CliveIch spüre den gereizten Unterton in Oves Worten. Seine Verärgerung ist greifbar. Es wird nicht einfach werden, ihn zu beruhigen, denn sein Zorn basiert auf Angst. Angst vor dem Unbekannten und vor allem Angst um Kristine...
Harry Blackberry ist mir weitgehend fremd. Ich kenne ihn nur flüchtig. Es ist mir unangenehm, vor ihm über die Ereignisse zu reden. Ich bin mir unsicher, wie sehr ich ihm vertrauen kann. Es ist nicht zu erwarten, dass er meinen Worten überhaupt glauben schenkt. Vermutlich wird er mich für einen Irren halten und am liebsten einweisen lassen. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass Ove Mr. Blackberry gerade deshalb bittet zu bleiben, um mir die Situation ruhig ein wenig schwerer zu machen. Vielleicht will er mir auch einfach zeigen, dass er Blackberry mehr vertraut als mir.
Ich rufe mir in Erinnerung, wie unterschiedlich mein Lebensweg von dem Oves ist. Vermutlich ist es Ove überhaupt nicht möglich, meine Entscheidungen nachzuvollziehen oder gar zu billigen.
Mir bleibt nur, so viele Karten auf den Tisch zu legen, dass Ove eine Chance hat, meine Verhalten zu verstehen.
Für die Dauer meiner Überlegungen hängt ein unschlüssiges Schweigen im Raum.
Dann beginne ich langsam und stockend:
"Nun, Ove, ... Du bist offensichtlich verärgert über mich. ... Vermutlich weil ich Ayana nicht fortgeschickt habe. ... Ich begreife das. Du willst verstehen, warum ich so entschieden habe. Du hast ein Recht auf eine Erklärung ... und Kristine auch. Aber es ist nicht eben wenig, was Du von mir erwartest! Um mich wirklich verstehen zu können, müsste ich Dir sehr viel aus meiner Vergangenheit erzählen ... und selbst dann wäre es nur ein Bericht, der nur ein schwaches Abbild der Ereignisse darstellen könnte.
Ich könnte an Deine Ehre appelieren und darauf hinweisen, dass Ayana nur eine einzelne Frau ist, vor der ein Mann sich nicht zu fürchten braucht. Ich könnte auf Lunis Instinkte verweisen und darauf, wie zutraulich er zu dieser Frau war. Eine Frau zudem, die in diesem Land für jeden erkennbar fremd ist. Eine schöne Frau, die kein Gentleman bei einem solchen Unwetter und bei Einbruch der Nacht schutzlos ins Freie jagd. ...
Aber wir wissen beide, dass Ayana sehr genau weiß, was sie tut, und wahrscheinlich gefährlicher ist als jeder hiesige Mann, der sich gegen ihren Willen an ihr zu vergreifen versuchen könnte. Solche Kerle würden vermutlich in größerer Gefahr schweben als Ayana.
Ich denke, Du kennst mich auch gut genug, dass ich Ayana nicht aus unmoralischen Motiven heraus bei mir behalten habe. Auch wenn ich einräumen muss, dass sie etwas in mir berührt ...
Was waren also meine Gründe?"
Ich halte eine Weile inne und überlege. Es ist schwer, eine spontane Entscheidung zu erklären, die vor allem auf einem Gefühl basiert, selbst wenn dieses Gefühl seinerseits wieder das Ergebnis einer Fülle von Erlebnissen ist.
"Weiß ich selbst überhaupt, warum ich Ayana aufgenommen habe?""Ove, ich kannte Dich nur flüchtig und Kristine überhaupt nicht, als ich Euch hier aufgenommen habe. Das wenige, was ich von Euch wusste, reichte mir, Euch hierher einzuladen.
So bin ich mein ganzes Leben zumeist verfahren: Ich habe sehr schnell Menschen eingeschätzt und ich habe mich selten geirrt.
Hat Dir Matilde einmal von
Herm erzählt ... wie wir uns kennengelernt haben? Nein? Also, wir waren dort beide im Böcklin Haus, einer Klinik. Wir waren damals beide auf der Flucht ... irgendwie. Matilde vor 'La Main Droit' und ich vor ... etwas, das man schwer in Worte fassen kann und von dem ich glaube, dass es mich seit Jahrzehnten beharrlich sucht.
Ich hatte mir mit dem
Böcklin Haus den abgelegendsten Ort gesucht, den ich finden konnte, um zumindest eine Weile, vielleicht sogar für immer von der Bildfläche zu verschwinden. Ein Ort, an dem jeder Neuankömmling sofort auffallen würde. Ein Haus auf einer Insel, nicht viel mehr als ein karger Felsen im Meer. Auch in der Klinik habe ich lange keinen Kontakt zu anderen Gästen aufgenommen. Ich wollte mich frei machen von allen äußeren Einflüssen ... von Farben, dem zunehmenden Lärm der Menschen in den Städten, dem Trubel. Ich hätte auch in ein Kloster gehen können ... aber das schien mir unpassend, drehten sich meine Gedanken doch vor allem um Erkenntnisse über heidnische ... zutiefst unchristliche Lehren, die ich auf meinen Reisen gewonnen hatte.
Auf Herm kam es zu ... Anomalien ... die Realität schien sich irgendwie zu verschieben. Der Klinikleiter,
Dr. Livingstone, sprach plötzlich in einer fremdartigen Sprache ... Ich habe schon so manche Sprache gehört, aber keine wie diese! Ich war nicht der Einzige, der das bemerkte. Auch Paul Anderson, ein Patient, den ich wenige Minuten zuvor kennengelernt hatte, nahm dies wahr. Und wir hörten eine Frau schreien. Wie sich später herausstellte, war das Matilde. Paul erkannte ihre Stimme sofort und war sehr besorgt. Paul ... liebte Matilde ... auf eine schmerzhafte, hoffnungslose Weise.
Ich bin Paul gefolgt, lernte Matilde kennen und überstand mit ihnen die nächsten Stunden, in denen fast alle Bewohner der Insel verschwunden waren. Sie waren einfach fort, als hätte sich die Realität wie die Schienen bei einer Weiche aufgespalten und unser Wagon hätte sich losgerissen, um auf dem falschen Gleis weiterzufahren ... Die ganze Insel machte diese Veränderung durch ... die Tiere ... waren tot und lebten doch ... der Wind in den Bäumen wisperte mir zu ... Mehrere Menschen verschanden an diesem Tag ... oder starben. Unter ihnen auch Paul. ..."
Ich werfe einen vorsichtigen Seitenblick auf Harry Blackberry, als ich merke, was ich hier erzähle und mir bewusst wird, wie unglaubhaft das alles klingen muss.
"Aber ich schweife ab. Was ich sagen will: Wir waren in einer Notlage und ich habe Matilde und Paul vom ersten Augenblick vertraut. Es bedurfte keiner Worte dafür. Ich WUSSTE einfach, woran ich mit ihnen war. Das war für mich ganz selbstverständlich. Ich habe keinen Moment gezweifelt. Und ich wusste, wem ich NICHT trauen konnte."
Meine Züge verhärten sich, als das
immer noch verschwommene Bild von Amandas Gesicht in meiner Erinnerung erscheint. Gleichzeitig merke ich, wie mich noch heute ein Schauder packt, wenn ich an Amanda ... an Annephis ... denke. Ich wische die Erinnerung mühsam fort.
"Ayana hat einen starken Willen. ... Ein wenig so wie Matilde ... bevor ... nun, bevor sie ..."
"... sich aufgab?"Ich blicke Ove direkt in die Augen. "Matilde ist fort, Ove! ... Ich glaube nicht, dass ich sie wiedersehen werde! Es ist nur ein Gefühl ... aber Paul war ganze sechs Jahre fort, bevor er heute plötzlich im Dorf erschien. Sechs Jahre wie vom Erdboden verschwunden ... ohne irgendeine Spur zu hinterlassen ... ohne dass es für ihn einen Möglichkeit gegeben hätte, die Insel zu verlassen. Da war kein Schiff und kein Flugzeug ... rein garnichts.
Heute haben sich hier merkwürdige Dinge ereignet, die mich an Herm erinnert haben: Die Veränderung der Pflanzen ... die Farben ... das merkwürdige Verhalten der Dorfbewohner. Das waren nicht alles Zufälle! Wie sonst hätte Paul hier plötzlich erscheinen sollen, wenn es keine Verbindung zu den Ereignissen auf Herm gibt? Und wie hätten die Fremden hierher gelangen können ... alle zur gleichen Zeit?
Ich glaube, Paul hat Matilde mit sich genommen. Wo auch immer sie nun ist, ich hoffe es geht ihr dort gut ... besser als hier ... und sie findet sich selbst wieder."
Noch einmal verliere ich mich für einen Moment in der
Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft mit Matilde auf dem Manor. Ich brauchen einen Augenblick, um den roten Faden in meinen Ausführungen wiederzufinden.
"Matilde ist fort. Und mir bleibt nicht mehr viel Zeit, Ove. Ich bin alt ... und krank. Mein Körper ist ausgelaugt von den Jahren. Ich brauche jemanden, mit dem ich mein Wissen und meine Erlebnisse teilen kann." Ich vermeide es, Ove bei diesen Worten anzusehen.
"Ove ist nicht der Mensch, der von den Schrecken hören möchte, um die ich weiß. Er ist nicht der Mensch, der mit dem Wissen umgehen könnte. Wenn er ehrlich zu sich selbst ist, wird er das selbst erkennen. Und doch könnten ihn meine Worte verletzen.""Und Ayana könnte so ein Mensch sein ... Sie könnte stark genug sein! Ich weiß es nicht. Noch nicht. Aber ich möchte es herausfinden, kannst Du das verstehen?
Möglicherweise verfolgt sie im Moment keine Ziele, die wir als ... 'gut' oder 'nobel' bezeichnenen würden. Und ihr Benehmen ... entspricht nicht unseren hiesigen Vorstellungen von Moral. Sicher! ... Aber, dürfen wir sie überhaupt an diesen christlichen, europäischen Maßstäben messen, Ove? Bedenke woher sie stammt und wer sie ist! Sie verkörpert eine ganz andere Kultur und ich lehne es ab, diese als primitiv abzutun, nur weil der Wissenschatz solcher Kulturen sich von unserem unterscheidet!
Wir können nicht wissen, was Ayana zu dem Menschen gemacht hat, den wir heute hier kennengelernt zu haben glauben. ... Du kannst Dir nicht ausmahlen, wie sehr der schwarze Kontinent einen Menschen formen ... und verändern kann. ..." Wieder strömen Erinnerungen aus Afrika auf mich ein und meine Mimik spiegelt die Anstrengung deutlich wieder.
"Sie hat diese ... Veränderungen ... genutzt, um hier her zu kommen. Vielleicht kann sie mir helfen, die Ereignisse hier und auf Herm zu verstehen. Vielleicht kann sie mir helfen, etwas über Matildes Verbleib herauszufinden.
Ich möchte Ayana einfach kennenlernen. Etwas sagt mir, dass Ayana ANDERS ist als Karim oder Collins oder die deutschen Zwillinge. Sie ist MEHR. Sie befolgt nicht nur Befehle. Auch wenn sie jemand hergeschickt haben mag, handelt sie eigenständig. Sie ist nicht so ... servil ... ja, sklavisch, wie die anderen. Das lässt sie bedrohlicher wirken ... aber es macht sie auch wertvoller!
Urteilen wir nicht vorschnell über diese Frau, so fremd sie Dir auch erscheinen mag. Ich möchte herausfinden ... ob ich sie noch anleiten und auf den rechten Weg führen kann ..."
"... oder ob sie mächtiger ist als ich.""Wir können noch nicht einmal behaupten, Ayana in den wenigen Minuten 'kennengelernt' zu haben. Also bleibt uns nur unser Gefühl. ... Und mein Gefühl sagt mir, dass ich sie nicht fortschicken sollte ... anders als bei Matilde und Paul ... und doch irgendwie ähnlich."
"So ist es mir mit anderen Menschen in meinem Leben oft gegangen. Meine teuersten Freundschaften habe ich in wenigen Augenblicken geschlossen."
Ich denke an Ruairí und an Cainnech und an all die anderen toten Gesichter meiner Vergangenheit.
"Als ich jung war, mein Studium abgeschlossen und eine Erbschaft gemacht hatte, begann ich mit meinen Reisen. Das war Ende des vorigen Jahrhunderts. Ich habe die ganze Welt umsegelt, ferne Länder besucht, die man sonst nur aus Büchern kennt, ... und ich habe auch solche Orte gesehen, die noch auf keiner Landkarte verzeichnet waren oder deren Darstellung alleine auf Vermutungen und Gerüchten basierten ... in Afrika, in Asien und in Südamerika. Ich lernte unter anderem Sir Roger Casement ... oder Ruairí Dáithí Mac Easmainn, wie er tatsächlich hieß ... kennen. Auch diese Freundschaft entstand in Sekunden. Ruairí fragte mich und ich begleite ihn auf seiner berühmten Expedition im Auftrag der britischen Regierung in den Kongo ... Ich war damals noch jung und diese Reise veränderte mein ganzes Leben. ..."
Ich halte einen Augenblick inne und mein Blick schweift durch Oves realen Körper hindurch an weit entfernte Orte in eine lang vergangene Zeit.
"Es ist ... eine Qual, sich an diese Reise zu erinnern und sich den schrecklichen Bildern jener Tage zu stellen ... und doch vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht dorthin zurückkehren würde ...
Du weißt, ich war im Großen Krieg. Zu Beginn des Krieges befand ich mich im Osmanischen Reich. Später war ich in Flandern und habe den ganzen Schrecken des Krieges erlebt ... Es war schlimm. Menschen verwandelten sich in
gesichtslose Monstren. Ein
Kommandeur, der ... in seinem militärischen Ehrgeiz ... Grenzen überschritt ...
Überall Tote und Sterbende ..."
Ich halte kurz inne und mein Mund formt still die Worte: "Mkubwa Mkongwe Moja Mchinjaji"
"
Ich konnte vielen nicht helfen, weil meine Kräfte nicht reichten, weil die Versorgung mit Medikamenten und Verbandsmaterial unzureichend war oder weil das
Gas keine Chance auf Heilung gewährte.
Aber Flandern war ... nichts ... im Vergleich ... zum Kongo ...
Vielleicht empfinde ich das nur aus dem Grunde so, weil ich in Flandern älter war und schon so viel Leid davor gesehen hatte." Ich fühle mich plötzlich sehr müde und streiche mir über das Gesicht. "Ja, vielleicht ...", versuche ich mich selbst zu überzeugen.
Ich schüttele resigniert den Kopf, als könnte ich damit die Geister der Vergangenheit vertreiben.
"Der Kongo hat mich damals verändert. ... Er hat mich BERÜHRT!" Mich schaudert angesichts der Mehrdeutigkeit dieser Aussage und ich verdränge das Bild der pulsierenden schwarzen Adern aus meinen Gedanken.
"Ayana erinnert mich an eine Begebenheit im Kongo ...
... an eine afrikanische Frau ...
... den TOD einer afrikanischen Frau. ...
... Ich habe noch eine Rechnung offen ... eine Schuld zu begleichen, weil ich dieser Frau nicht helfen konnte ...
... und ich habe das Gefühl, dass Ayana der Schlüssel sein könnte, um diese Fessel zu lösen, die ich seit bald vierzig Jahren mit mir herumschleppe."
Ich blicke Ove ernst an:
"Ich verstehe es, wenn Du weglaufen möchtest ... wenn Du mit Kristine schnellstmöglich das Weite suchst ... Ihr beiden seid noch jung! Und ich selbst bin die meiste Zeit meines Lebens davongelaufen ... vor meine Erinnerungen ... vor dem, was ich im Kongo gefunden habe ... vor dem Tod.
Aber mein Weg ist bald zuende. ... Ich will nicht mehr fortlaufen.
Ich habe mich dem Tod im Pentonville Prison gestellt und ihm getrotzt. Und ich habe daraus gelernt, dass ich mit der Vergangenheit nur abschließen kann, wenn ich ihr entgegentrete, nicht wenn ich davonlaufe. Was bedeutet es für mich schon noch, wenn ich durch eine Flucht noch paar Monate oder wenige Jahre gewinnen sollte? Was ich will, sind Antworten! Ich will verstehen, was in London geschehen ist und davor. Ich will wissen, warum 'La Main Droit' Matilde verfolgt und gequält hat, damit ich ihr vielleicht doch noch helfen kann. Ich will wissen, was in der Änderungsschneiderei mit mir geschehen ist. Ich will WISSEN! ... Und glaube mir, niemand ist sich mehr bewusst als ich, dass das WISSEN, nach dem ich strebe, keine Heilsbotschaft ist. ..."
"Nein, es ist ein VIRUS ... ohne Chance auf Heilung!", stelle ich nur in Gedanken klar. An Ove gewandt resümiere ich lediglich:
"... Aber ich kann nicht so weitermachen wie bisher. Ich bereue es, mein Leben lang fortgelaufen zu sein.
Du musst entscheiden, ob Du um den Moment willen fliehen willst oder ob Du der Gefahr ins Auge blicken und kämpfen willst. Egal, wie Du Dich entscheidest, ich werde Dich verstehen und Dir helfen, wenn ich es vermag. Du kannst mit Kristine fortgehen ... aber ... es tut mir aufrichtig leid, Dir das sagen zu müssen ... wo auch immer Ihr hingeht ... ich fürchte, das hier wird Euch früher oder später wieder einholen.
Ihr würdet ÜBERLEBEN, aber Ihr könntet nie wirklich LEBEN. Ihr würdet immer fruchtsam über Eure Schultern blicken und könntet an keinem Ort in Ruhe etwas Beständiges aufbauen."
"Wie soll man auf der Flucht an Kinder denken? Wie kann man auf der Flucht eine Liebe leben? Ich konnte es nicht ...", erinnere ich mich.
"Glaub mir, ich weiß wovon ich rede!", schließe ich traurig meinen Monolog, worauf es am Tisch still wird. Erst nach einer kleinen Weile traue ich mich, Ove wieder in die Augen zu sehen.