CliveIch betrachte die
Tierzeichnungen und -ritzungen an den Wänden. Auch wenn ich die Kultstätte im Wald vor ihrer Zerstörung nicht gesehen habe, habe ich nun keinen Zweifel mehr, dass ein unmittelbarer Zusammenhang besteht.
"Und auch die Befestigung von Fellstreifen an Minkisi habe ich bereits im Kongo gesehen. Aber die Bedeutung ist mir leider nicht bekannt. Es ist parktisch unmöglich, die Männer, die in die Geheimnisse der Minkisi1 eingeweiht sind, zur Preisgabe ihres Wissens zu bewegen. ... Mir sind auch keine schriftlichen Niederlegungen ihres Glaubens aus erster Hand bekannt. ... Trotz all der Jahre ist mein Wissen über die Minkisi noch so schrecklich begrenzt", denke ich verzweifelt.
Ich nehme die alten Fellreste in Augenschein.
"Auf jeden Fall ist dieser hier älter, als ich angenommen hatte!""BAKISI! Seit wann verweilst Du an diesem Ort?", murmele ich gedankenverloren. "Wer brachte Dich hierher? Bist Du ein Nkondi? Willst Du das hier oder bist Du ebenso ein Opfer wie die armen Tiere um Dich herum?"
Dann werde ich mir wieder bewusst, dass Ove hinter mir steht. Ich beschließe, dass es am besten ist, ihn in einen Teil meiner Überlegungen einzuweihen:
"Im Kongo sind die Minkisi ein fester Bestandteil der Religion. Es gibt sie dort schon seit Jahrhunderten. Spätestens seit den ersten christlichen Missionierungen gibt es Minkisi mit Nägeln. Teilweise wird vermutet, dass dies eine Verbindung von christlichen und heidnischen Einflüssen ist. Der tratditionelle Nkisi soll sich mit der Geschichte des Heiligen Sebastianus verbunden haben ... Das wäre also dann ein wenig wie die keltischen Ringkreuze mit ihren vorchristlichen Mustern und Motiven. ... Ich habe jedoch Zweifel an dieser Theorie. Zu leicht ist die christliche Welt geneigt, Bezüge in ihrem eigenen Erkenntnishorizont zu suchen, die es oft in Wahrheit nicht gibt."
"Minkisi beherbergen Geister, die Bakisi. Manchmal dient ein Nkisi als transportables Grab für die Seele eines bestimmten Verstorbenen. Zu diesem Zweck wird etwas Erde oder ... etwas anderes aus dem Grab in den Nkisi gefüllt. Mit Hilfe der Geister in den Minkisi kann man Heilen oder auch Krankheiten verursachen. Man kann die Bakisi veranlassen, ein Vorhaben oder einen Menschen zu segnen ... oder zu verfluchen. Aggressive Geister unter ihnen nennt man auch Nkondi. Sie werden eingesetzt, um Straftaten aufzuklären und die Täter zu bestrafen. ..."
"Allgemein dienen die Nkisi den Menschen und damit eher guten Zwecken. ... Nur kann man sie auch missbrauchen."
Mir wird klar, dass ich gerade von den Bakisi und Zauberkräften als Fakten spreche und ich relativiere meine Ausführungen sicherheitshalber gegenüber Ove, auch wenn es sich nicht gut anfühlt:
"Ich mache das, um DICH zu schützen!", rechtfertige ich mich vorsorglich stumm, als könnte ER in seinem Tabernakel meine Gedanken lesen. Und ich bin mir dabei keineswegs sicher, ob ER es nicht kann ... oder jedenfalls früher einmal konnte.
"Das ist natürlich heidnischer Aberglaube, Ove. Aber wer immer diese Figur hier errichtet hat, wollte offenbar einen Nkisi erschaffen oder zumindest den Anschein erwecken. Und er wollte etwas mit diesen Ritualen bezwecken ... ... ... Mir ist nur noch nicht klar, ob der Nkisi mit den Misshandlungen der Tiere gequält werden sollte ... oder ob es sich um eine mir nicht bekannte finstere Variante der Minkisi handeln soll, die boshafte Bakisi beherbergt."
Schweren Herzens wende ich mich während meiner Ausführungen von den Zeichnungen ab und beobachte stattdessen Oves Reaktionen auf meine Ausführungen. Ich lauere auf Anzeichen, die mir Aufschluss darüber geben können, ob meine Ausführungen für ihn neu oder doch garnicht so fremd sind. Aber Oves geschundenes Gesicht im dämmrigen Licht der Laterne bleibt stumm.
"Zudem sind da diese Hirsche", fahre ich mit meinen Ausführungen fort. "Gibt es Hirsche in Afrika? Wenn ja, wie sehen sie aus? Welche Form haben ihre Geweihe?", frage ich mich. Ich lasse meine Gedanken schweifen: "Menschen mit Hirschgeweihen ... frühzeitlicher Schamanismus? ... Gehörnte Menschen? ... DER GEHÖRNTE? Der keltische Gott Cernunnos? ... Ein Gott der Natur, der Tiere und der FRUCHTBARKEIT ... das göttliche Versprechen an den Menschen auf Leben." Ich erschauere bei der Erkenntnis, wohin mich dieses Gedankenspiel führt und sehe ihn vor meinem inneren Auge: den
Sarg, der Leben verspricht.
"Nein, ein Feuer zu legen, ist im Augenblick KEINE Option!", wird mir klar.
"So einfach liegen die Dinge leider nicht.""Wenn wir diese ... Statue vernichten ... und rein hypothetisch unterstellen, es gäbe Bakisi ... dann würde wir den Geist töten und eine heilige Stätte schänden. Auch bei heidnischen Religionen sollte man soetwas nicht leichtfertig tun."
Ich hasse die Arroganz der sogenannten zivilisierten Welt, die aus meinen sorgsam gewählten Worten spricht. Aber ich kann es mir auf keinen Fall leisten, jetzt auch noch das Ansehen eines heidnischen Götzendieners zu bekommen.
"... Nicht nachdem ich Ayana aufgenommen habe ... in der gleichen Nacht, in der Matilde an einen unbekannten Ort verschwunden ist ... in der gleichen Nacht, in der Blitz und Donner und Sturm vom Himmel gesandt wurden. Nicht nachdem fremdländische Pilger sich wie ein Schwarm Heuschrecken aus dem Nirgendwo auf Seillean-Mòr Blàr gestürzt haben ... Nicht nachdem ich vor aller Augen herzkrank auf der Dorfstraße zusammengebrochen bin ... um dann wie von Geisterhand binnen Stunden zu gesunden." Ich schlucke, als mir das Ausmaß der Situation bewusst wird.
"Bisher war ich ein Sonderling, der Expeditionen zu den weißen Flecken auf der Landkarte unternommen hat. Wenn ich jetzt nicht aufpasse, halten die Leute mich wohlmöglich bald für den Antichrist! Und nur zu gerne wird so mancher vergessen, dass er in Wahrheit in meiner Schuld steht.""Ove, ich bin ganz ehrlich: Ich weiß nicht, ob wir das hier vernichten oder an einem anderen Ort verstecken oder
Inspektor McFlaherty zeigen sollten. ... Egal wie wir uns entscheiden, es könnte zu unserem Schaden sein. ..."
"Ich muss versuchen, das hier zu VERSTEHEN, um eine Entscheidung treffen zu können. ..."
Ich wende mich wieder dem Nkisi zu.
"Wie könnten wir Dich nur hier wegschaffen, ohne dass jemand etwas merkt oder Verdacht schöpft?", frage ich gedankenverloren in Richtung Nkisi. "Wenn McFlaherty wegen der Witwe hierher kommt, dann kann er nicht übersehen, dass an dieser Stelle irgendein großes Objekt gestanden hat. Das würde Fragen aufwerfen. Und wohin sollten wir Dich bringen? ... ... Vielleicht könnte ich McFlaherty ... BENUTZEN? ... Das auffälligste Verhalten ist oft zugleich das unscheinbarste. ... McFlaherty wird Dich als Beweismittel verwahren wollen ... Photos machen und dergleichen ... Aber er wird Dich kaum bis nach Mullingar verfrachten wollen, damit man es am nächsten Tag in allen Zeitungen sieht. ... Ich könnte ihm anbieten, das Beweisstück auf dem Grundstück des Manor zu verwahren ... nicht im Manor selbst ... in einem der Wirtschaftsgebäude ..."
Ich gehe zu der Tür im Boden und stampfe mit dem Stiefelabsatz darauf. Unter der Tür scheint ein Hohlraum zu sein. "Was ist da drunter?", frage ich Ove. Es ist mehr eine Aufforderung als eine Frage, weil mir klar ist, dass er noch nicht nachgesehen hat.
"Eine Grube im lehmigen Boden!" Mein Körper scheint schon einen Schritt weiter zu sein, als mein Verstand, denn er reagiert bereits auf ein Grauen, welches mein Verstand erst langsam zu ertasten beginnt.
"Piloerektion", klammert sich mein Geist in aufkeimender Furcht an die Rationalität der Profession.
"Ist das ein Grab? ... ... Was oder wen werde ich dort finden? ... Nur den Tod ... oder auch das Versprechen auf Leben?" Und plötzlich beschleicht mich ein böser Verdacht, der mein Herz wieder schmerzhaft in meiner Brust klopfen lässt. "Cainnech? ... Oder Matilde?", flüstere ich bestürzt, während das Blut aus meinem Gesicht weicht. Es ist mehr ein atemloser Hauch als gesprochene Worte. Aber ich MUSS jetzt Gewissheit haben.
"Halte Du die Lampe", sage ich ohne Ove anzusehen und reiche ihm das schwache Licht herüber. Als ich fühle, wie er die Laterne aus meiner Hand nimmt, lege ich Stock und Flinte neben mir ab und greife nach dem Knauf der Tür.
"BITTE ... erlaube das nicht ... nur DAS NICHT!"1 Minkisi ist ein Plural des Wortes Nkisi