Ich bin noch in Brief vertieft, als Harry Blackberry sich dem Haus nähert. Ich bekomme gar nicht mit, wie er über den zarten Rasen unseres Grundstücks geht. Unser Haus ist etwas abseits der geschottertten Straße. Sein Weg führt ihn also für 20 bis 30 Meter über den kargen Rasen, der hier auf dem steinigen, kargen Boden wächst.
Wir sind nach Grundvik gezogen. Es ist ein kleiner Ort, nahe der Ostsee und nahe Pitea, einem größeren Ort. Für Harry ist es ein Ort, ein Kaff, vermutlich. In dieser Gegend nennt man Pitea eine "Stadt" ("en stad"). Die Stadt bietet uns viele Vorteile, und auch für Harry ist diese Stadt ein besserer Ausgangspunkt für seine Arbeit, als es die kleinen Dörfer sind. Auf den Dörfern kann sich niemand wirklich einen Psychiater leisten. Und hätte Harry gewusst, was wir mit "Stadt" meinten, als wir zu dritt beschlossen nach Schweden zu gehen, dann wäre er vermutlich doch nicht mitgekommen. Hier ist es so ganz anders als in England. Es ist viel rauer und karger. Außer Holzwirtschaft, den Papierfabriken, Schifffahrt (auf Fluss und Ostsee) zum Transport des Holzes oder des Papiers und natürlich die noch recht neue Eisenbahnanbindung.
Ackerbau wird hier zwar auch betrieben, aber dient er nicht dazu reich zu werden.
Der Winter ist lang und kalt, das Frühjahr ist ebenso kurz wie der Herbst und zu guter letzt bleibt noch der lange für diese nördliche Lage oft recht warme und angenehme Sommer.
Kristines Eltern wollen uns schon wieder näher zu sich holen, doch noch weiter in die karge Einöde Norrbottens, müssen wir nicht ziehen. Wir bevorzugen die Vorteile der Nähe zur Stadt und zur Ostsee. Kristines Eltern wollen, dass wir zu ihnen nach Burvik ziehen. Das sind nur wenige Kilometer, doch dort gibt es nichts, außer dem elterlichen Hof mit den Angestellten und dem See.
Und warum mache ich mir etwas vor? Ich will schlicht nicht auf dem Grundstück meiner Schwiegereltern wohnen und mir regelmäßig ihre Vorwurfsvollen Gesichter ansehen, wenn Kristine sich wieder erschrickt, weil sich eine der neugierigen Ziegen von hinten an sie anschleicht und sie anstupst. Auch mir tut es weh zu sehen, wie dann jegliche Lebensfreude, die sie zuvor wieder versprühte, aus ihr weicht und sie die nächsten Stunden traurig und ängstlich ist.
Es war schon unser Kompromiss-Eingeständnis ihren Eltern gegenüber, dass wir nach Grundvik gezogen sind. Harry riet uns dazu in die heimatlichen Gefilde zu gehen. An die Orte der guten, lebensfrohen Erinnerungen. Und Kristines Eltern wollten Sie bei sich wissen.
Ich muss gestehen, ich war sehr froh, dass Kristine auch nicht darauf bestand bei ihren Eltern zu leben, sondern lieber ein kleines Haus mit mir zu beziehen.
Ich lasse den Brief sinken, als ich Kristines fröhliche Stimme höre. Ich freue mich sehr, dass Sie sich wieder über Dinge freuen kann. Dass sie wieder fröhlich sein kann. Es hat lange gedauert, bis es so weit war.
Mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht sage ich laut "Harry! Was für eine Freude. Du hast tatsächlich den weiten Weg auf dich genommen herzukommen! Das freut mich. Komm auf die Veranda, ich werde uns etwas zu Trinken holen und schauen, ob ich noch etwas von Kristines köstlichem Butterkuchen finde. Nur schade, dass die Blaubeer-Zeit noch nicht begonnen hat."
Mit einem spitzbübischen Grinsen füge ich hinzu: "Harry, der Sommer hier ist lang, hell und freundlich. Aber glaube mir. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes die Ruhe vor dem Sturm. Warte ab, bis es Herbst wird und sammel deine Kraft. Die Winter hier, sind rauh und dunkel. Sehr dunkel. Da werden viele Leute, gerade die Neu-Ankömmlinge, die neuen Fabrikarbeiter und ihre Familien ... die werden deine Dienste dann schon brauchen. Hier zu leben ist selbst für Schweden eine Umstellung."
Ich muss daran denken, wie Harry einen Teil des letzten Winters gar nicht hier war. Er musste noch ein paar Dinge in England oder sonstwo im Ausland erledigen, so dass er den dunkelsten Teil des Winters verpasst hat. Leider hat er dabei auch das lichterfüllte Lucia-Fest und das Weihnachtsfest verpasst. Das sind DIE Höhepunkte des Winters.
Dann verschwinde ich im Haus und komme erst nach einigen Minuten mit einem Tablett mit einer Karaffe voll Wasser, einem Krug Apfelsaft, Gläsern und drei kleinen Stücken Kuchen auf einem Porzellanteller wieder.
"Für Kaffee oder Tee, ist es zu warm... oder möchtest du welchen? Das ist kein Umstand." erkläre ich das Fehlen von heißen Getränken.