara das niemals so geplant haben können, und dass (2) die Bösen (und es sind wirklich, wirklich böse Böse) sich wie ein Kindergarten benehmen und völlig außerstande zu sein scheinen, einer Heldengruppe standesgemäß das Leben zur Hölle zu machen.
Hat mir denn jetzt gar nichts gefallen? Doch, es gibt vereinzelte
Lichtblicke, die erahnen lassen, was hier möglich gewesen wäre. Das Haus der Spiegel in Vinsalt ist eine tolle Idee (wenn man mit der Logiklücke leben kann). Das konsequente Arbeiten mit Sternbildern in Verbindung mit aventurischer Mythologie hat was. Und ziemlich cool ist glaube ich das Finale, bei dem die Gruppe gegen Zeit und Gegner die Geheimnisse von Niobaras Astrolabium lösen muss. Bei einem fähigen Spielleiter und einer gemischt besetzten Gruppe kann das ein Abschluss werden, in dem es richtig rund geht. Aber man fragt sich natürlich: Warum nur hier? Warum nicht die ganze Zeit so?
FazitIch gehe mal soweit zu sagen: Was wir hier haben, ist kein Abenteuer. Es ist ein Fragment, eine Inspirations- und Rätselsammlung, aus der ein fähiger Spielleiter mit SEHR viel Arbeitseinsatz eine richtig coole Kampagne stricken kann. Dazu muss er allerdings die Rahmenhandlung komplett überarbeiten, aus den Gegnern echte Gegner machen und aus jedem der zweiseitigen Fragmente ein echtes Abenteuer bauen. Unter diesen Voraussetzungen könnte ich mir vorstellen, dass seine Spieler später sagen: "Niobaras Vermächtnis? Ich weiß nicht was ihr habt - das war doch hammergeil!" Aber sie werden nicht wissen, dass sie das nicht dem Abenteuerband, sondern in erster Linie ihrem Spielleiter zu verdanken haben. Der Abenteuerband selbst hatte nämlich das Potential, eine richtig coole Kampagne zu werden. Er hat dieses Potential aber konsequent liegen gelassen.