Ich schreibe mal ein paar Gedanken nach dem Lesen des Buches (Hardcover) nieder:
Das Äußere
Ich besitze das Hardcover, das kein gebundenes Buch ist, sondern bloß ein geleimtes Buch mit Pappdeckeln. Wenn man es aufgeschlagen auf den Tisch legt, klappt es wieder zu. Es ist überraschend leicht für die Größe (und den Preis), was an dem relativ dicken und luftigen Papier liegt. Die Haptik der Buchdeckel ist etwas moosgummiartig. Insgesamt war ich von dem physischen Produkt etwas enttäuscht.
Das Innere
Innen ist das Buch durchgehend farbig gedruckt, Gestaltung, Grafiken und Layout sind professionell und hübsch anzusehen. Trotz des dicken, etwas groben Papiers ist das Druckbild ausreichend scharf. Die Aufteilung der Kapitel ist okay, obwohl ich den Eindruck habe, es könnte noch etwas besser organisiert sein: Manche Informationen, die meiner Meinung nach zusammen in ein Kapitel gehören, sind über zwei Stellen im Buch verteilt. Sprachlich ist es gut verständlich, Rechtschreibung und Grammatik sind gut, werden wie so oft gegen Ende schlechter - auf der letzten Seite sind gleich drei oder vier Fehler zu finden. Korrekturleser fangen halt auch meist vorne an und werden nach hinten zu nachlässiger.
Die Regeln
Die Regeln sind insgesamt gut erklärt, könnten aber oft etwas präziser sein. So gibt es eine Tabelle, was man pro Circle (eine Art Charakterstufen oder Machtniveau) an Skills bekommt und wieviele Talente man als bevorzugte (Disziplin-) Talente markieren darf. Bei dieser Tabelle fehlt jede Erklärung, ob die aufgeführten Werte additiv sind - also, was man pro Stufe dazubekommt - oder ob sie die akkumulierte Gesamtzahl der Stufe darstellen. Was mehrmals vorkommt ist, dass ein Spezialfall betont wird ohne dass die allgemeine Regel genannt wird. Das ist verwirrend, weil man sich dann fragt, ob dieser einzelne Fall betont wird, weil er eine Ausnahme ist.
Inhaltlich handelt es sich bei den Regeln um eine Modifikation des frei erhältlichen FU-Systems. Es ist ein schlankes System, das weitgehend ohne Zahlen auskommt. Das heißt, dass man Charaktereigenschaften (sog. Tags) oder Skills oder einen Gegenstand hat oder eben nicht hat. Man kann sie nicht steigern, es gibt keinen Zahlenwert. Das Vorhandensein eines Skills "Rezension schreiben" würde mir z.B. erlauben, überhaupt zu würfeln, ob mir das gelingt und mein Tag "Eloquent" würde mir noch einen Bonuswürfel dazugeben. Gewürfelt wird mit einem W6, der bestimmt, ob das Unterfangen erfolgreich ist oder nicht (Ja/Nein) und ob es positive oder negative Nebeneffekte gibt (und.../aber...). Ein Bonuswürfel gibt 1/3 Chance, aus einem Nein ein Ja zu machen. Mehrere Bonuswürfel können zusätzlich mehr positive Nebeneffekte generieren. Maluswürfel tun das Gegenteil: Ja zu Nein und negative Nebeneffekte. Würfeln tun nur die Spieler. Wenn NSCs handeln würfeln die Spieler z.B. ob das Ergebnis sie (be)trifft. Etwas komplexer wird es durch Talente und Zaubersprüche. Nicht mechanisch, aber dadurch dass man eben nicht durch einen Blick auf den Charakterbogen sieht, was sie können. Ich nehme an, wenn man eine Weile spielt, weiß man, was die eigenen Talente tun und kann diese flüssig einsetzen.
Das Spiel bezeichnet sich selbst als narrativ orientiert. Tatsächlich kann ich mir vorstellen, dass durch die erwürfelten Nebeneffekte Anstöße gegeben werden, um die Story fortzuspinnen. Was mir bei den Beispielen unangenehm aufgefallen ist, ist dass der Spielleiter doch ziemlich alleine dafür verantwortlich ist, die Geschichte zu erzählen. Der Spieler sagt nur: Ich tue dies, ich tue jenes. Dann würfelt er und der Spielleiter erzählt, was passiert. Da waren wir doch schon weiter... Natürlich kann man ohne irgend etwas an den Regeln zu ändern ein Prinzip einführen, wie z.B. 'Bei Erfolg erzählt der Spieler was genau passiert, bei Misserfolg der Spielleiter' (à la Burning Wheel). Aber es hätte mich gefreut, wenn sowas schon mit eingebaut wäre.
Das Setting
Die Welt von Earthdawn wird in dem Buch recht knapp umrissen. Ich als Earthdawn-Neuling konnte mir aufgrund der Beschreibung ein stimmiges Bild machen und habe durchaus Lust auf mehr bekommen. Wenn man tatsächlich darin spielen möchte, ist es wohl nötig, sich weiteres Material zu beschaffen. Am Ende des Buches gibt es einen Überblick über alle bisher publizierten Earthdawn-Produkte, dessen Sinn sich mir nicht erschließt. Hier hätte ich mir gewünscht, dass explizit Empfehlungen gegeben werden, welche Bücher als weiterführende Lektüre geeignet sind, anstatt alles und jedes einfach nur aufzulisten.
Fazit
Das Hardcover-Buch könnte für den Preis qualitativ noch etwas hochwertiger oder umfangreicher sein (oder aber 10 bis 15 Euro günstiger). Das System ist ein schlankes, intuitiv zugängliches, bei dem man sich nicht viele Regeln merken, geschweige denn Tabellen nachschlagen oder Moves nachlesen muss. Einzig die Talente und Sprüche erhöhen die Komplexität gegenüber dem ursprünglichen FU-System.
Vom Lesen her hat es mir gut gefallen, es bleibt in meinem Besitz und ich hätte Lust, es mal zu spielen. Gesamtbewertung: 'Ja' bis 'Ja, aber'