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Pen & Paper - Rollenspiel => Pen & Paper - Rollenspieltheorien => Thema gestartet von: Zed am 4.04.2024 | 12:27

Titel: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Zed am 4.04.2024 | 12:27
Ich bin (A)DnD-sozialisiert, die Systemfamilie, die nicht als regelleicht gilt. Ich hänge wohl wegen dieser Prägung dem Dogma an, dass regelleichte Systeme sich nicht gut für lange, sich im Machtlevel entwickelnde Kampagnen eignen. Denn für mich gehören zu einer langen Kampagne spürbare Aufstiege und Weiterentwicklungen der Charaktere, die die Möglichkeiten der Figuren erweitern (analog zu DnDs Level 1-20). Ich kenne zuwenig regelleichte Systeme, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass diese die Progression der Charaktere gut modellieren.

Nehmen wir als Beispiele doch diese schlanken Systeme:

In diesem Thread haben 17 Tanelornys folgende Systeme (https://www.tanelorn.net/index.php/topic,127987.msg135214920.html#msg135214920) als "regelleicht" eingeordnet:

DSA 1
Knave 1e
Engel Arkana
PtbA
Fate

und First Orko hat in dem Thread noch folgende Systeme klarifiziert und ergänzt:

I Regelleicht
(entweder als Spielende sehr einfach und als SL maximal mittel, oder umgekehrt oder beides)

Dread
Geh nicht in den Winterwald
Itras By
Wanderhome
Sea Dracula
Ten Candles
Honey Heist
Ratten!
Feng Shui
Tricube Tales
Tales from the Loop
Tales of Equestria (My Little Pony)
The Pool
Polaris
Wushu
Turbo Fate

Seid so nett und zerstört oder bestätigt meinen Glaubenssatz.  8)
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Isegrim am 4.04.2024 | 12:36
DSA 1

Das ist ein Beispiel, dass man ein regelleichtes System mit deutlicher, lang dauernder Progression haben kann. Ich kann mir vorstellen, dass viele neuere Systeme das nicht unbedingt hinkriegen. Die sind sehr fokussiert (was DSA1 nicht ist), und eine Reihe Forumsmitglieder sagten, die taugen eher für One- oder Few-Shots, was offensichtlich das Gegenteil ist. Aber ein Gesetz scheint es nicht zu sein. Vielleicht eher, dass Leute, die lange Kampagnen haben wollen, eher zu anderen als regelleichten Systemen neigen. DSA1 war damals in den 80ern für viele die einzige verfügbare bzw bekannte Option, da nimmt man halt das, während es heute tausend Schwergewichte gibt, die deren bedürfnisse vielleicht besser erfüllen.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Sgirra am 4.04.2024 | 12:38
Es kommt echt auf die Erwartungshaltung an. Wenn Weiterentwicklung der Figuren gleichbedeutend mit mechanischer Entwicklung in Höhe und Breite ist, kann die Antwort eher Nein sein. Gleichzeitig habe ich lange Fate, PbtA und Year Zero-Kampagnen gespielt oder geleitet (oder leite sie immer noch), und da waren/sind die Figuren auch nach Jahren noch nicht am Ende (Coriolis geht bei uns ins fünfte Jahr mit überwiegend denselben Figuren wie am Anfang). Allerdings ist Progression für uns nicht gleich Spielwertsteigerung, sondern eben und vor allem auch narrative Figurenentwicklung.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 4.04.2024 | 12:39
Kurze Antwort: Ja, deine Überlegungen würde ich so teilen.

Regelleichte Systeme haben üblicherweise weniger Werkzeuge um längere Runden zu spielen, insbesondere was die Individualisierung der Charaktere und detaillierte Ausprägung angeht. 

Das betrifft auch das Powerlevel - aber natürlich nicht nur. Auch bei sehr langsamer Progression oder Wachstum in der Breite oder im Rahmen anderer Perspektiven (Rolle in der Welt, Charakterentwicklung etc.) bieten Regelwerke mit mehr Optionen genau dies. Mehr Optionen. Die gleichzeitig auch helfen können zu inspirieren.

Man kann dazu natürlich noch eine Anmerkung machen. Im Rollenspiel ist grundsätzlich und unabhängig vom Regelwerk natürlich alles möglich. Und darum bedeutet so etwas auch nicht, lange, progressive Kampagnen seien mit regelleichten  Systemen nicht möglich.

Man hat nur weniger Hilfsmittel.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 4.04.2024 | 12:49
Persönlich würde ich ja erst mal hinterfragen, warum die Kampagne unbedingt lang sein soll. :)

Denn bei Viele-Stufen-Aufstiegssystemen wie (A)D&D und einigen anderen Klassikern ist die Länge ja im Prinzip Selbstzweck: man soll klein anfangen und sich hochackern, und weil besagtes Hochackern genau so-und-so angelegt und verregelt ist, dauert das dann halt und muß diese Dauer dann auch mit (prinzipiell eigentlich x-beliebigem) Inhalt gefüllt werden. Und entsprechend läßt sich auch eine D&D-Kampagne praktisch ohne jede Änderung am System verkürzen, indem man beispielsweise festlegt "Okay, wir spielen bis Stufe 6 und dann hören wir auf".

Und umgekehrt lassen sich auch in einem System mit weniger ständigem Drehen am Charakter-Hamsterrad meiner Ansicht nach durchaus lange Kampagnen spielen, wenn man das möchte. Nur, wenn da die Motivation durch "Ich will meinen nächsten Powerup!" nur in abgeschwächter Form zum Tragen kommt oder gar ganz wegfällt, dann muß eben der Kampagneninhalt selbst in die Bresche springen und das Interesse der Gruppe am Weiterspielen wachhalten...ich weiß nicht, ob beispielsweise jede Kaufkampagne das ohne die XP-Jagd-und-Level-Up-Komponente so leisten würde. ;)
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 4.04.2024 | 13:01
Nur, wenn da die Motivation durch "Ich will meinen nächsten Powerup!" nur in abgeschwächter Form zum Tragen kommt oder gar ganz wegfällt, dann muß eben der Kampagneninhalt selbst in die Bresche springen und das Interesse der Gruppe am Weiterspielen wachhalten...

Das sicherlich - doch hier sieht man halt durchaus einen Vorteil der Progression. Und das ist schlichtweg Plausibilität. Wenn ich am Anfang der Kampagne schon die gleichen Mittel hätte wie am Ende könnte ich auch direkt den BBEG umhauen, die Welt ist gerettet, Ende der Geschichte.

Lange Kampagnen benötigen Progression. Es muss dabei nicht einmal zwingend eine Progression sein welche durch Anstieg im Powerlevel gezeigt wird, auch Mittel wie die Rolle des Charakters in der Spielwelt, Ausrüstung oder Charakterentwicklung sind möglich.

Aber irgendeine Art von kontinuierlicher Weiterentwicklung braucht es, sonst ergibt das Grundkonzept der Geschichte halt keinen Sinn mehr.

Regelschwere Systeme (in diesem Kontext sind dabei Systeme mit hohem Detailgrad gemeint, nicht solche mit komplizierten Regeln) haben hierbei den Vorteil viele verschiedene Optionen nutzen zu können um Charaktere individualisieren zu können. Und um Charakterindividualisierung geht es letztlich, den Unterschied zwischen dem Charakter zu Beginn und jenem am Ende.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: aikar am 4.04.2024 | 13:14
Naja, auch OD&D/Sword & WIzardry ist ja z.B. regelleicht und durchaus auf langes Kampagnenspiel mit Charakteraufstiegen ausgelegt.

Und auch Fate kennt Machtzuwachs in Form von Fertigkeitspunkten und neuen Stunts.

Die Frage ist eher: Wie häufig und wie feingranular will man den Machtzuwachs?

5 neue Spezialfertigkeiten und Zauber bei jedem Stufenaufstieg alle drei Abenteuer oder +X Punkte auf Y Fertigkeiten nach jedem Abend können ultra-schlanke Systeme natürlich inherent liefern.

Aber ich habe auch schon Aussagen gehört, dass D&D nicht für (endlos) langes Kampagnenspiel geeignet wäre, weil man bei Stufensystemen ja irgendwann das "Ende" erreicht.
Es ist alles eine Frage der Perspektive.

Lange Kampagnen benötigen Progression. Es muss dabei nicht einmal zwingend eine Progression sein welche durch Anstieg im Powerlevel gezeigt wird, auch Mittel wie die Rolle des Charakters in der Spielwelt, Ausrüstung oder Charakterentwicklung sind möglich.
Aber irgendeine Art von kontinuierlicher Weiterentwicklung braucht es, sonst ergibt das Grundkonzept der Geschichte halt keinen Sinn mehr.
Progression im Sinne von Veränderung bieten auch die leichtgewichtigen Systeme praktisch alle.
Aber für viele Spieler:innen gehört der Powerlevel-Anstieg halt dazu.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Feuersänger am 4.04.2024 | 13:17
Persönlich würde ich ja erst mal hinterfragen, warum die Kampagne unbedingt lang sein soll. :)

Das ist aber überhaupt nicht die hier gestellte Frage und wäre eher was für einen eigenen Thread.

Kampagnen können aus vielen Gründen lang gewollt sein, zB damit sich die Charaktere ordentlich entwickeln können (auch abseits der Regelwerte) oder weil halt einfach die Story episch ist und nicht an einem Nachmittag abgefrühstückt.

--

Zur Eingangsfrage: so ziemlich alle regelleichten Systeme, die _ich_ ausprobiert habe, haben sich für Kampagnenspiel als ungeeignet erwiesen.
Dass die SCs in solchen Systemen meist enorm schmalspurig sind, ist dabei nur ein Aspekt. Meist ist einfach das System nicht ausreichend belastbar für all die Dinge, die in so einer Kampagne passieren können, und es kommt früher oder später aufgrund irgendwelcher Regelartefakte mit kreischenden Bremsen zum stehen.

Ob das jetzt auf alle im OP genannten Systeme zutrifft weiss ich nicht, weil entweder gar nicht oder nur kurz angespielt.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 4.04.2024 | 13:22

Es ist alles eine Frage der Perspektive.
Progression im Sinne von Veränderung bieten auch die leichtgewichtigen Systeme praktisch alle.

Klar. Nur halt weniger. Mit geringerer Regelunterstützung.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: bobibob bobsen am 4.04.2024 | 13:28
Die hier aufgestellte These das Kampagnen interessant sind weil es eine SC progression gibt macht mich traurig.
Meine Motivation ist immer eine spannende Geschichte zu spielen, nicht meinen SC von Stufe 1 auf sehr hoch zu bringen.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: First Orko am 4.04.2024 | 13:29
Kurze Antwort - ein klares: Jain!  ;D

Lange Antwort: Wie immer kommt es auf Erwartungen, Vorlieben und Spielfokus an. Grundsätzlich hast du ja mit "progressiv" eine naheliegende Antwort vorweggenommen, denn natürlich eignet sich dafür ganz explizit nur ein System, welches Progression anbietet. Zugrunde liegt für so eine Spielweise u.a. das Motiv der Heldenreise - allerdings meist reduziert auf den Aspekt der "Verbesserung" des Charakters, während eigentlich (wenn wir mal ehrlich sind) bei Dauerkampagnen kein echtes, innerliches Wachstum stattfindet in dem Sinne, das Motivation, Überzeugung, Ziele und Umfeld der Figuren sich selten relevant ändern: Man hat seine Gruppe (manchmal wird einer ersetzt) und reist durch die Abenteuer-Weltgeschichte. Innerhalb gewisser Grenzen kann sich ein Charakter zwar entwickeln, wird sich aber bspw. kaum irgendwo länger niederlassen - einfach weil er dadurch die Kernmotivation des Spielenden "Ich will beim nächsten Abenteuer dabei sein!" unterlaufen würde.

Jetzt kann man natürlich den Spielfokus mehr auf diese inneren Werte legen und ableitend von persönlichen Motivation der SC (gemeinsam) überhaupt erst Abenteuer entwickeln, die diese Art der Charakterveränderung möglich machen und sogar fördern. In so einer Spielweise verliert die Werteprogression an Bedeutung, kann in Grenzfällen sogar hinderlich sein: Wenn ich zum Beispiel recht detailliert Charakterdramen ausspiele mit viel wörtlicher Rede, findet das quasi in Echtzeit statt. Gemessen an typischen Szenarien, wo auch mal Tage in wenigen Minuten vergehen, tun SC in der Spielzeit verhältnismäßig wenig - und doch will man ja (in einem entsprechenden System) vielleicht Erfahrungspunkte? Gibt ja auch Systeme, die für jede Sitzung pauschal Punkte vergeben. Im schlimmsten Fall habe ich dann einen SC, der 2 Stufen aufgestiegen ist und ein Dutzend Fertigkeiten verbessert hat, während man ingame nur eine Hochzeit durchgespielt hat  ;D *

Zugegeben ist das ein sehr konstruierter Fall, soll aber verdeutlichen, dass Ingame-Zeit und Progression idealerweise zusammen passen sollten. Verändere ich die Spielweise also, dass ich weniger Ingame-Zeit habe, spielt Werteprogression eine immer untergeordnete Rolle bis hin zu einem sehr konkreten Spielfokus oder sogar einem definierten Spielziel. In Honeyheist geht es darum, den Honig zu klauen - in einer Sitzung. In Ten Candles geht es um das Scheitern der SC - in einer Sitzung. In Wanderhome kann man schonmal mehrere Sitzungen damit zubringen, bis alle am Ende irgendwo ein Zuhause gefunden haben. Fate und PbtA sind dagegen durchaus auf längerfristige Charakterentwicklung eingestellt, ohne dass man spürbar "besser" wird und sich ggf. sogar voneinander entfernt - vielmehr verändern sich über die Zeit und Erlebnisse die Figuren und erhalten teilweise nur mehr bzw. andere Optionen, mit Situationen umzugehen.

Darüber hinaus brauchen simplere Systeme weniger Aufmerksamkeit von Beteiligten, es müssen seltener Regeln nachgeschlagen oder diskutiert werden und man bleibt mehr im Spielgeschehen involviert. Das sind Vorteile, die einem auf "innere Progression" fokussierte Kampagnen begünstigen können. Sie stehen dem auf jeden Fall nicht mehr im Wege, als komplexere Systeme.

Am Ende ist aber die Frage, ob sie gut geeignet sind, mit der Gegenfrage zu beantworten: Welche Art von Progression ist denn gemeint?

Einige der genannten Systeme können gut oder besser geeignet sein, als große Systeme. Andere dagegen sind gar nicht geeignet. Umgekehrt verlieren große Systeme mit langfristiger Progression ihre Stärke, wenn sie für kurze, schnelle Runden, Oneshots oder Minikampagnen genutzt werden.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: aikar am 4.04.2024 | 13:30
Die hier aufgestellte These das Kampagnen interessant sind weil es eine SC progression gibt macht mich traurig.
Meine Motivation ist immer eine spannende Geschichte zu spielen, nicht meinen SC von Stufe 1 auf sehr hoch zu bringen.
Das sei dir unbenommen. Aber ich habe über die Jahre den Eindruck gewonnen, dass du da da eher die Ausnahme bist.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: felixs am 4.04.2024 | 13:31
Die hier aufgestellte These das Kampagnen interessant sind weil es eine SC progression gibt macht mich traurig.
Meine Motivation ist immer eine spannende Geschichte zu spielen, nicht meinen SC von Stufe 1 auf sehr hoch zu bringen.

Beides schließt sich ja nicht aus.

Ich sehe es zwar auch so wie Du, mein Hauptziel ist auch, eine interessante Geschichte zu spielen, aber gleichzeitig kann man ja anerkennen, dass die Weiterentwicklung der Spielfiguren in eingen Genres zu den Konventionen gehört und entsprechend (oder aus anderen Gründen) gewünscht wird. Zumindest sehe ich nicht, dass die Weiterentwicklung der Spielwerte einer Spielfigur der Geschichte schadet. Beides muss halt zusammenpassen - so oder so.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 4.04.2024 | 13:33
Das sicherlich - doch hier sieht man halt durchaus einen Vorteil der Progression. Und das ist schlichtweg Plausibilität. Wenn ich am Anfang der Kampagne schon die gleichen Mittel hätte wie am Ende könnte ich auch direkt den BBEG umhauen, die Welt ist gerettet, Ende der Geschichte.

Wenn es denn nur die eine Geschichte um den einen umzuhauenden BBEG gibt -- dann ja. Aber das ist dann halt auch inhaltsseitig eine ziemlich einfallslose Kampagne, denn schließlich könnte ich dieselbe Handlung auch im Rahmen eines einzigen Abenteuers haben, ohne sie erst künstlich auf Länge aufblasen zu müssen. ;)

In der Praxis würde ich mich bei einer auf "länger" angelegten Kampagne deutlich eher an einschlägigen Medien im ausdrücklichen Serienformat als Vorbild orientieren (Fernsehserien in "real" und Zeichentrick, Comics, Groschenromane...), die ja auch ohne stetigen persönlichen Machtzuwachs seitens ihrer Hauptpersonen meist kein Problem damit haben, genügend Abwechslung bieten, um ihre Fans bei der Stange zu halten. Wenn ich davon nicht genug abkupfern kann, um dasselbe auch im Spiel zu schaffen, und die Progression unbedingt dazu haben "muß", damit's fluppt, dann wird diese nämlich ungemütlich schnell zu einer Form von Krücke...und da mag zwar hier und da absolut ihren Nutzen haben, dauerhaft angewiesen sein will ich auf sie aber nicht.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: KapitänOffensichtlich am 4.04.2024 | 13:41
Sind schlanke Systeme geeignet? Ja. Für alles. Nichts zu danken!

Vor allem SeaDracula. Wir spielen damit Boston Legal, aber reine Musicalfolgen
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 4.04.2024 | 13:54
Wenn es denn nur die eine Geschichte um den einen umzuhauenden BBEG gibt -- dann ja. Aber das ist dann halt auch inhaltsseitig eine ziemlich einfallslose Kampagne, denn schließlich könnte ich dieselbe Handlung auch im Rahmen eines einzigen Abenteuers haben, ohne sie erst künstlich auf Länge aufblasen zu müssen. ;)

Aufblasen muss man dort gar nix, es ist nur ein Beispiel für langfristige Ziele. Letztlich geht es genau darum, ob ein Regelwerk in der Lage ist eine Geschichte welche sich um langfristig erreichbare Ziele dreht zu ermöglichen und mit Regelhilfen zu unterstützen.

Dass ich auch Geschichten mit episodisch erreichbaren Zielen oder Geschichten mit kurzfristig erreichbaren Zielen spielen kann ist davon ja unbetroffen.

Ich glaube es macht wenig Sinn hier zu fragen warum man denn so etwas spielen wollen würde, am Ende geht es eher darum zu fragen mit welchen Regelwerken und wie diese bei dieser Art von Geschichten unterstützen können.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 4.04.2024 | 14:38
Aufblasen muss man dort gar nix, es ist nur ein Beispiel für langfristige Ziele. Letztlich geht es genau darum, ob ein Regelwerk in der Lage ist eine Geschichte welche sich um langfristig erreichbare Ziele dreht zu ermöglichen und mit Regelhilfen zu unterstützen.

Dass ich auch Geschichten mit episodisch erreichbaren Zielen oder Geschichten mit kurzfristig erreichbaren Zielen spielen kann ist davon ja unbetroffen.

Ich glaube es macht wenig Sinn hier zu fragen warum man denn so etwas spielen wollen würde, am Ende geht es eher darum zu fragen mit welchen Regelwerken und wie diese bei dieser Art von Geschichten unterstützen können.

Langfristige Ziele sind nur deshalb langfristig, weil man sie kurzfristig eben nicht erreichen kann -- das hat aber mit einem Protagonisten-Hochpowern erst mal grundsätzlich gar nichts zu tun. Schließlich muß ich, um ein Ziel am anderen Ende der Welt zu finden, wenn ich nur ein Segelschiff habe und den Weg noch nicht kenne, auch nicht erst zwingend den Überschalljet und GPS erfinden.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Zed am 4.04.2024 | 15:02
Die hier aufgestellte These das Kampagnen interessant sind weil es eine SC progression gibt macht mich traurig.
Meine Motivation ist immer eine spannende Geschichte zu spielen, nicht meinen SC von Stufe 1 auf sehr hoch zu bringen.
@nobody und alle, die die Ausgangsfrage schwierig/traurig finden:

Meine Frage geht mit voller Absicht die Richtung "Kampagnen, in denen die Charaktere ihren Machtlevel weiterentwickeln". Bitte bleibt hier bei dieser Frage.

Macht aber gerne einen eigenen Thread mit einer für Euch geeigneteren Ausgangsfrage auf.  :)

@bobibob bobsen
Ich spiele mit meiner Runde seit Mitte der 90er in derselben Kampagne. Sogar über Systeme hinweg: Erst einem microliteartigen System, dann dem (uns zu tödlichen) RuneQuest und seit Mitte der Nuller Jahre in DnD-3.5. Jetzt sind alle SCs 19. Stufe, und unsere Kampagne steuert auf ein großes Finale zu. Szenen, die wir vor fast 30 Jahren gespielt haben, werden wieder aufgegriffen und ergeben für die SCs plötzlich einen neuen, "letzten" Sinn. Sehr alte Feinde und Verbündete tauchen wieder auf und sind nun vielleicht neue Verbündete oder neue Feinde.

Man könnte mir für zukünftiges Spiel andere Systeme nahelegen, aber die Ausrichtung an derart lange Kampagnen würde ich niemals gegen One- oder Few-Shots eintauschen wollen.

Oder kurz: Auch meine Motivation ist "immer eine spannende Geschichte zu spielen", nur dass für mich ein wichtiger Teil der Geschichte auch aus der Langfristigkeit und dem Machtanstieg folgt.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 4.04.2024 | 15:07
Langfristige Ziele sind nur deshalb langfristig, weil man sie kurzfristig eben nicht erreichen kann -- das hat aber mit einem Protagonisten-Hochpowern erst mal grundsätzlich gar nichts zu tun. Schließlich muß ich, um ein Ziel am anderen Ende der Welt zu finden, wenn ich nur ein Segelschiff habe und den Weg noch nicht kenne, auch nicht erst zwingend den Überschalljet und GPS erfinden.

Durchaus. Aber selbst in diesem Beispiel ist ein Unterschied zwischen dem Charakter zu Beginn und dem bei Erreichen des Ziels. In diesem Fall halt - "Hat ein Segelschiff und weiß wohin dies segeln soll".

Alles erst einmal nichts was regelleichte Systeme nicht könnten, natürlich. Regelschwere Systeme würden hierzu aber mehr Details hinzufügen. Bieten Hilfsmittel um dies weiter auszugestalten. Und genau dies ist der Punkt: wenn man am Ende der Kampagne fragt worin sich der Charakter weiterentwickelt hat so kann man anhand der Systeme halt auch eine Antwort darauf geben welche sich bei regelleichten und regelschweren (im Sinne vieler Details) unterscheiden.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 4.04.2024 | 15:18
@nobody und alle, die die Ausgangsfrage schwierig/traurig finden:

Meine Frage geht mit voller Absicht die Richtung "Kampagnen, in denen die Charaktere ihren Machtlevel weiterentwickeln". Bitte bleibt hier bei dieser Frage.

Na, da kann ich zumindest eins sagen: natürlich eignen sich dann Systeme nicht, die das Spezialziel Machtlevelweiterentwicklung nicht "angemessen" unterstützen. Hat natürlich seinerseits nur bedingt mit der Kampagnenlänge zu tun, denn wenn ich den Aufstieg einfach nur im hinreichenden Turbogang durchdrücke, dann kann ich auch beispielsweise innerhalb von zehn Sitzungen von Stufe 1 bis 20 kommen (einfach jeweils einen Levelup gegen Mitte und einen am Ende des Spielabends einlegen). Insofern, denke ich, vermischt die Ausgangsfrage da einfach zwei Konzepte, die ursächlich so nicht zusammengehören.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Quaint am 4.04.2024 | 15:34
Nicht alle regelleichten Systeme sind für lange, progressive Kampagnen geeignet. Es gibt sie aber schon. DSA 1 wurde ja schon genannt.
Ich denke wenn man einfach mehr bewegliche Teile und Stellschrauben hat, dann gibt es auch einfach mehr Möglichkeiten irgendwo etwas zu verbessern.
Man muss aber auch sagen, dass sowas wie DnD mit seinen Leveln eine sehr extreme Charaktersteigerung hat. Das geht ja von "Angst vor einem Goblin" bis hin zu "Götter und Erzdämonen vermöbeln". Und wenn das der Maßstab ist - ja so eine extreme Progression haben nicht viele Systeme, und auch nicht viele regelleichte Systeme.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 4.04.2024 | 16:10
Den Machtlevel selbst kann man eigentlich recht gut von der Frage nach Regeldichte trennen.

Wenn ich sage Paul wird vom Lehrling zum Erzmagier so geht dies prinzipiell natürlich auch in einem extrem regelleichten System.

Wo sich regelleichte Systeme von regelschweren unterscheiden ist bei der Frage wie diese neue Rolle im Spiel dargestellt wird und wie viele Zwischenstufen dazu mit wie viel Charakterindividualisierung angeboten werden.

Kurzum in der Frage: wie genau unterscheidet sich der Charakter von seinem früheren selbst?

Hier haben regelschwere Systeme (wie gesagt nicht im Sinne "kompliziert", sondern eher im Sinne "Regeldicht, Umfangreich") Vorteile indem sie mehr Hilfsmittel anbieten um Charaktere sowohl auf gleicher Progressionsstufe als auch über Progression hinweg zu differenzieren.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Zed am 4.04.2024 | 16:25
Wenn ich sage Paul wird vom Lehrling zum Erzmagier so geht dies prinzipiell natürlich auch in einem extrem regelleichten System.
Bislang wurde hier DSA 1 (mit Einschränkungen) (https://www.tanelorn.net/index.php/topic,128009.msg135215060.html#msg135215060) genannt und OD&D:

Naja, auch OD&D/Sword & WIzardry ist ja z.B. regelleicht und durchaus auf langes Kampagnenspiel mit Charakteraufstiegen ausgelegt.
Und ich denke, bei diesen Beispielen kann ich mitgehen.

Es kommt echt auf die Erwartungshaltung an. Wenn Weiterentwicklung der Figuren gleichbedeutend mit mechanischer Entwicklung in Höhe und Breite ist, kann die Antwort eher Nein sein. Gleichzeitig habe ich lange Fate, PbtA und Year Zero-Kampagnen gespielt oder geleitet (oder leite sie immer noch), und da waren/sind die Figuren auch nach Jahren noch nicht am Ende (Coriolis geht bei uns ins fünfte Jahr mit überwiegend denselben Figuren wie am Anfang). Allerdings ist Progression für uns nicht gleich Spielwertsteigerung, sondern eben und vor allem auch narrative Figurenentwicklung.
Spannend! Kannst Du das noch näher ausführen? (Ich habe jedoch gar keine Erfahrung mit den genannten Systemen, daher brauche ich DAU-Erläuterungen.)
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 4.04.2024 | 16:37
Bislang wurde hier DSA 1 (mit Einschränkungen) (https://www.tanelorn.net/index.php/topic,128009.msg135215060.html#msg135215060) genannt und OD&D:
 Und ich denke, bei diesen Beispielen kann ich mitgehen.

Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht ob ich diese nennen würde, da beide schon eine sehr viel größere Spannweite an regeltechnischer Charakterindividualisierung (zumindest für manche Charaktere) vorsehen als spätere regelleichte Regelwerke.

Und schon sehr früh z.B. im D&D Bereich auch Aspekte wie die Regeltechnische Umsetzung von sozialem Aufstieg, beispielsweise durch Gefolgsleute und Burgen, Diebesgilden und dergleichen hineinkamen welche es so in vielen regelleichten Systemen nicht gibt.

Aber es sind halt immer Abstufungen und teilweise sind die Spiele auch aufgrund ihrer Themen schwer vergleichbar.

Was man wohl sagen kann ist, dass Systeme mit hoher Charakterindividualisierung und der Möglichkeit diese im Laufe des Spiels anzupassen für längere Kampagnen besser geeignet sind.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Fillus am 4.04.2024 | 16:47
Es gibt auch bei vielen regelleichten Spielen, sogar die ohne Stufen oder Klassen, Möglichkeiten den Charakter mechanisch weiterzuentwickeln. Das ist dann nur losgekoppelter. Zum Beispiel über die Ausrüstung, magische Gegenstände, etc.

Das kann sogar soweit gehen, dass der Charakter ein Lager hat und sich für jede "Mission"  am sinnigsten Ausrüstet. Gibt genug Gegenstände sie einem in eine Richtung drücken können und es so auch möglich ist die "Standardrollen" mal zu tauschen aller "Heute bin ich der Tank".

Außerdem, wenn sie die Charakterstärke eher über die Items definiert, ist das Geld auch mehr wert. Wenn diese in häufigerer Zahl, aber spezialisierter sind oder sogar nur einige Male benutztbar sind, Seinen wir ehrlich, in Spielen die D&D, Pathfinder und Co, wird das Geld zur Nebensache.


Ich bin zwar auch der Meinung, mit umfangreichen Spielen, kann man die längeren Kampagnenspielen, was aber auch daran liegt das man Kleinteiliger besser wird. Und auch da, viele der umfangreichen Spiele funktionieren mechnaisch nicht mehr so gut wenn es in die höheren Stufen kommt. Warum gibt es keine offiziellen Kampagnen für D&D5 über Stufe 15 (Nein, diese verrückte Magier x Etagen zusammengeschusterte Megadungeon Dings ist für mich keine Kampagne). So oder so müssen also bei der SL oder den Spielern Komrpomisse eingegangen werden.

Die Entwicklung was das Rollenspiel angeht, würde ich auch nicht unbedingt gleich setzen.
Da gibt es die Entwcklung des Charakters durch die Geschehnisse im Spiel und dann die, welche durch die mechanischen Steigerungen zustande kommen. Wenn es gut läuft, werden beide miteinander verknüpft. Wenn nicht, dann kann der Charakter auf Stufe 3 plötzlich ganz andere Dinge aus dem Nichts.

Aber, ohne es wertend zu meinen, sind diese mechanischen Verbesserungen auch einfach Hilfestellungen was das Rollenspiel angeht. Also die Idee samt Verbesserungen geben einem sozusagen einen Masterplan für das Rollenspiel an die Hand, während man in vielen kleineren Systemen viel mehr selbst ausarbeiten muss. Daher kann es bei den leichteren Spielen auch passieren das man sie da verrennt, manchmal nicht weiter wiß wie der Charakter sich entwickeln soll. Aber das wird denke ich nicht so oft passieren.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: felixs am 4.04.2024 | 17:05
Meine Frage geht mit voller Absicht die Richtung "Kampagnen, in denen die Charaktere ihren Machtlevel weiterentwickeln".

Ich denke, es ist klar, dass für die meisten Spieler dann ein Regelsystem passend ist, welches diesen Machtlevel anschaulich darstellt. Dazu gehört, weil Leute es halt so gewohnt sind, ein breites Angebot an Stellschrauben, anhand derer dieses Machtniveau in Regeln und Spielwerten modelliert wird.

Es müsste nicht so sein. Grundsätzlich würde es reichen, ein sehr simples System zu nehmen; eigentlich könnte man einfach ein Machtniveau in einem Prozentwert angeben und alle Proben darauf mit einem W100 würfeln. Aber vermutlich würde den meisten Spielern dann "etwas fehlen".
Konkretes Beispiel: Ich wollte gern eine Fantasy-Kampagne mit Blue Hack leiten. Hat nicht funktioniert, weil die Spieler ihre Figuren durch die Spielwerte nicht ausreichend plastisch beschrieben fanden und auch weil die Belohnungen und Aufstiegsmöglichkeiten in ihrer Zahl überschaubar sind. Tatsächlich wächst das Machtniveau sogar enorm an - es "fühlt sich aber nicht richtig an". Ich fand das unproblematisch, zwei von vier weiteren Mitspielern fanden es aber richtig blöd.

Entsprechend besteht die Kunst in der Praxis wohl darin, etwas zu finden was so regelleicht wie möglich ist, andererseits aber auch ausreichend Raum dafür bietet, Unterschiede und wachsende Machtniveaus darzustellen. Lässt sich wahrscheinlich nicht leicht beschreiben oder eingrenzen und ist vermutlich auch für jede Gruppe etwas anders. Und so erklärt sich vermutlich auch die große Menge an Regelwerken, die über die Jahre geschrieben wurde.

Ich würde außerdem hier erneut die These in den Raum stellen wollen, dass viele (die meisten?) Spieler Regelwerke überhaupt nicht ausnutzen wollen. Die Sachen sollen einfach da sein, man möchte sie  mal gesehen haben, wissen, was es für Optionen gibt. Und dann einen Krieger spielen und alle Steigerungspunkte in Kraft und Schwertkampf stecken (ohne Schild, weil die Regeln zu kompliziert sind); oder einen Magier, aber bei der Hälfte der Zauber, die die Figur mal gelernt hat, hat der Spieler bestenfalls eine ungefähre Vorstellung, wie diese funktionieren.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: aikar am 4.04.2024 | 19:42
Meine Frage geht mit voller Absicht die Richtung "Kampagnen, in denen die Charaktere ihren Machtlevel weiterentwickeln". Bitte bleibt hier bei dieser Frage.
Kurze Antwort: Machtgewinn lässt sich auch mit schlanken Systemen problemlos darstellen.
Selbst wenn ich ein System habe, dass nichts anderes verwendet als 1WX+Stufe, ist das ein Machtgewinn mit jeder Stufe. OD&D ist da z.B. schon sehr nah dran.

Dazu gehört, weil Leute es halt so gewohnt sind, ein breites Angebot an Stellschrauben, anhand derer dieses Machtniveau in Regeln und Spielwerten modelliert wird.
Das ist eher das Thema. Wenn die Spieler:innen viele Stellschrauben und regelmechanische Features wollen um den Machtzuwachs ihres Charakters abzubilden, ist das natürlich irgendwann nicht mehr schlank.

Das ist aber grundsätzlich mal ein völlig unabhängiger Wunsch vom regelmäßigen Machtgewinn.

Ich kann theoretisch auch ein System mit vielen Fertigkeiten und Sondertalenten haben, bei dem sich die Charaktere nach dem Bau praktisch gar nicht mehr weiterentwickeln.

d.h. die beiden Anforderungen sind völlig unabhängig und man sollte abklären, welche davon eigentlich das Ziel ist.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: felixs am 4.04.2024 | 19:54
Ich vermute, dass es hilfreich sein könnte zwischen zwei Dingen zu unterscheiden:

Einerseits Systeme, welche Funktionen aufweisen, die einen definierten Bedarf erfüllen.

Andererseits Systeme, welche Erwartungen erfüllen, die bei real existierenden Spielern bestehen.

Ersteres ist eine theoretische Diskussion. Zweiteres hat große praktische Relevanz, weil Leute ja eben nicht als unbeschriebene Blätter aus dem Nichts an das System herantreten.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 4.04.2024 | 19:56
Wenn die Spieler:innen viele Stellschrauben und regelmechanische Features wollen um den Machtzuwachs ihres Charakters abzubilden, ist das natürlich irgendwann nicht mehr schlank.

Das ist aber grundsätzlich mal ein völlig unabhängiger Wunsch vom regelmäßigen Machtgewinn.

Das sicherlich. Aber ist es auch unabhängig von einem derartigen Machtgewinn in Kombination mit einer langen, fortschreitenden Kampagne? Denn im Kontext einer solchen ist die Entwicklung der Charaktere, gerade auch mit solchen kleinen Details durchaus wichtig.

Ich würde dort Machtgewinn eigentlich nicht als Selbstzweck betrachten, es ist nur eine Möglichkeit um Charakterentwicklung zu betreiben und das Fortschreiten der Kampagne mit dieser Entwicklung zu verbinden.

Letztlich kann man ganz allgemein sagen, regelschwere Systeme bilden Charaktere detaillierter und individueller ab. Und das gilt halt sowohl für den Unterschied zwischen Charakter A und Charakter B als auch zwischen Charakter A zu Beginn des Abenteuers und dem gleichen Charakter am Ende.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: aikar am 4.04.2024 | 20:05
Letztlich kann man ganz allgemein sagen, regelschwere Systeme bilden Charaktere detaillierter und individueller ab. Und das gilt halt sowohl für den Unterschied zwischen Charakter A und Charakter B als auch zwischen Charakter A zu Beginn des Abenteuers und dem gleichen Charakter am Ende.
Jein. Ja, in den meisten Fällen ist detaillierte feingranulare Charaktere = regelschwer.

Das ist aber eigentlich nur eine Korrelation, keine Kausalität.

Ein Gegenbeispiel anhand eines hypothetischen Systems:

Man hat 50 verschiedene Fertigkeiten, einen Teil davon hat jeder Charakter, ein Teil ist Spezialwissen (eine durchaus häufiger vorkommende Variante).
Alle Fertigkeiten haben Werte von 1-99.
Gewürfelt wird einfach mit einem W100 gleich oder unter der Fertigkeit. Optional gibt es noch Vorteils- und Nachteilswürfel wie bei D&D5, wobei der höhere bzw. niedrigere zählt.

Das System ist sehr schlank, bietet aber trotzdem ein sehr großes Spektrum, in dem Charakterkonzepte unterschiedlich abgebildet und über lange Zeit weiterentwickelt werden können.

Regelschwer wird ein System vor allem durch situationsbedingte Spezialregeln und Subsysteme, die im Grunde Spiele im Spiel darstellen. Die sind aber für die differenzierte Abbildung der Charaktere nicht zwangsweise notwendig. Zumindest nicht von einer simulationistischen Perpektive. Rein gamistisch betrachten mag man es natürlich so sehen, dass nur unterschiedliche Mechaniken Charaktere individuell machen. Und dann wird es komplex.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 4.04.2024 | 21:44
Um bei deinem Beispiel zu bleiben: nimm mal an, ich würde diesem System noch Spezialfähigkeiten hinzufügen welche den Wurf beeinflussen oder neue Anwendungsmöglichkeiten bieten.

Fraglos macht dies das Regelsystem "schwerer" (im Sinne von der Regeldichte) aber es ermöglicht eben auch zwei Charaktere über mehr als nur ihre Zahlenwerte zu unterscheiden. Um genau zu sein ermöglicht es auch den gleichen Charakter zu unterschiedlichen Zeiten besser zu unterscheiden als dies in der "schlankeren" Variante möglich war.

Umgedreht könnte man die von dir beschriebenen Regeln noch weiter vereinfachen und würde auch damit Unterscheidungsmöglichkeiten einbüßen.

Insofern: nein, eine bloße Korrelation ist es nicht. Sondern eher ein Werkzeug von vielen mit denen eine solche Individualisierung und Unterscheidbarkeit ermöglicht werden kann.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: flaschengeist am 4.04.2024 | 22:13
Zur Eingangsfrage: so ziemlich alle regelleichten Systeme, die _ich_ ausprobiert habe, haben sich für Kampagnenspiel als ungeeignet erwiesen.
Dass die SCs in solchen Systemen meist enorm schmalspurig sind, ist dabei nur ein Aspekt. Meist ist einfach das System nicht ausreichend belastbar für all die Dinge, die in so einer Kampagne passieren können, und es kommt früher oder später aufgrund irgendwelcher Regelartefakte mit kreischenden Bremsen zum stehen.

Das ist genau meine Erfahrung. Wenn ich aber unterstelle, dass Spieler kein Interesse an Charakterentwicklung jenseits von Narration haben und fein damit sind, dass alle möglichen Regelfragen mit einem Mechanismus wie "W6, hoch ist gut" beantwortet werden, dann ist für jene Spieler auch das schmalspurigste System noch kampagnentauglich.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: aikar am 5.04.2024 | 06:57
nimm mal an, ich würde diesem System noch Spezialfähigkeiten hinzufügen welche den Wurf beeinflussen oder neue Anwendungsmöglichkeiten bieten.

Fraglos macht dies das Regelsystem "schwerer" (im Sinne von der Regeldichte) aber es ermöglicht eben auch zwei Charaktere über mehr als nur ihre Zahlenwerte zu unterscheiden.
Was ich ja auch geschrieben habe:

Rein gamistisch betrachten mag man es natürlich so sehen, dass nur unterschiedliche Mechaniken Charaktere individuell machen. Und dann wird es komplex.

d.h. die Antwort auf die Eingangsfrage ist: Grundsätzlich ist Fortschritt (und sogar Machtgewinn) auch über längere Zeit auch mit einem einfachen System möglich.

Für Spieler, denen die Unterscheidung der Charaktere durch komplexere Sondereffekte und -fähigkeiten wichtig ist, werden extrem schlanke Systeme das aber nicht erfüllen. Das gilt dann aber genauso für One-Shots und hat erst mal nichts mit der Eingangsfrage zu tun.

Das ist genau meine Erfahrung. Wenn ich aber unterstelle, dass Spieler kein Interesse an Charakterentwicklung jenseits von Narration haben und fein damit sind, dass alle möglichen Regelfragen mit einem Mechanismus wie "W6, hoch ist gut" beantwortet werden, dann ist für jene Spieler auch das schmalspurigste System noch kampagnentauglich.
Das ist halt wieder mal die Reduktion auf den Extremfall.
Es gibt ja zum Glück nicht nur "W6 hoch ist gut" und DSA4.1.

Zur Eingangsfrage: so ziemlich alle regelleichten Systeme, die _ich_ ausprobiert habe, haben sich für Kampagnenspiel als ungeeignet erwiesen.
Dass die SCs in solchen Systemen meist enorm schmalspurig sind, ist dabei nur ein Aspekt. Meist ist einfach das System nicht ausreichend belastbar für all die Dinge, die in so einer Kampagne passieren können, und es kommt früher oder später aufgrund irgendwelcher Regelartefakte mit kreischenden Bremsen zum stehen.
Interessant. Die Kritik der geringeren Anpassbarkeit der Charaktere ist mir schon öfter untergekommen und nachvollziehbar, ebenso wie das ohne regelmäßige kleine Verbesserungen der Belohnungsaspekt abgeht, aber eigentlich noch nie, dass mir in einer Kampagne mit regelleichten Systemen irgendwelche Regelprobleme groß im Weg gestanden hätten. Vor allem weil bei leichten Systemen auch viel einfacher Rulings zu improvisieren sind als bei komplexen. Hast du da konkrete Beispiele?
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: felixs am 5.04.2024 | 09:52
Für Spieler, denen die Unterscheidung der Charaktere durch komplexere Sondereffekte und -fähigkeiten wichtig ist, werden extrem schlanke Systeme das aber nicht erfüllen. Das gilt dann aber genauso für One-Shots und hat erst mal nichts mit der Eingangsfrage zu tun.

Das ist sicher richtig. Vermute aber, dass es nicht wenige Leute gibt, die bei kurzen Spielen ohne lange Kampagne eher auf komplexe regelseitige Ausgestaltung der Spielfiguren verzichten können/wollen, als bei solchen mit langen Kampagnen.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Ludovico am 5.04.2024 | 10:08
Nach meiner Einschätzung geht das sehr gut.
Aktuell setze ich meine Warbirds-Runde neu auf. Das ist ein schlankes und regelleichtes System mit klassischen Elementen.
Wir haben Staffel 1 (ich plane wie in Fernsehstaffeln) und hab da bereits gesehen, dass die Charaktere zwar stärker und besser werden, aber es sehr viele Entwicklungsmöglichkeiten gibt.

Ebenso fange ich nun an mit der Kinderrunde Tiny Dungeon 2nd Progression einzuführen und das bei einer längeren Kampagne. Das ist zwar erst der Anfang, aber ich sehe  sehr viele Entwicklungsmöglichkeiten bei einem wirklich einfachen System.

Und ich bin ein Fan langer Kampagnen. Meine Ideen sind auch langfristig ausgelegt.

Die Hauptproblematik bei längeren Kampagnen, dass mit steigender Macht Kämpfe schnell langweilig werden können bei einfachen System, da es mit Pech zu einem reinen HP-Runterkloppen wird. Das muss ggf. dann als Problem angegangen werden. Das betrifft auch komplexe Systeme wie Pathfinder und DnD5
Hier gibt es diverse Möglichkeiten:
-Niedrige HP auf allen Seiten. Kämpfe sind schnell und tödlich.
-Mehrere Gegner mit einem Endboss mit relativ niedrigen HP. So stellt sich schnell das Gefühl ein, etwas geschafft zu haben.
-Verschiedene Kampfoptionen (das ist der Weg, den komplexe Systeme gehen)
-Narrative Mittel (die aber zugegeben schnell ausgelutscht sind)

Die Unterscheidung zwischen den komplexen und den schlanken Systemen sehe ich vor allem bei Kämpfen und da vor allem bei den Optionen und Stellschrauben, die die Spieler im Kampf haben.
Aber unter'm Strich ist das Prinzip mit schlanken Systemen identisch.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 5.04.2024 | 10:09
Das ist sicher richtig. Vermute aber, dass es nicht wenige Leute gibt, die bei kurzen Spielen ohne lange Kampagne eher auf komplexe regelseitige Ausgestaltung der Spielfiguren verzichten können/wollen, als bei solchen mit langen Kampagnen.

Ich denke vor allem, daß die Vorliebe für oder Abneigung gegen komplexe SC-Charakterbögen an sich schon eine Frage des persönlichen Geschmacks ist. Für mich persönlich fällt da völlig unabhängig von der Kampagnenlänge ab einem gewissen Komplexitätsgrad vor allem Ballast an -- Informationen über meinen Charakter, die mich eigentlich wenig bis gar nicht interessieren, die ich aber mitschleppen und verwalten "muß", weil die Regeln und ggf. schon der grundsätzliche Denkansatz hinter ihnen nun einmal darauf bestehen, daß sie da zu sein haben. Anderen Spielern und Spielleitungen wird's aus möglicherweise unterschiedlichen Gründen in dieser Hinsicht anders gehen, oder zumindest sind sie in dieser Beziehung belastbarer, bevor es auch für sie irgendwann zuviel wird, aber ich muß halt zuallererst einmal mit mir klarkommen... ;)
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Isegrim am 5.04.2024 | 10:32
Die Hauptproblematik bei längeren Kampagnen, dass mit steigender Macht Kämpfe schnell langweilig werden können bei einfachen System, da es mit Pech zu einem reinen HP-Runterkloppen wird.

Dagegen gibt es ja die Spirale "Je mächtiger die SCs, desto mächtiger werden auch die NSCs", und sich das im Prinzip auspendelt. Mehr Hitpoints + mehr Schadensoutput = eigentlich kein Unterschied.

Bei komplexen Systemen ist es aber oft nicht so einfach; bzw nicht einfach so. Klar gibt es den Effekt, aber dazu kommen bei SCs und NSCs oft mehr Möglichkeiten, mehr Special Skills, mehr Drumherum. Ich bin zwar kein D&D-Spielr, aber nach allem, was ich weiß, zeigt sich das da doch recht deutlich: Auf Stufe 1 kloppt man Goblins oder so, die neben niedrigen Werten haben und nichts können, und die SCs haben kaum Fähigkeiten, Feats, Zauber oder was auch immer. Auf Stufe 20 kloppt man irgendwelche Übermonster mit krassen, seltenen Fähigkeiten, und die SCs haben ebenfalls eine lange Latte an solchen, und Zauberlisten, die Bücher füllen. Das hält es interessant... Wenn man auf so was steht und den Überblick behält.

In nicht-Kampf-Situationen kann es den gleichen Effekt geben. Ein Einbruch auf Stufe 1? Naja, Schleichen oder Schlösser öffnen gegen Wahrnehmung von Wachen oä eben. Auf Stufe 20? Das hochmagische Sicherheitssystem des Fantasy-Fort Knox-Äquivalents wird mit Zaubern, magischen Gegenständen, hochrangigen Feats und Talenten von entsprechenden Charakterklassen überwunden, oder eben nicht.

Schlanke Systeme haben in der Hinischt vermutlich Probleme, mitzuhalten, einfach weil sie wenig special skills bieten, bieten wollen; sind ja schlank und einfach.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: felixs am 5.04.2024 | 10:33
nobody@home:
Ja, ich sehe das auch ähnlich. Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, damit in der Minderheit zu sein. Ich denke, der Faktor gewachsener Traditionen ist nicht zu unterschätzen.
Grob gesagt: Wenn die Spieler mit DSA sozialisiert wurden, dann ist die Erwartungshaltung daran sehr hoch, was ein System abbilden können sollte und wie sehr die Entwicklung der Figuren von dem abhängig ist, was vom System an (oft sehr deskriptiven) Spielwerten zur Verfügung gestellt wird. Für Spieler, die einen solchen Hintergrund nicht haben, mag das anders sein. Die meisten Spieler in Deutschlang haben so einen Hintergrund.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Ludovico am 5.04.2024 | 10:44
Dagegen gibt es ja die Spirale "Je mächtiger die SCs, desto mächtiger werden auch die NSCs", und sich das im Prinzip auspendelt. Mehr Hitpoints + mehr Schadensoutput = eigentlich kein Unterschied.

Theoretisch bin ich bei Dir, aber da die Kämpfe auf höheren Leveln länger dauern, stelle ich die Vermutung auf, dass Schadensoutput und Hitpoint zuwachs nicht proportional zueinander ansteigen.

Zitat
Bei komplexen Systemen ist es aber oft nicht so einfach; bzw nicht einfach so. Klar gibt es den Effekt, aber dazu kommen bei SCs und NSCs oft mehr Möglichkeiten, mehr Special Skills, mehr Drumherum. Ich bin zwar kein D&D-Spielr, aber nach allem, was ich weiß, zeigt sich das da doch recht deutlich: Auf Stufe 1 kloppt man Goblins oder so, die neben niedrigen Werten haben und nichts können, und die SCs haben kaum Fähigkeiten, Feats, Zauber oder was auch immer. Auf Stufe 20 kloppt man irgendwelche Übermonster mit krassen, seltenen Fähigkeiten, und die SCs haben ebenfalls eine lange Latte an solchen, und Zauberlisten, die Bücher füllen. Das hält es interessant... Wenn man auf so was steht und den Überblick behält.

Ist vielleicht untergegangen, aber das meinte ich mit
Zitat
-Verschiedene Kampfoptionen (das ist der Weg, den komplexe Systeme gehen)

Zitat
In nicht-Kampf-Situationen kann es den gleichen Effekt geben. Ein Einbruch auf Stufe 1? Naja, Schleichen oder Schlösser öffnen gegen Wahrnehmung von Wachen oä eben. Auf Stufe 20? Das hochmagische Sicherheitssystem des Fantasy-Fort Knox-Äquivalents wird mit Zaubern, magischen Gegenständen, hochrangigen Feats und Talenten von entsprechenden Charakterklassen überwunden, oder eben nicht.

Das sehe ich eher so:
Die selben Herausforderungen, die es auf niedrigen Stufen gab, hat man dann auf höheren Stufen ebenso. Also der Schwierigkeitsgrad bleibt identisch. Die zusätzlichen Optionen lenken nur davon ab, dass es vom Prinzip her das selbe ist wie auf niedrigen Stufen.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: KhornedBeef am 5.04.2024 | 10:47
Ab wann ist eine Kampagne denn lang?
Beispiel: The Dracula Dossier. Ich gehe stark davon aus, dass ich da mindestens ein Jahr mit 20-30 Sitzungen da säße. Das sind so 2-3% meiner restlichen Lebenszeit? Weiß man nicht, finde ich aber schon lang und andere Maßstäbe sehr seltsam. Egal.
Nights' Black Agents - Charaktere können schon etwas mehr als in anderen GUMSHOE-Spielen, aber der Zuwachs der persönlichen Attribute ist eher gemächlich. Das entspricht dem Genre: James Bond und Jason Bourne haben nahezu überhaupt keine sichtbaren Fertigkeitssteigerungen, wenn man von zurückgehender Amnesie mal absieht.
Dafür hat aber das Grundspiel die Conspyramid, bei der man an Einsicht und Handlungsreichweite gewinnt und sich dafür zunehmende Gegenaktionen einfängt. Das Dracula Dossier hat eine weniger generische Variante einer aktiven Oppsition, aber im Grunde läuft es da auch so. Ich finde das sehr motivierend (und Bourne hat es ja auch zumindest eine geschlossene Trilogie eingebracht, so unbeliebt ist es also nicht). Die Conspyramid ist aber so schwach mit den übrigen Spielmechaniken verflochten, dass man die ohne weiteres als universelles Modul betrachten kann, dass man auch in einerFantasykampagne nutzen könnte ( der Stone Thief aus der nach ihm benannten 13th Age - Kampagne könnte ohne weiteres so funktionieren). Würde man das auch unter "Progression" verstehen?
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Isegrim am 5.04.2024 | 11:21
Theoretisch bin ich bei Dir, aber da die Kämpfe auf höheren Leveln länger dauern, stelle ich die Vermutung auf, dass Schadensoutput und Hitpoint zuwachs nicht proportional zueinander ansteigen.
(...)
Die zusätzlichen Optionen lenken nur davon ab, dass es vom Prinzip her das selbe ist wie auf niedrigen Stufen.

Was für die einen nur Ablenkung ist, ist für andere ein spannender Spielinhalt. Ich denk mal, viele wollen den ganzen Spezialkram mit besonderen Regeln etc, weil es Abwechslung bietet zum einfachen zuschlagen oder rumschleichen, auch wenn auch das Kämpfe in die Länge zieht; sonst wär das nicht so erfolgreich.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Isegrim am 5.04.2024 | 11:29
James Bond und Jason Bourne haben nahezu überhaupt keine sichtbaren Fertigkeitssteigerungen, wenn man von zurückgehender Amnesie mal absieht.

Ich glaub, was progressions-betonte RPGs von vielen "Serien- und Medien-Helden" wie James Bond unterscheidet, ist, dass RPG-Helden wie in D&D oder DSA nahe Null anfangen: Die können so gut wie nichts, außer atmen und gehen, aber bitte nicht gleichzeitig. James Bond und Konsorten sind "von Anfang an" erfahrene Voll-Profis. Im RPG-Vergleich wären die schon im ersten Film Stufe ziemlichhoch. Und da (je nach RPG) flacht sich die Progression auch ab, und oft dauert es länger, bis man wieder mal eine Stufe aufsteigt; oder, bei stufenlosen Systemen, die Steigerungskosten werden halt höher. Was James Bond drauf hatte, als der frisch rekrutiert wurde, erfahren wir halt nicht; bis die irgendwann mal das Prequel "Der junge Bond" drehen...

Ich habs nicht gesehen, aber was hatte denn der junge Indianer Jones in der entsprechenden Prequel-Serie drauf? Konnte der auch schon den ganezn Kram, denn sein gealtertes Selbst dann im Tempel des Todes präsentierte?

Na gut, und es macht vermutlich auch keinen so großen Spaß, totalen Noobs zuzugucken, wie es Erststüfler häufig sind, zugegeben... ;)
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Raven Nash am 5.04.2024 | 11:59
Ich habs nicht gesehen, aber was hatte denn der junge Indianer Jones in der entsprechenden Prequel-Serie drauf? Konnte der auch schon den ganezn Kram, denn sein gealtertes Selbst dann im Tempel des Todes präsentierte?
Demnach Jones im TdT eigentlich nichts besonders Überragendes kann (außer dämlich gucken, schwitzen und Glück haben), dürfte das auch schon sein jüngeres Selbst draufgehabt haben (ich erinnere mich nur dunkel an die Serie). Aber es ist ja so, dass die Abwesenheit von Jones kein wesentliches Handlungselement aus dem Film entfernt.  >;D

@Topic: Das Definitionsporblem liegt bei "lange Kampagne". Lang in welchem Sinn? IG oder OG? Meine laufende Kampagne geht jetzt seit ca. 2,5 Jahren OG, und wenn ich nicht einen 2jährigen IG-Break eingebaut hätte, wären IG grade mal 7 Monate vergangen.
Gerade D&D-Chars steigen extrem schnell auf, wenn man die IG-Zeit betrachtet. Wären die Rasten nicht, könnte man innerhalb von 2 Tagen von Level 1 - 5 kommen.

Bei Dragonbane kam inzwischen öfter der "Vorwurf", dass es sich nicht gut für lange Kampagnen eignet. Die Schweden wettern da aber in der FB-Gruppe massiv dagegen, weil sie einfach eine ganz andere Spielweise gewohnt sind. Die verstehen das "Level-Gehetze" der internationalen Szene so überhaupt nicht. Die spielen halt lieber gemütliche Sandboxes.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: flaschengeist am 5.04.2024 | 12:12
Das ist halt wieder mal die Reduktion auf den Extremfall.
Es gibt ja zum Glück nicht nur "W6 hoch ist gut" und DSA4.1.

Ich wollte mit meinem Beitrag fokussieren, dass es wie so oft auch eine Präferenzfrage ist. Ich persönlich brauche für Kampagnen Systeme, die Charakteren relativ differenzierte Werteprogression ermöglichen. Mit anderen Präferenzen ist das aber unnötig und ich habe versucht eine (zugegeben eher extreme) Präferenz zu skizzieren, mit der Kampagnen ohne Werteprogression Spaß machen. Natürlich sind extreme Präferenzen jeder Art selten, was aus meiner Sicht ein wichtiger Grund ist, dass die große Mehrheit der Spieler (gemessen an Indikatoren wie Verkaufszahlen und Relvanz der Systeme auf VTTs) mittelgewichtige Systeme bevorzugt.

Wichtig finde ich auch die im Faden bereits eingeführte Unterscheidung zwischen "Charakterprogression" und "Charakterindividualisierung". Ältere D&D Varianten und OSR-Systeme haben relativ viel Progression aber bieten wenig Charakterindividualisierung. Zwei Fighter unterscheiden sich im Extremfall auf mechanischer Ebene allenfalls durch ein paar Punkte mehr oder weniger in Attributen, die ihrerseits wiederum in vielen dieser System nahezu irrelvant sind (weil sie z.B. selbst nicht beprobt werden sondern lediglich kleine Boni auf Würfe generieren). Ich persönlich habe nur mit Systemen langfristig Spaß, die ausreichend Werte-Progression und Werte-Individualisierung bieten.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Zed am 5.04.2024 | 12:17
@Topic: Das Definitionsporblem liegt bei "lange Kampagne". Lang in welchem Sinn? IG oder OG? Meine laufende Kampagne geht jetzt seit ca. 2,5 Jahren OG, und wenn ich nicht einen 2jährigen IG-Break eingebaut hätte, wären IG grade mal 7 Monate vergangen.
Gerade D&D-Chars steigen extrem schnell auf, wenn man die IG-Zeit betrachtet. Wären die Rasten nicht, könnte man innerhalb von 2 Tagen von Level 1 - 5 kommen.
Hm, wir spielen unsere DnD 3.5-Kampagne seit fast 30 Jahren (aber seit vielen Jahren nur mit wenigen Sessions pro Jahr) und die SCs sind mittlerweile in Stufe 19. Die Charaktere sind (grob geschätzt) knapp 10 Jahre gealtert. Die Hälfte dieser Daten würde ich noch als "lange Kampagne" einschätzen: Stufenprogression von - sagen wir - 8 Stufen und/oder 5 Jahre Ingame-Zeit.

Das Extrembeispiel, das Du nennst - 7 Monate Ingame-Zeit - wäre für mich "eine Kampagne".
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Feuersänger am 5.04.2024 | 12:27
Interessant. Die Kritik der geringeren Anpassbarkeit der Charaktere ist mir schon öfter untergekommen und nachvollziehbar, ebenso wie das ohne regelmäßige kleine Verbesserungen der Belohnungsaspekt abgeht, aber eigentlich noch nie, dass mir in einer Kampagne mit regelleichten Systemen irgendwelche Regelprobleme groß im Weg gestanden hätten. Vor allem weil bei leichten Systemen auch viel einfacher Rulings zu improvisieren sind als bei komplexen. Hast du da konkrete Beispiele?

Ja, ein paar. Zum Beispiel bei SaWo - was ich zu den regelleichten Systemen zählen würde - wurde uns nach anfänglicher Begeisterung schließlich die erste Kampagne durch eine Verkettung von Freakrolls zerschossen.
Oder bei Dungeon World spielten sicher auch Anwendungsfehler seitens der SL eine Rolle, aber letztendlich ließe sich auch hier das Problem auf ein zu grobes Würfelsystem eingrenzen.
Etliche andere eher narrativen Systeme sind von vornherein auf "Push Button to add Drama" gebürstet, weil hier von vornherein keine epischen Monumentalfilme entstehen sollen, sondern eher Kurzgeschichten.

Da ist halt generell das Problem, wenn man ein System wie das von flaschengeist genannte "W6, hoch ist gut" hat und nicht viel mehr, dass in der Hälfte der Fälle eben nicht "Hoch" kommt, und es über eine Reihe von Würfen sehr leicht passieren kann, dass die hohen und tiefen Ergebnisse genau falsch fallen. UND dann bietet ein Regelleicht-System eben meist keine Sicherheitsnetze oder Stellschrauben, mit denen man die Situation noch retten könnte.
Komplexere Systeme hingegen pflegen da eingebaute Sicherheitsmechanismen zu haben, oder bieten dem Spieler sonst welche Möglichkeiten, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen.

Ebenso der Verweis auf Rulings ist da sehr lückenhaft, da Rulings wie der Name schon andeutet erst ad hoc in der betreffenden Situation getroffen werden, man also nicht damit planen kann. Für Planbarkeit braucht man verlässliche Regeln, was ein SC kann oder nicht kann, kein "Mother May I" mit dem Spielleiter.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Ludovico am 5.04.2024 | 12:55
Was für die einen nur Ablenkung ist, ist für andere ein spannender Spielinhalt. Ich denk mal, viele wollen den ganzen Spezialkram mit besonderen Regeln etc, weil es Abwechslung bietet zum einfachen zuschlagen oder rumschleichen, auch wenn auch das Kämpfe in die Länge zieht; sonst wär das nicht so erfolgreich.

Es geht ja nicht um die Beliebtheit, sondern einfach darum, dass diese Zusatzoptionen und weiteren Stellschrauben lediglich ein Mittel sind um das ansonsten dröge Runterkloppen von HP spannend zu gestalten.
Diesen Weg gehen halt komplexe Systeme.

Leichtere Systeme haben das nicht und da muss man andere Mittel finden.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 5.04.2024 | 13:22
Es geht ja nicht um die Beliebtheit, sondern einfach darum, dass diese Zusatzoptionen und weiteren Stellschrauben lediglich ein Mittel sind um das ansonsten dröge Runterkloppen von HP spannend zu gestalten.
Diesen Weg gehen halt komplexe Systeme.

Leichtere Systeme haben das nicht und da muss man andere Mittel finden.

Beispielsweise andere Herausforderungen als nur das Herunterkloppen von HP allein anbieten... ;)

Sicher: im Prinzip sollte das auch mit eher regelschweren Systemen machbar sein. Aber die sind dann gerade aufgrund dieser Regelschwere meist weniger improvisationsfreundlich und verlangen auch für Alternativen detailliertere Vorbereitung, also fällt man da der Einfachheit halber eher mal aufs Schema F zurück.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Isegrim am 5.04.2024 | 13:33
Improvisation ist aber auch nicht die Garantie für mehr Abwechlung und Fun. Grad lange Kampagnen erfordern mE meist auch mehr Vorbereitung, und das heißt, dass die SL mehr Arbeit investieren muss, und sich dabei vielleicht auch mehr Gedanken um Spieloptionen etc macht, und nicht nur um die Kampf-Stats der Gegner.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: aikar am 5.04.2024 | 13:51
Ja, ein paar. Zum Beispiel bei SaWo - was ich zu den regelleichten Systemen zählen würde - wurde uns nach anfänglicher Begeisterung schließlich die erste Kampagne durch eine Verkettung von Freakrolls zerschossen.
Oder bei Dungeon World spielten sicher auch Anwendungsfehler seitens der SL eine Rolle, aber letztendlich ließe sich auch hier das Problem auf ein zu grobes Würfelsystem eingrenzen.
Etliche andere eher narrativen Systeme sind von vornherein auf "Push Button to add Drama" gebürstet, weil hier von vornherein keine epischen Monumentalfilme entstehen sollen, sondern eher Kurzgeschichten.
Da prallen halt wirklich völlig unterschiedliche Welten aufeinander. Für mich ist SaWo im Mittelfeld. Die Explosions-Freakrolls nerven mich auch, aber die sehe ich als spezifische Eigenheit des Spiels (manche sehen sie sogar als grundlegende Mechanik für das Spiel, sehe ich nicht so), nicht als Folge von ansonsten zu einfachen Regeln. Ebenso ist der ganze Spielstil von Dungeon World eben auf gemeinsames Erzählen ausgelegt und nicht auf gamistisches Spiel.
Aber ich glaube da werden wir, wenn ich mir unsere Posts so ansehe, aufgrund unterschiedlicher Perspektiven nicht über Agree to disagree hinauskommen.
Ich hab z.B. auch mit der Vorstellung von detaillierteren Regeln als "robuster" oder "weniger für Spielleiterwillkür anfällig" nie was anfangen können. Sauberes Regeldesign hat meiner Meinung nach nichts mit der Regelmenge zu tun. Im Gegenteil finde ich, dass die Tendenz schwergewichtiger Regelsysteme, sich in Widersprüche zu verstricken, deutlich höher ist.

Aber der ganze Faden verliert sich vom Ursprungsthema wieder mal in eine Diskussion über Spielstile und -vorlieben.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Ainor am 5.04.2024 | 14:57
Ich sag einfach mal: "geeignet" muss jeder selber feststellen. Aber wenn ich fette Systeme spiele, dann doch am ehesten in  langen, progressiven Kampagnen.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Galatea am 30.12.2024 | 16:09
"Schlank" ist relativ.

Ein Regelwerk kann ziemlich dick, aber dennoch leicht anwendbar sein, wenn es stark in "Sidegrades" regelt.
Beispiel Entwaffnen: Klar kann ich explizite Regeln für ein spezielles Nahkampfmanöver schreiben, wie man dem Gegner die Waffe aus der Hand schlägt. Ich kann das ganze aber auch über den normalen Trefferwurf (+ eine gewisse Erschwernis, die teilweise auch von den Attributen des Gegners abhängen kann) abhandeln - dann hab ich denselben Wurf, dieselbe Mechanik, aber erreiche damit etwas anderes als rohen Schaden.

Die entsprechenden (Wurf-)Modifikatoren für solche "Sidegrade-Aktionen" kann man sogar auf den Charakterbogen packen.
Der sieht dann zwar kompliziert aus (und die anfängliche Erstellung dauert ein bisschen länger), macht aber das Spiel selbst nicht aufwendiger.


Im Idealfall hat man dann ein Regelwerk, das den Spielern/Charakteren zunehmend Optionen eröffnet Situationen anders anzugehen, ohne sich in aufstapelnden oder sich gegenseitig auslösenden Sonderregeln zu verlieren (das ist ja u.a. ein generelles Problem vieler "dicker" Regelwerke (Posterchild D&D 3.5), dass man durch stacking geeigneter Feats/Abilities/Skills/etc. ein Monstrum erschafft, das an so vielen Stellschrauben gleichzeitig dreht, dass es das Regelsystem komplett bricht).

Und wenn man ohnehin wenig auf "Stat goes up" exponentiale Charakterpowerentwicklung gibt, dann kann man auch mit seeehr leichtgewichtigen Regelwerken ewig spielen.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Gunthar am 30.12.2024 | 22:56
Habe nicht alles gelesen, möchte aber sagen, dass das auf das System ankommt. zB: Ein DSA 1, D&D 1 (B/X; BECMI; andere OSR-Systeme) kann man durchaus mit Ja beantworten. Ein Tiny Dungeon als Gegenbeispiel würde ich jetzt eher mit Nein beantworten. Witzigerweise ist hingegen Advanced Tiny Dungeon, das ja eine massiv aufgemotze Version von Tiny Dungeon ist, durchaus Langkampagnen tauglich.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: AcE am 31.12.2024 | 13:24
Ich finde das ist vergleichbar mit einem gutem Buch: Was macht dort eine lange Kampagne aus?

Eine lange Kampagne in Büchern lebt selten von der Fertigkeiten-Progression der Charaktere, sondern von der Progression  der Geschichte, der Welt der Beziehungen der Charaktere zueinander, und eben der Handlung mit ihren Subplots. Das alles ist unabhängig vom Regelsystem darstellbar.

Wo das Regelsystem einen Einfluss hat, ist vielleicht die Geschwindigkeit mit der die Geschichte erzählt wird und wieviel an einem Abend passiert und wie schnell die Charaktere 'besser' werden. Eine gute, lange Geschichte kann aber auch erzählt werden, ohne dass eine an Fertigkeiten & Skills messbare Entwicklung bei den Charakteren stattfindet.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 31.12.2024 | 14:26
Ich finde das ist vergleichbar mit einem gutem Buch: Was macht dort eine lange Kampagne aus?

Eine lange Kampagne in Büchern lebt selten von der Fertigkeiten-Progression der Charaktere, sondern von der Progression  der Geschichte, der Welt der Beziehungen der Charaktere zueinander, und eben der Handlung mit ihren Subplots. Das alles ist unabhängig vom Regelsystem darstellbar.

Wo das Regelsystem einen Einfluss hat, ist vielleicht die Geschwindigkeit mit der die Geschichte erzählt wird und wieviel an einem Abend passiert und wie schnell die Charaktere 'besser' werden. Eine gute, lange Geschichte kann aber auch erzählt werden, ohne dass eine an Fertigkeiten & Skills messbare Entwicklung bei den Charakteren stattfindet.

Ich denke, das ist ein Stück weit eine Genrefrage. Will ich eine Buch-/Fernseh-/Animeserie mit Immer-Schneller-Höher-Weiter wie Dragonball Z & Co. oder die ständige Eskalation des Konflikts bei den Lensmen? Dann sollte ich ein Regelsystem nehmen, das damit mithalten kann. (Wobei hier beide Beispiele zugegebenermaßen etwas hinken: bei DBZ macht der angebliche Machtzuwachs schnell keinen wirklich sichtbaren Unterschied mehr, und der Lensmen-Zyklus samt zunehmender Supertechnik und die Leiter hochkletternden Elite-Übermenschen-Exemplaren macht meines Wissens dann doch ein paar Zeitsprünge, um mit einer einstelligen Romanzahl auszukommen.)

Auf der anderen Seite ist das natürlich schon eine etwas spezielle Art, einen langfristigen Plot durchzuziehen -- normalerweise sind Vom-Anfänger-zum-Experten-Geschichten kürzer (oft nur ein Buch oder einen Film lang), während längere Erzählungen ein gebremsteres Aufstiegstempo fahren oder gleich darauf verzichten, diesen Aspekt besonders zu betonen. Der Grund dürfte in beiden Fällen der gleiche sein: es ist halt schwierig, sich über längere Zeit hinweg mit mehr Power und Bombast ständig neu zu toppen, und irgendwann geht einem beim Versuch die Puste aus. Entsprechend sind Vorbilder zum Thema "Ständiger Aufstieg über Jahre hinweg, und alles bitteschön im Detail ausgewalzt" schon an sich eher dünn gesät.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: manbehind am 31.12.2024 | 14:59
Die Schwertmeister-Kampagne habe ich noch zu DSA1-Zeiten kennengelernt.

Machtprogression war auch in DSA1 durchaus möglich, d. h. Eigenschaften und Talente konnten auch jenseits der 21-sten Stufe angehoben werden.

Außerdem konnte jeder Charakter mittels Runensteinen zaubern, wobei fortgeschrittene Techniken ab der zweiten Hälfte der Kampagne hätten eingeführt werden sollen. Ebenfalls Machtmittel waren Reitinsekten, später auch fliegende, sowie magische Waffen und Rüstungen. Auch konnten die Helden "Karma" ansammeln und Wunder vollbringen.

Zum Kampagnenfortschritt gehörten auch sich ändernde Ziele der Helden; die Anzahl und Qualität der eigenen Gefolgsleute (in Abhängigkeit von persönlichen Eigenschaften der Helden, vielmehr jedoch von erreichten Erfolgen); die Größe des kontrollierten Gebietes; der Grad des Ausbaus des Einflusses der eigenen Götter; Anzahl und Qualität der Gegner; die Dinge "at stake", also die Anzahl der Leittragenden im Falle eines Scheiterns; ggf. auch der Grad der Einsicht in kosmologische Geheimnisse.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Aedin Madasohn am 31.12.2024 | 15:10
ein regelschweres System wie DSA4.1 bietet so viel "Feingranulität", dass die Charprogression nur in hömoopatischen Dosen erfolgt.
im Spielfluss dann viel zeitfressendes Geraffel um kleinteilige Boni und Mali - welche in einem zeitschonenden schlankeren DSA1 mit +1/-1 gedaumenpeilt werden und am Ende genauso wirken  ;)

man kann regelschwer mit drölfdreißig Kampfmanövern, Feats, Boost nicht die Char-Progression "fühlen", sondern nur seine Spieler-Progression in Systemmastery  ;)
ja, ist auch schön, wenn man sich nicht mehr verskillt, die best-ever-XP-zu-Damage-per-Kampfrunde-Schiene gefunden hat, oder einfach nur ausnutzt, dass die SL "ihre" highend-Monster nicht "im Griff" hat und unter Wert abmorcheln lässt.

man kann auch mit simpler Angriffswert zu Angriffswert-vergleichende Probe-einmal würfeln mit dem kompetenten Kämpfer-Conan den Schergen wegmoschen und beim Bossfight bange schauen müssen, wie der gut der auch mal würfelt und die eigenen Lebenspunkte zusammenschmelzen.
nur fällt bei simplen Mechanismen mit Würfelzufallsfaktor sehr schnell der Faktor eigene-Systemmastery-zelebrieren weg  ;)

wer aber eine "Party" lange an seinen Tisch locken will für seine "Kampagne", muss sich über die Interessen seiner Party im Klaren sein.

und ellenlange Listen an Vor- und Nachteilen, Feats und Boosts, Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten, Koboldfreund und feengeküsst sind nur so lange "toll", wie sie mit Augenmaß auch dontiert worden sind.
Ansonsten nerven die Nobrainer und Rabattpackete (die plötzlich jeder nimmt, weil ja keine Rabattpunkte verschenken, so viel also zur  Invocation der "Vielfalt") nämlich ziemlich.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Boba Fett am 31.12.2024 | 18:26
Ich hänge wohl wegen dieser Prägung dem Dogma an, dass regelleichte Systeme sich nicht gut für lange, sich im Machtlevel entwickelnde Kampagnen eignen.
...
Seid so nett und zerstört oder bestätigt meinen Glaubenssatz.  8)

Kurz:
Dein Dogma kann ich nicht stützen.
Mein erster Charakter, den ich ernsthaft in einer Kampagne gespielt habe, war bei Traveller (regelleicht) und dieser hat sich während es Spiels (1985 bis 1997) über ganz viele Abenteuer wertetechnisch kaum gewandelt. Er wurde in seinen Fähigkeiten kaum besser, allerdings stieg seine Varianz an Möglichkeiten, was er konnte leicht an.
Wo der Charakter aber "besser" wurde, war in Aurüstung und Vermögen.
Das ging von "nahezu mittellos aus dem Dienst geschieden" über "Miteigentümer eines 100t Scout Schiffs" zu "Miteigentümer eines 5000t Schiffs plus ein paar Raumjäger".
Von Anfangs "Rentner" zu "freischaffender Auftragserlediger mit Raumschiff" über "Agent bei Interpol" (wobei "Inter" eher "Interstellar" meint) und irgendwann war er dann unter den meistgesuchten Verbrechern ein "most Wanted".

Ich kann nicht behaupten, dass diese Kampagen nicht lang und nicht progressiv war.
Die "Fähigkeiten" Achse ist und eine Option in Sachen Progression...

PS: Namen und so sind 30 Jahre her und entstammen nicht dem offiziellen Traveller Universum, sondern unserer Varianz davon. Die hab ich nicht mehr im Kopf.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Skaeg am 31.12.2024 | 19:23
Ich bin (A)DnD-sozialisiert, die Systemfamilie, die nicht als regelleicht gilt. Ich hänge wohl wegen dieser Prägung dem Dogma an, dass regelleichte Systeme sich nicht gut für lange, sich im Machtlevel entwickelnde Kampagnen eignen. Denn für mich gehören zu einer langen Kampagne spürbare Aufstiege und Weiterentwicklungen der Charaktere, die die Möglichkeiten der Figuren erweitern (analog zu DnDs Level 1-20). Ich kenne zuwenig regelleichte Systeme, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass diese die Progression der Charaktere gut modellieren.

Nehmen wir als Beispiele doch diese schlanken Systeme:
[...]

DSA 1
Knave 1e
Engel Arkana
PtbA
Fate

Ich denke nicht, dass AD&D (ohne massenweise Zusatzgedöns, also im wesentlichen mit PHB + DMG) wesentlich weniger "regelleicht" ist als z.B. DSA1 inklusive Ausbau-Spiel. Auch nicht im Vergleich z.B. zu dem auch genannten Feng Shui.

Ansteigendes Machtlevel ist auch mit einem sehr simplen System problemlos möglich.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 31.12.2024 | 19:40
Ansteigendes Machtlevel ist auch mit einem sehr simplen System problemlos möglich.

Frei nach Radio Eriwan: Im Prinzip ja... ;)

...es sei denn, man will auch gleich noch, daß das System selbst einem diesen Anstieg möglichst detailliert vorklöppeln soll, wie's ja etwa und gerade in der D&D-Systemfamilie mit "Du gehörst zu Klasse X, also kriegst du mit dem Erreichen der n-ten Stufe genau Y und Z dazu" gang und gäbe ist. In diesem speziellen Fall ist ein gewisses Mehr an Gewicht schlicht und ergreifend nicht anders zu erwarten.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Zed am 31.12.2024 | 20:00
Ich denke nicht, dass AD&D (ohne massenweise Zusatzgedöns, also im wesentlichen mit PHB + DMG) wesentlich weniger "regelleicht" ist als z.B. DSA1 inklusive Ausbau-Spiel. Auch nicht im Vergleich z.B. zu dem auch genannten Feng Shui.

Ansteigendes Machtlevel ist auch mit einem sehr simplen System problemlos möglich.

Ich hatte mich bei der Frage nach regelleicht/regelschwer (https://www.tanelorn.net/index.php/topic,127987.0.html) an diesem Post orientiert, auf den ich im Eingangspost (https://www.tanelorn.net/index.php/topic,128009.msg135215058.html#msg135215058) hingewiesen  (https://www.tanelorn.net/index.php/topic,127987.msg135214920.html#msg135214920)habe:

Zitat
Danke an die 17 :T: ys, die mitgemacht haben! Auch wenn mir per PN erklärt wurde, dass die Umfrage wohl viele Eigenheiten einiger Systeme (wie zB die Vielfalt der PbtA-Familie) nicht berücksichtigt hat, hoffe ich, dass es einigermaßen interessant ist:

(https://www.tanelorn.net/index.php?action=dlattach;topic=127987.0;attach=36188)

Ich habe mal relativ willkürlich bei 2,5 und 3,5 und 4,5 eine freie Zeile gelassen, um die Ergebnisse etwas zu clustern.

Zu beachten: Daggerheart hat zB nur eine Einschätzung bekommen, andere Systeme dagegen 12 bis 15. Mal ist die Streuung breit, mal sind sich viele sehr einig.

Es gibt dort einen signifikanten Unterschied in der Einschätzung von DSA 1 und ADnD, aber die Umfrage ist natürlich nicht repräsentativ.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Skaeg am 1.01.2025 | 10:33
Frei nach Radio Eriwan: Im Prinzip ja... ;)

...es sei denn, man will auch gleich noch, daß das System selbst einem diesen Anstieg möglichst detailliert vorklöppeln soll, wie's ja etwa und gerade in der D&D-Systemfamilie mit "Du gehörst zu Klasse X, also kriegst du mit dem Erreichen der n-ten Stufe genau Y und Z dazu" gang und gäbe ist. In diesem speziellen Fall ist ein gewisses Mehr an Gewicht schlicht und ergreifend nicht anders zu erwarten.
Bei dem markierten Teil liegt der Hase im Pfeffer.

DSA1 und alte D&D-Versionen "klöppeln" dir deinen Stufenanstieg direkt vor. Nur "detailliert" wird's eben eher nicht.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 1.01.2025 | 11:07
Bei dem markierten Teil liegt der Hase im Pfeffer.

DSA1 und alte D&D-Versionen "klöppeln" dir deinen Stufenanstieg direkt vor. Nur "detailliert" wird's eben eher nicht.

Bei DSA1 gehe ich mit -- da gab's ja wirklich nicht so viele Veränderungen von einer Stufe zur nächsten (insbesondere, als das Ausbau-Set noch gar nicht raus war ;D), und dann konnte man sich meist noch aussuchen, wo man sie vornehmen wollte. Was allerdings D&D angeht...na ja, da waren spätestens die zaubernden Klassen schon von Anfang an fest auf ihre "Du bist Stufe X, also hast du jeweils genau soundsoviele Sprüche der Stufen Y, Z, und Z' am Tag" geeicht, und so was wie der AD&D1-Mönch mit seiner durchdeklinierten Klassenfähigkeitstabelle...na ja. :)

"Regelschwer" wird's halt da, wo die Regeln den Spielern bestimmte einzeln zu beschreibende Veränderungen im Lauf der Charakterentwicklung fest vor den Latz knallen wollen. Dagegen läßt sich ein DSA1-"Du darfst bei jedem Aufstieg eine deiner Eigenschaften um einen Punkt erhöhen" recht gut buchstäblich in einen Satz packen, der alle Stufen von 2 bis 20 auf einmal abdeckt.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 1.01.2025 | 11:43

man kann auch mit simpler Angriffswert zu Angriffswert-vergleichende Probe-einmal würfeln mit dem kompetenten Kämpfer-Conan den Schergen wegmoschen und beim Bossfight bange schauen müssen, wie der gut der auch mal würfelt und die eigenen Lebenspunkte zusammenschmelzen.
nur fällt bei simplen Mechanismen mit Würfelzufallsfaktor sehr schnell der Faktor eigene-Systemmastery-zelebrieren weg  ;)

Allerdings ist das halt nicht das einzige was wegfällt, auch erzählerische Nähe zur Mechanik fällt weg und damit Möglichkeiten sowohl den Charakter zu individualisieren als auch Gruppenbeziehungen über Spielmechanik abzudecken.

Es macht natürlich etwas mit der Erzählung wenn die beste Variante eines Kämpfers seinen Kumpel den Magier zu beschützen "ich hau solange auf die Gegner bis sie umfallen" ist und umgedreht wenn sie "weißt du noch als ich mein Schild zwischen dich und das dunkle Schwert des Feuers gehalten hab" darstellt.

Der Unterschied zwischen Regelleicht und Regelschwer liegt (gleiche Qualität des Rollenspiels vorausgesetzt) genau in dieser Nähe der Beschreibung zur Mechanik, ob das Regelwerk in der Lage ist das was den Charakteren in der Erzählung geschieht in eine passende Mechanik zu übersetzen.

Und dementsprechend würde ich die Frage ob ein Regelwerk für lange progressive Kampagnen geeignet ist auch nicht einfach nur mit ja oder nein beantworten sondern konkrete Fragen stellen.

Es gibt gewiss regelleichte Systeme die gute Antworten darauf bieten. Aber klar ist auch: je abstrakter und weniger an dem konkreten Spielgeschehen diese Regelmechaniken ausgerichtet sind umso weniger relevant wird dieses auch.

Und das merkt man dann halt besonders bei langen Kampagnen.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 1.01.2025 | 12:13
Allerdings ist das halt nicht das einzige was wegfällt, auch erzählerische Nähe zur Mechanik fällt weg und damit Möglichkeiten sowohl den Charakter zu individualisieren als auch Gruppenbeziehungen über Spielmechanik abzudecken.

Es macht natürlich etwas mit der Erzählung wenn die beste Variante eines Kämpfers seinen Kumpel den Magier zu beschützen "ich hau solange auf die Gegner bis sie umfallen" ist und umgedreht wenn sie "weißt du noch als ich mein Schild zwischen dich und das dunkle Schwert des Feuers gehalten hab" darstellt.

Der Unterschied zwischen Regelleicht und Regelschwer liegt (gleiche Qualität des Rollenspiels vorausgesetzt) genau in dieser Nähe der Beschreibung zur Mechanik, ob das Regelwerk in der Lage ist das was den Charakteren in der Erzählung geschieht in eine passende Mechanik zu übersetzen.

Und dementsprechend würde ich die Frage ob ein Regelwerk für lange progressive Kampagnen geeignet ist auch nicht einfach nur mit ja oder nein beantworten sondern konkrete Fragen stellen.

Wie deckt das Regelwerk Gegner ab welche (noch) zu schwer für die Gruppe sind?
Wie deckt das Regelwerk Gruppendynamik ab?
Wie frei kann das Regelwerk unterschiedliche Herangehensweisen mit unterschiedlichen Konsequenzen umsetzen?
Wie oft muss man zu Rulings greifen um eine nicht abgedeckte Situation zu regeln?

Es gibt gewiss regelleichte Systeme die gute Antworten darauf bieten. Aber klar ist auch: je abstrakter und weniger an dem konkreten Spielgeschehen diese Regelmechaniken ausgerichtet sind umso weniger relevant wird dieses auch.

Und das merkt man dann halt besonders bei langen Kampagnen.

Ich weiß nicht. Beim Durchdenken der "Elfenbogen gegen Laserpistole"-Frage drüben im "Ist der Hintergrund Teil des Regelwerks?"-Faden ist mir persönlich beispielhaft aufgestoßen, daß auch regelschwere Systeme gar nicht unbedingt garantieren, daß sich die vorhandenen Regeln dann tatsächlich am konkreten Spielgeschehen orientieren. Denn abgesehen davon, daß die beiden Waffen jeweils beliebig komplexe Werte haben können, die im Endergebnis beim Vergleich trotzdem noch zu gehobenen Spieleraugenbrauen a la "Das kann doch so nicht stimmen!" führen...neigen auch hochdetaillierte Systeme immer noch dazu, ihre Lücken zu haben, die dann dank des von anderen Stellen gewohnten "Genauigkeits"standards leicht schwerer auszufüllen sein können. (Beispiel: Der Charakter will an einer verschlossenen Tür vorbei. Mit welcher der beiden Waffen kann er das vermutlich besser...und bilden die Regeln und Waffenwerte das auch ab, oder muß da am Ende doch wieder das Allzweckwerkzeug GMV greifen? ;))
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 1.01.2025 | 12:19
Garantien gibt es natürlich nicht, deshalb schrieb ich ja "bei gleicher Qualität der Regelwerke".

Ich kann natürlich jede beliebige Regel verhunzen.

Allerdings gilt auch da: Die Qualität von Regeln mit der Erfahrung und den Spieltests die sie durchlaufen. Natürlich kann auch ein spontanes Ruling genauso gut sein oder sogar besser als eine feste Regel. Aber die Chance dabei irgendetwas zu übersehen oder nicht zu bedenken, was vielleicht in einigen Jahren relevant wird ist schon recht hoch.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Skaeg am 1.01.2025 | 12:24
Bei DSA1 gehe ich mit -- da gab's ja wirklich nicht so viele Veränderungen von einer Stufe zur nächsten (insbesondere, als das Ausbau-Set noch gar nicht raus war ;D), und dann konnte man sich meist noch aussuchen, wo man sie vornehmen wollte. Was allerdings D&D angeht...na ja, da waren spätestens die zaubernden Klassen schon von Anfang an fest auf ihre "Du bist Stufe X, also hast du jeweils genau soundsoviele Sprüche der Stufen Y, Z, und Z' am Tag" geeicht, und so was wie der AD&D1-Mönch mit seiner durchdeklinierten Klassenfähigkeitstabelle.
Bis auf die Mönch- und Diebesfähigkeiten war das bei DSA1 doch sehr ähnlich.

Zitat
"Regelschwer" wird's halt da, wo die Regeln den Spielern bestimmte einzeln zu beschreibende Veränderungen im Lauf der Charakterentwicklung fest vor den Latz knallen wollen. Dagegen läßt sich ein DSA1-"Du darfst bei jedem Aufstieg eine deiner Eigenschaften um einen Punkt erhöhen" recht gut buchstäblich in einen Satz packen, der alle Stufen von 2 bis 20 auf einmal abdeckt.
Sehe ich nicht so.
a.) Es ist nicht leichter oder schwerer, eine Wahlmöglichkeit zu haben. Du magst das vermutlich lieber, aber "leichter" ist es nicht.
b.) Beschreibt das nicht mal für nicht-magische Charaktere den Stufenaufstieg. Du hast auch entweder AT oder PA erhöht, und 1W6 LE dazu bekommen. Für magische Charaktere kamen Zaubersprüche und Astralenergie hinzu. 
Bei D&D: Hitpoints. THAC0 (ggf. avant la lettre). Saves. Für magische Charaktere kommen Zaubersprüche hinzu, für Diebe ein paar Fertigkeiten, bei denen aber nie neue hinzukommen und sich nur die Prozentchancen ändern.
Sehe da keine wesentliche Komplexitätsunterschiede. DSA1 ist insoweit ein "moderneres" System, als es einen relativ einheitlichen Probenmechanismus nutzt.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: manbehind am 1.01.2025 | 12:30
Natürlich kann auch ein spontanes Ruling genauso gut sein oder sogar besser als eine feste Regel. Aber die Chance dabei irgendetwas zu übersehen oder nicht zu bedenken, was vielleicht in einigen Jahren relevant wird ist schon recht hoch.

Wenn man sein persönliches Wohlergehen von diesen Punkt abhängig machen möchte, mag das so sein. Wenn man das nicht macht, ist der Punkt völlig unproblematisch ^^

Grundsätzlich scheint es ja folgenden Zusammenhang zu geben:

Je komplexer ein Regelsystem, desto größer ist die Abhängigkeit der Spielenden vom durch das Regelsystem getroffenen verbindlichen Entscheidungen, und desto geringer ist Fähigkeit der Spielenden, selbst spontane Entscheidungen in Spielsituationen zu treffen, die möglicherweise nicht regelkonform sind.

Anders als im Brettspiel sind Regeln im Rollenspiel ein Mittel zur Spielgestaltung. Als Mittel haben sie in konkreten Situationen soviel Wert, wie sie zum Spielziel beitragen. Tragen sie nicht zum Spielziel bei, sollte man sie ignorieren.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 1.01.2025 | 12:37
Je komplexer ein Regelsystem, desto größer ist die Abhängigkeit der Spielenden vom durch das Regelsystem getroffenen verbindlichen Entscheidungen, und desto geringer ist Fähigkeit der Spielenden, selbst spontane Entscheidungen in Spielsituationen zu treffen, die möglicherweise nicht regelkonform sind.

Oh, da würde ich stark widersprechen. Im Gegenteil, je weiter Spielmechanik und Erzählung getrennt sind umso schlechter ist es möglich spontane Ideen einzubringen.

Aus zwei Gründen. Zum einen kostet jedes Ruling Zeit. Zeit die teilweise auch noch mit Diskussionen über dieses Ruling verbracht wird statt mit Rollenspiel.

Zum anderem sind spontane Ideen aber an ihre mechanische Relevanz gekoppelt.

Wenn eine tolle spontane Idee prinzipiell das gleiche macht wie die nächste, völlig andere spontane Idee oder gar das gleiche wie jede andere Aktion ist schlichtweg weniger Relevanz gegeben.

Aus diesem Grund sind Unterschiede in der mechanischen Umsetzung der Idee auch etwas was spontane Ideen fördern und Rulings beschleunigen kann. Je mehr Gedanken sich vorab schon jemand über ähnliche Aktionen gemacht hat umso eher lassen sich die Ideen der Spieler auch tatsächlich ins Spiel einbringen.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 1.01.2025 | 12:44
Wenn man sein persönliches Wohlergehen von diesen Punkt abhängig machen möchte, mag das so sein. Wenn man das nicht macht, ist der Punkt völlig unproblematisch ^^

Ich würde nicht von persönlichem Wohlbefinden sprechen, wir reden hier ja immer noch "nur" über Rollenspielregeln. Über Hilfsmittel welche Spielern und Spielleitern helfen sollen Situationen innerhalb ihrer Runden möglichst schnell und gut zu handhaben.

Dennoch: Das Regeln über den Verlauf auch mehrerer Jahre gleich bleiben können und das man noch immer nachschlagen kann wie etwas vor fünf Jahren geregelt wurde ist ein Vorteil ausführlicher und nieder geschriebener Regeln gegenüber spontanen Rulings, gerade bei langen Kampagnen.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 1.01.2025 | 13:16
Garantien gibt es natürlich nicht, deshalb schrieb ich ja "bei gleicher Qualität der Regelwerke".

Ich kann natürlich jede beliebige Regel verhunzen.

Allerdings gilt auch da: Die Qualität von Regeln mit der Erfahrung und den Spieltests die sie durchlaufen. Natürlich kann auch ein spontanes Ruling genauso gut sein oder sogar besser als eine feste Regel. Aber die Chance dabei irgendetwas zu übersehen oder nicht zu bedenken, was vielleicht in einigen Jahren relevant wird ist schon recht hoch.

Kommt mMn drauf an, wie wahrscheinlich es ist, daß sich exakt dieselbe Situation in ein paar Jahren tatsächlich genau so wiederholen wird. ;)

Denn dafür sind Rulings ja in erster Linie da: um festzulegen, wie man eine konkrete Frage im Hier und Jetzt beantworten möchte, weil sich herausgestellt hat, daß die Regeln sie nicht (hinreichend) abdecken oder man die Antwort vielleicht auch im etablierten Regelwust einfach nur nicht gefunden hat. Und ja, beim nächsten Mal kann das Ruling anders ausfallen -- das ist ja gerade der Sinn der Übung und erlaubt, denn "nächstes Mal" kann dann im konkreten Detail doch schon wieder anders aussehen oder die zuständigen Entscheider haben inzwischen vielleicht doch mal etwas dazugelernt und wissen es also hoffentlich besser. Langes Bibbern darum, ob dasselbe Ruling auch in fünf Jahren noch ähnliche Situationen "richtig" beschreiben wird, ist in dem Moment, wo es gebraucht wird, absolut fehl am Platz.

Natürlich kann aus einem Ruling, das sich hinreichend bewährt hat, früher oder später eine "echte" Regel werden, und das wäre dann tatsächlich ein Qualitätsmerkmal. (Ob tatsächlich alle veröffentlichten Regeln diese Bewährungsprobe ihrerseits hinter sich haben...geschenkt. >;D) Aber primär sehe ich den Unterschied zwischen den beiden Kategorien darin, daß Regeln-im-engeren-Sinn praktisch schon zwangsläufig nur verallgemeinernde Abstraktionen sein können -- schließlich sollen sie ja gerade dazu dienen, möglichst viele eigentlich "nur" ähnliche Situationen auf die grundsätzlich immer gleiche zusammenfassende Art abzuhandeln --, während Rulings auch schon mal dazu taugen, einmalige Einzelfälle schlicht irgendwie zur momentanen Zufriedenheit aufzulösen und dann wieder zum Tagesspielgeschäft überzugehen.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: AcE am 1.01.2025 | 13:43
Oh, da würde ich stark widersprechen. Im Gegenteil, je weiter Spielmechanik und Erzählung getrennt sind umso schlechter ist es möglich spontane Ideen einzubringen.
[...]
Zum anderem sind spontane Ideen aber an ihre mechanische Relevanz gekoppelt.

Wenn eine tolle spontane Idee prinzipiell das gleiche macht wie die nächste, völlig andere spontane Idee oder gar das gleiche wie jede andere Aktion ist schlichtweg weniger Relevanz gegeben.

Aus diesem Grund sind Unterschiede in der mechanischen Umsetzung der Idee auch etwas was spontane Ideen fördern und Rulings beschleunigen kann. Je mehr Gedanken sich vorab schon jemand über ähnliche Aktionen gemacht hat umso eher lassen sich die Ideen der Spieler auch tatsächlich ins Spiel einbringen.

Ich finde es hier etwas unklar, was du mit "je weiter Spielmechanik und Erzählung getrennt sind" meinst. Ich bin in den letzten Jahren zunehmend auf pbta-Systeme und forged in the dark Systeme gewechselt.

Hier sind Regeln und Erzählung insofern getrennt, da die Regeln keine Auswirkung innerhalb der Erzählung haben, aber insofern miteinander verbunden, weil sie den Flow steuern, wie gemeinsam erzählt wird. Regeln diesen hier in erster Linie dazu, das Gespräch am Spieltisch zu strukturieren.

Was hier an spontanen Ideen eingebracht wird, übertrifft bei weitem alles, was ich in anderen Systemen jemals erlebt habe. Es ist hier für alle Spieler und auch die Spielleitung oft vollkommen unvorhersehbar in welche Richtung sich das Spiel bewegt, gerade weil alle Spieler dazu angehalten werden, spontane Ideen einzubringen.

Das liegt meiner Meinung nach daran: Wenn ich in einem solchen System sage: "Ich greife an", "Ich attackiere den Gegner", "Ich klettere die Wand hoch" [...] um eine zugehörige Aktion auszulösen, dann ist das für alle Beteiligten maximal uninteressant, daher passiert das bei Spielern, die Erfahrung mit solchen Systemen haben nicht.

Die Spieler bauen in jede Beschreibung schon mehr spontane Ideen ein, als das bei "regeldichten" [1] Systemen erlebt habe, auch weil sie i.d.R. das Konzept von "narrativer Wahrheit" benutzen können, ohne dabei mit Regeleinschränkungen oder Settingeinschränungen in Konflikt zu kommen.

Und dadurch, dass die Spieler gezwungen sind, so detailliert zu erzählen, ergeben sich gleichzeitig auch Möglichkeiten mit der andere Spieler oder der Spielleiter an diese Erzählungen anknüpfen können.

Die Art wie Spielzüge definiert sind, unterstützt dies ja auch. Wenn ich z.B. gezwungen bin den Spieler vor eine harte Entscheidung zu treffen oder einen Spielleiterzug durchzuführen, dann ergibt sich darauf fast immer eine Situation am Spieltisch, die das Spiel in eine spontan und unerwartete Art in eine neue Richtung lenkt. Und dies wiederum schafft Möglichkeiten für Spieler, selbst wieder kreativ anzuknüpfen.

Einige der Grundideen von dieser Art moderner, narrativer Systeme findet man daher in abgewandelter Form auch im Improtheater wieder (Zug-um-Zug, "Ja und...", "Fehler willkommen heißen", ....).

[1] Das Wort "regeldicht" in Anführungsstrichen. Was ich oben geschrieben habe,habe ich in ähnlichem Maße für Dungeon World, Blades in the Dark und City of Mist erlebt, obwohl die Systeme eine ganz unterschiedliche Regeldichte besitzen.

Noch ein Wort zum Satz:

Zitat
"Zum einen kostet jedes Ruling Zeit. Zeit die teilweise auch noch mit Diskussionen über dieses Ruling verbracht wird statt mit Rollenspiel. "

Das hängt auch etwas davon ab, was geregelt werden soll und was das Ergebnis des Rulings ist:  In pbta/forged Systemen hatten wir oft auch Metadiskussionen. Aber diese Diskussionen haben dann oft nicht nur eine Regel klargestellt, sondern haben dazu beigetragen, dass wir herausgefunden haben, was uns am Spielen eigentlich wichtig ist.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Galatea am 1.01.2025 | 13:58
a.) Es ist nicht leichter oder schwerer, eine Wahlmöglichkeit zu haben. Du magst das vermutlich lieber, aber "leichter" ist es nicht.
Naja, "Steigere ein beliebiges Attribut" ist schon de facto weniger Regeltext als eine Tabelle für jede Klasse.
Würde für mich aber tatsächlich auch eher unter "Sidegrades" fallen, da es ja keine zusätzliche Mechanik einführt, sondern nur die bestehende Mechanik der Attributssteigerung situativ abändert (d.h. man hat als Anwender keine "Mehrarbeit", man macht genau den gleichen Schritt wie sonst auch, nur halt etwas anders).


"Trefferpunkte runterklopfen" ist auch eher ein Problem das spezifisch durch Damage Sponge Gegner verursacht wird (die man typischerweise in diversen D&D-Editionen findet).
Wenn ein Gegner/Spieler im Normalfall nur maximal 2-3 Treffer aushält, dann stellt sich das Problem garnicht in der Form.
Dann geht alles so schnell, dass man keine drölfzig Optionen braucht, mit denen man die Gegner bearbeiten kann.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Skaeg am 1.01.2025 | 14:19
Naja, "Steigere ein beliebiges Attribut" ist schon de facto weniger Regeltext als eine Tabelle für jede Klasse.
Attribute steigerst du bei alten D&D-Versionen gar nicht. Du würfelst deine Hitpoints (wie bei DSA), verbesserst ggf. deinen THAC0 und ggf. deine Saves. Und letzteres nur alle paar Stufen.
Das einzig "komplexere" ist in der Tat die größere Trennschärfe zwischen den Klassen - zumindest regelseitig. DSA1 ist aber vom Regeldesign her weniger "sperrig", weil es keine exzentrischen Designentscheidungen aus Vorzeit-D&D mitschleppt.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 1.01.2025 | 15:34
Kommt mMn drauf an, wie wahrscheinlich es ist, daß sich exakt dieselbe Situation in ein paar Jahren tatsächlich genau so wiederholen wird. ;)

Auch hier: Garantien gibt es nie. Aber die Chance, dass die Regel anwendbar ist steigt halt je besser sie zuvor auch ähnliche Situationen abgedeckt hat.

Es sind Werkzeuge in einem Werkzeugkoffer. Natürlich kann es passieren, dass der Schraubendreher nicht auf jede Schraube passt. Aber verschiedene davon zu haben erhöht die Chance den (zumindest annähernd) passenden zu haben.

Neue Regeln improvisieren geht immer, Rulings kann man immer machen. Aber je besser das Gerüst ist in dem dies geschieht umso schneller und einfacher lässt sich auf ungewohnte Situationen reagieren.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 1.01.2025 | 15:39
Auch hier: Garantien gibt es nie. Aber die Chance, dass die Regel anwendbar ist steigt halt je besser sie zuvor auch ähnliche Situationen abgedeckt hat.

Es sind Werkzeuge in einem Werkzeugkoffer. Natürlich kann es passieren, dass der Schraubendreher nicht auf jede Schraube passt. Aber verschiedene davon zu haben erhöht die Chance den (zumindest annähernd) passenden zu haben.

Neue Regeln improvisieren geht immer, Rulings kann man immer machen. Aber je besser das Gerüst ist in dem dies geschieht umso schneller und einfacher lässt sich auf ungewohnte Situationen reagieren.

Je besser: sicher. Je umfangreicher -- nun, das scheint mir gerade der Punkt zu sein, über den wir uns im Moment streiten. :)
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 1.01.2025 | 15:47
Ich finde es hier etwas unklar, was du mit "je weiter Spielmechanik und Erzählung getrennt sind" meinst. Ich bin in den letzten Jahren zunehmend auf pbta-Systeme und forged in the dark Systeme gewechselt.

Hier sind Regeln und Erzählung insofern getrennt, da die Regeln keine Auswirkung innerhalb der Erzählung haben, aber insofern miteinander verbunden, weil sie den Flow steuern, wie gemeinsam erzählt wird. Regeln diesen hier in erster Linie dazu, das Gespräch am Spieltisch zu strukturieren.

Was hier an spontanen Ideen eingebracht wird, übertrifft bei weitem alles, was ich in anderen Systemen jemals erlebt habe. Es ist hier für alle Spieler und auch die Spielleitung oft vollkommen unvorhersehbar in welche Richtung sich das Spiel bewegt, gerade weil alle Spieler dazu angehalten werden, spontane Ideen einzubringen.

Ich bin aus diesem Grund wieder von PbtA Spielen weg. Am Anfang hatte ich ähnliche Erfahrungen gemacht, Spieler brachten sich toll ein und waren motiviert Dinge kreativ zu beschreiben. Je länger die Kampagne dauerte umso mehr kam aber fehlende Relevanz in den Beschreibungen zum tragen. Ob ich nun kreative Idee A oder B machte hatte sehr wenig mechanischen Unterschied. Das ist auch was ich mit der oben angesprochenen Distanz zwischen Erzählung und Mechanik meinte. Die Spieler beschrieben verschiedene Dinge, mechanisch passierte aber genau das gleiche.

Die Spieler selbst waren kreativ, und das war auch was die Runde am Laufen hielt. Aber eigentlich gab es sehr wenig was konkret im Regelwerk dabei half die eigentlichen kreativen Ideen umzusetzen und in der Folge gab es eigentlich immer mehr Diskussionen ob man nicht mit Rulings nachhelfen könne.

Momentan bin ich daher eigentlich der Meinung lieber wieder ein komplexeres System zu spielen welches besser dabei hilft unterschiedliche Aktionen auch mit unterschiedlichen mechanischen Auswirkungen abzuhandeln und aus den regelleichteren Systemen stattdessen nur den Ansatz zu übernehmen zu sagen "kreative Aktionen sind immer erlaubt und lohnen sich, sowas wird vom Spielleiter gefördert und sollte das auch".

PbtA würd ich natürlich trotzdem immer wieder spielen und auch andere regelleichte Systeme. Aber es ist schon so, dass ich dies eher für kürzere Runden in denen die geringere Dichte an Möglichkeiten etwas mechanisch umzusetzen weniger auffällt nutzen würde.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 1.01.2025 | 15:51
Je besser: sicher. Je umfangreicher -- nun, das scheint mir gerade der Punkt zu sein, über den wir uns im Moment streiten. :)

Streiten muss ja eh keiner. **Schiebt dir mal einen Freundschaftslolli rüber**

Aber ja, in diesem konkreten Fall war gemeint: je besser das auf eine Situation angewendete Regelgerüst zu dieser Situation passt (anstatt einfach nur das allgemeine, "dies passt für alles" Gerüst zu sein) umso einfacher ist es auch sich darin für Rulings zu orientieren.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: gunware am 1.01.2025 | 16:26
Die Spieler beschrieben verschiedene Dinge, mechanisch passierte aber genau das gleiche.
Und das ist auch meine Einschätzung wie es bei uns laufen würde. Und deshalb wäre es für eine längere Kampagne bei uns nicht geeignet.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 1.01.2025 | 16:48
Streiten muss ja eh keiner. **Schiebt dir mal einen Freundschaftslolli rüber**

Aber ja, in diesem konkreten Fall war gemeint: je besser das auf eine Situation angewendete Regelgerüst zu dieser Situation passt (anstatt einfach nur das allgemeine, "dies passt für alles" Gerüst zu sein) umso einfacher ist es auch sich darin für Rulings zu orientieren.

Ein gewisses Regelminimum wird's schon brauchen, damit sich die Sache halbwegs nach solidem "Spiel" anfühlt -- ist ja nicht gerade so, als ob hier im Faden schon irgendwer ausdrücklich dem Alles-über-denselben-Münzwurf-Ansatz das Wort geredet hätte. ~;D

Aber ganz allgemein, das stimmt, ist mein Regelwunschgewicht heutzutage schon eher "soviel wie nötig und nicht mehr" komplett mit Betonung. Irgendwer muß die ganzen Regeln (und den kompetenten Umgang mit ihnen, was ggf. noch mal eine ganz andere Baustelle ist) ja überhaupt erst lernen, bevor sie im Spiel zur Anwendung kommen können...und da kommt mir ein halbwegs elegantes Allzwecksystem einfach mehr entgegen als ein Regelbolide mit allen möglichen Ausnahmen und Spezialfällen. Um den Vergleich mit dem Werkzeugkoffer noch mal anzusprechen: am Spieltisch sind wir letzten Endes alle nur Hobbyhandwerker zum eigenen Vergnügen, da kann eine schlichte, aber solide Grundausstattung ohne überflüssigen Schnickschnack doch eigentlich so verkehrt nicht sein. :)
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: flaschengeist am 1.01.2025 | 16:54
Ich bin aus diesem Grund wieder von PbtA Spielen weg. Am Anfang hatte ich ähnliche Erfahrungen gemacht, Spieler brachten sich toll ein und waren motiviert Dinge kreativ zu beschreiben. Je länger die Kampagne dauerte umso mehr kam aber fehlende Relevanz in den Beschreibungen zum tragen. Ob ich nun kreative Idee A oder B machte hatte sehr wenig mechanischen Unterschied. Das ist auch was ich mit der oben angesprochenen Distanz zwischen Erzählung und Mechanik meinte. Die Spieler beschrieben verschiedene Dinge, mechanisch passierte aber genau das gleiche.

Die Spieler selbst waren kreativ, und das war auch was die Runde am Laufen hielt. Aber eigentlich gab es sehr wenig was konkret im Regelwerk dabei half die eigentlichen kreativen Ideen umzusetzen und in der Folge gab es eigentlich immer mehr Diskussionen ob man nicht mit Rulings nachhelfen könne.

Momentan bin ich daher eigentlich der Meinung lieber wieder ein komplexeres System zu spielen welches besser dabei hilft unterschiedliche Aktionen auch mit unterschiedlichen mechanischen Auswirkungen abzuhandeln und aus den regelleichteren Systemen stattdessen nur den Ansatz zu übernehmen zu sagen "kreative Aktionen sind immer erlaubt und lohnen sich, sowas wird vom Spielleiter gefördert und sollte das auch".

Geht mir sehr ähnlich. Ich denke allerdings, hier haben wir es am Ende wieder mit einer Prioritätensetzung zu tun, die aus unterschiedlichen Präferenzen resultiert: Wer etwa besonders viel Wert auf Charakterspiel und "dramagetriebene" Handlung legt, fährt besser mit einfachen Regelsystemen. Und selbige können nun einmal nicht viel mechanische Differenzierung leisten, bevor sie aufhören einfach zu sein.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 1.01.2025 | 16:55
Zitat von: nobody@home
Irgendwer muß die ganzen Regeln (und den kompetenten Umgang mit ihnen, was ggf. noch mal eine ganz andere Baustelle ist) ja überhaupt erst lernen, bevor sie im Spiel zur Anwendung kommen können..

Ist natürlich eine Frage der Aufbereitung. Ehrlich gesagt kenne ich sehr komplexe, vielschichtige Systeme bei denen nahezu jede Beschreibung auch eine unterschiedliche Mechanik bedeutet bei denen am Spieltisch nie jemand nachschlagen muss.

Und umgedreht relativ schlanke Systeme bei denen versucht wird mit möglichst wenig Mechaniken etwas zu erschlagen was diese aber so aufbläht, dass man andauernd etwas nachschlagen muss oder Dinge diskutieren.

Insofern würde ich da Aufbereitung der Regeln, Detailgrad der Regeln und Komplexität trennen wollen, es kann durchaus sinnvoller sein fünf kleine simple Regeln zu haben als eine große komplexe (für die gleiche Situation)
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 1.01.2025 | 16:59
Geht mir sehr ähnlich. Ich denke allerdings, hier haben wir es am Ende wieder mit einer Prioritätensetzung zu tun, die aus unterschiedlichen Präferenzen resultiert: Wer etwa besonders viel Wert auf Charakterspiel und "dramagetriebene" Handlung legt, fährt besser mit einfachen Regelsystemen.

Ehrlich gesagt (und das ist auch was für die Frage nach langfristig angelegten Kampagnen wichtig ist) glaube ich, das gerade für Charakterspiel und stark beschreibendes Spiel eine enge Verzahnung von Mechanik und Erzählung wichtig ist. Gerade wenn ich eher "romanhaft" spiele ist es wichtig, wenn das Spielgeschehen jn der Beschreibung mit dem Spielgeschehen am Tisch möglichst in Einklang steht.

Umgedreht ist z.B. für einen kurzen Minidungeon dies viel weniger wichtig, da ist ein größerer Abstraktionsgrad wesentlich leichter zu akzeptieren.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: flaschengeist am 1.01.2025 | 17:03
Ist natürlich eine Frage der Aufbereitung. Ehrlich gesagt kenne ich sehr komplexe, vielschichtige Systeme bei denen nahezu jede Beschreibung auch eine unterschiedliche Mechanik bedeutet bei denen am Spieltisch nie jemand nachschlagen muss.

Und umgedreht relativ schlanke Systeme bei denen versucht wird mit möglichst wenig Mechaniken etwas zu erschlagen was diese aber so aufbläht, dass man andauernd etwas nachschlagen muss oder Dinge diskutieren.

Insofern würde ich da Aufbereitung der Regeln, Detailgrad der Regeln und Komplexität trennen wollen, es kann durchaus sinnvoller sein fünf kleine simple Regeln zu haben als eine große komplexe (für die gleiche Situation)

Wenn du sagen willst, Komplexitätsgrad und Regelqualität sind zwei unterschiedliche Dinge, stimme ich voll und ganz zu. Für mich zeichnen sich gute Mechaniken besonders auch dadurch aus, dass sie "pro Einheit" Komplexität sehr viel Differenzierung leisten. Es bleibt allerdings dabei, dass viel Differenzierung nicht ohne ein Mindestmaß an Komplexität zu haben ist.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 1.01.2025 | 17:08
Wenn du sagen willst, Komplexitätsgrad und Regelqualität sind zwei unterschiedliche Dinge, stimme ich voll und ganz zu.

Das war nicht was ich sagen wollte, stimmt aber natürlich auch.

Was ich sagen wollte ist das Komplexität nicht mit langen, schwer verständlichen oder ständig nach zu schlagenden oder umständlich zu lernenden Regeltexten zusammen hängen muss. Die Aufbereitung der Regeln macht da einen großen Unterschied.

Unter Regelqualität würde ich verstehen wie gut eine Regel ihren Zweck erfüllt - und das geht natürlich prinzipiell auch mit einer furchtbar aufbereiteten Regel.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: flaschengeist am 1.01.2025 | 17:26
Das war nicht was ich sagen wollte, stimmt aber natürlich auch.

Was ich sagen wollte ist das Komplexität nicht mit langen, schwer verständlichen oder ständig nach zu schlagenden oder umständlich zu lernenden Regeltexten zusammen hängen muss. Die Aufbereitung der Regeln macht da einen großen Unterschied.

Unter Regelqualität würde ich verstehen wie gut eine Regel ihren Zweck erfüllt - und das geht natürlich prinzipiell auch mit einer furchtbar aufbereiteten Regel.

Hier sind wir uns ebenfalls einig: Gute Präsentation des Regelwerks (Didaktik der Regeltexte, eingängige Struktur, möglichst hohe Verständlichkeit einzelner Abschnitte aka Eignung zum schnellen Nachschlagen etc.) und geeignete Spielhilfen erhöhen die Zugänglichkeit eines Systems ungemein. Die letzten Jahre der Spieltests vor Veröffentlichung von DuoDecem drehten sich überwiegend um dieses Thema und fast immer, wenn ich heute (und sicher auch zukünftig) Änderungen an meinem Baby vornehme, geht es genau darum.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: AcE am 1.01.2025 | 19:25
Ich bin aus diesem Grund wieder von PbtA Spielen weg. Am Anfang hatte ich ähnliche Erfahrungen gemacht, Spieler brachten sich toll ein und waren motiviert Dinge kreativ zu beschreiben. Je länger die Kampagne dauerte umso mehr kam aber fehlende Relevanz in den Beschreibungen zum tragen. Ob ich nun kreative Idee A oder B machte hatte sehr wenig mechanischen Unterschied. Das ist auch was ich mit der oben angesprochenen Distanz zwischen Erzählung und Mechanik meinte. Die Spieler beschrieben verschiedene Dinge, mechanisch passierte aber genau das gleiche.

Die Spieler selbst waren kreativ, und das war auch was die Runde am Laufen hielt. Aber eigentlich gab es sehr wenig was konkret im Regelwerk dabei half die eigentlichen kreativen Ideen umzusetzen und in der Folge gab es eigentlich immer mehr Diskussionen ob man nicht mit Rulings nachhelfen könne.

Momentan bin ich daher eigentlich der Meinung lieber wieder ein komplexeres System zu spielen welches besser dabei hilft unterschiedliche Aktionen auch mit unterschiedlichen mechanischen Auswirkungen abzuhandeln und aus den regelleichteren Systemen stattdessen nur den Ansatz zu übernehmen zu sagen "kreative Aktionen sind immer erlaubt und lohnen sich, sowas wird vom Spielleiter gefördert und sollte das auch".

PbtA würd ich natürlich trotzdem immer wieder spielen und auch andere regelleichte Systeme. Aber es ist schon so, dass ich dies eher für kürzere Runden in denen die geringere Dichte an Möglichkeiten etwas mechanisch umzusetzen weniger auffällt nutzen würde.

Hier vermischst du ein paar Dinge: In pbta haben Entscheidungen keine insofern Relevanz, dass sie keine Bandbreite an Spielmechaniken triggern. Jeder Spielzug kann (und sollte) aber die Geschichte in eine ganz andere Richtung lenken.

Spielsysteme "belohnen" ja bestimmte Spielarten: In pbta und forged Systemen werden Spieler hauptsächlich dafür belohnt, wenn sie dramatische Fehlschläge haben oder wenn ihre Charaktere bestimmte  Entwicklungen erleben. Gerade letzteres ist sehr gut dafür geeignet, dass eine Kampagne von der persönlichen Entwicklung des Charakters angetrieben wird. Die Systeme belohnen nicht (im Sinne von Würfelboni oder ähnlichen) oder nur sehr gering für taktische Entscheidungen, In Blades wird dies z.T. sogar umgedreht: Man wird dort belohnt dafür Nachteile in Kauf zu nehmen. Wenn es einem wichtig ist für taktisch gute Entscheidungen belohnt zu werden, wird man mit den Systemen nicht glücklich werden

Hier ist die Frage, was die Spieler antreibt: Wenn die Spieler mit einer guten Geschichte ausreichend belohnt sind, dann bekommen sie Mechaniken, die sie dabei unterstützen, eine Geschichte kreativ und kollaborativ zu erzählen. Das ist am Ende denke ich sowohl bei kurzen Abenteuern als auch bei Kampagne eine Frage des persönlichen Geschmacks - Das ist in jeder Spielrunde anders.

Aktuell spiele ich in einer Gruppe, die schon sehr lange Blades in the dark spielt und mit dem Spielsystem lange "gefremdelt" haben - hauptsächlich, weil sie das Spiel mit den Regeln wie ein traditionelles Rollenspiel gespielt haben, was für sie nicht gut funktioniert hat. Inzwischen ist es bei ihnen so, dass jeder Spieler mal mehr, mal weniger Spielleiter-Aufgaben übernimmt und die Fiktion viel stärker als Gemeinschaftsprodukt entsteht. Das System unterstützt sie hier in ihrer Art zu spielen, da es das Gespräch am Spieltisch steuert, kreative Freiheiten lässt und fördert.

Die Relevanz der Handlungen werden hier durch die Wirkung & Konsequenzen am Spieltisch trotzdem eingefangen: Wenn ein Wurf mit "desperate"-Konsequenzen gewürfelt wird (und wie stark eine Situation eskaliert, hängt ja z.T. an bewussten Entscheidungen der Spieler), dann wissen alle Spieler, dass jetzt auch etwas richtig dramatisches passieren wird und halten die Luft an.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Jed Clayton am 2.01.2025 | 02:50
Ich finde diesen Thread aus mehreren Gründen interessant.

Vor einer entsprechenden Frage stand ich schon häufiger und auch in letzter Zeit wieder.
Bei mir ist der Fall gerade so, dass ich letzten Sommer mal zu einer relativ lockeren, kurzen "Bier und Brezel" Spielrunde zwischendurch EZD6 mitgebracht habe, eigentlich nur zum Ausprobieren - nach Möglichkeit einen Abend die Charaktere bauen (dafür brauchen meine Spieler auch bei Mini-Rollenspielen immer recht lang) und einen Abend einen One-Shot spielen.
Dann hat es sich aber ergeben, dass EZD6 bei meinen Spielern so gut angekommen ist, dass sie über den One-Shot hinaus als unser regelmäßiges (Haupt-)Fantasy-Rollenspiel spielen wollten. Vor der Weihnachts- und Neujahrspause waren wir gerade irgendwo im zweiten Abenteuer und demnächst soll es dort weitergehen.

Das Auffällige ist dieses Mal, dass die Spieler offenbar gar kein Problem mit dem einfachen Regelwerk haben (und ich habe dort einige Leute mit einem D&D5-Background usw.), aber ich Grund zu Bedenken habe:
Schon im ersten Abenteuer mit einem normalen (unmodifizierten) EZD6 und vier bis fünf Spielercharakteren habe ich gesehen, dass die Charaktere auch gegen relativ große und mächtige Gegner und Monster schnell durchmarschierten. Der Krieger ist dort so angelegt, dass er praktisch schon von Anfang an alle möglichen Gegner wegprügeln und eliminieren kann. Der Magier hat quasi von Beginn an zumindest theoretisch Zugriff auf alle möglichen Zauber seiner Zauberschule oder Zaubertradition und kann sich selbst frei im Abenteuer neue Zauber ausdenken - diese werden dem SL kurz beschrieben, der SL sagt, ob sie zu der Zaubertradition des Charakters (und zur Spielwelt) passen oder nicht, legt einen Schwierigkeitsgrad fest, und der Spieler darf es versuchen. Im Grunde genommen war genau so etwas vom Prinzip her immer mein Traumsystem: Alles schon enthalten und alles kurz und kompakt und leicht verständlich.

Aber in einem System, in dem nur die Zahlenergebnisse von 1 bis 6 vorkommen, noch nicht einmal mehrere W6 addiert werden oder andere Kombinationen vorkommen, ist aus meiner Sicht einfach zu viel möglich und zu viel schon gleich zu Anfang. Ich habe die Mühe, Gegner wirklich massiv bedrohlich zu machen. Die Charaktere kamen schon gegen einen großen Troll, mehrere Oger und gegen einen gestaltwandelnden Erzmagier gut voran. Alles schön und lustig, es wirkte aber dennoch eine Spur "zu leicht".
Dazu kam, dass die Spieler eben echte Rollenspieler sind und sehr schnell herausgefunden hatten, wie sie durch geschickte Wahl von Talenten (Bonusfähigkeiten) und das Teamwork von Krieger, Schurke, Magier, Barbar und anderen überaus effizient wurden. Dazu haben sie auch verflixt gut gewürfelt. Und was einmal vorkommt, kann ja beim nächsten Abenteuer jederzeit wieder vorkommen. Ich habe jetzt begonnen, Gefahren und Monster einzubauen, die zum Beispiel geisterhaft und immateriell sind oder nicht durch herkömmliche Waffen verwundbar, nur durch magische.

Aber es kommt noch dazu, dass EZD6 eben keine Stufen hat und zumindest im unmodifizierten Regelwerk kein festes System des Aufsteigens oder Dazulernens.

Ich selbst würde eigentlich gern eine härtere, etwas strengere und herausforderndere Fantasy-Kampagne leiten - etwas Halbrealistisches wie Mythras oder vielleicht auch Castles & Crusades oder wenigstens The Black Hack (wo ja der typische Anfänger-Charakter auch wirklich mal schnell weg sein kann) - aber meine Spieler mögen eben EZD6. Dabei kommt wenig Realismus heraus, man hat fast immer eine Mischung aus amerikanischem Superheldencomic, Fantasy-Slapstick und ganz stark vereinfachtem D&D. Das ist ja eigentlich auch ganz toll, eben für einen One-Shot auf einer Con oder für Bier & Brezel-Runden, aber ich sehe das nicht als die Ideallösung für eine Kampagne.
Im Moment lohnt es sich für mich nicht, ein anderes System vorzubereiten, weil es allen außer mir zu viel zu lesen ist und weil im Moment auch niemand "umdenken" möchte. Die Spieler sind mit dem minimalistischen System fast vollständig zufrieden. Ich muss wohl gucken, wie sich das dann über ein Jahr oder länger entwickelt, ob dann Ernüchterung einkehrt, weil sich die Spielercharaktere nicht merklich weiterentwickeln oder nicht mehr viel dazugewinnen können, nicht in Form von Gegenständen oder Reichtum und nicht in Form von Attributen.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: AcE am 2.01.2025 | 08:11
Dein "Problem" mit dem System ist scheinbar nicht der Minimalismus, sondern der Power-Level? Als jemand der von DSA gekommen ist, geht es mir oft genauso; Gerade die starke Progression von vielen an D&D angelegte Systeme haben, sagt mir überhaupt nicht zu. Deine Spieler scheinen hingegen auf High-Fantasy mit mächten Hauptcharakteren zu stehen.

Und wenn ihnen das Spaß macht, dann muss man daran ja nicht unbedingt etwas ändern, sondern braucht halt für eine längere Kampagne Geschichten, die zu diesem Power-Level passen. Du hast ja selbst Superhelden-Comics als Analogie genannt, vielleicht sind diese auch eine gute Anleihe - Dort gibt es ja ebenfalls mächtige Hauptcharaktere und trotzdem längere, spannende Geschichten.

Dabei können vielleicht Fragen helfen, die man auch an einen Roman stellen könnte: Was treibt die Helden an? Was ist den Helden wichtig? Wie könnte die Geschichte Entwicklungen der Helden anstoßen? Warum sind die Antagonisten auch für starke Helden eine glaubwürdige Bedrohung? Wie könnte der Konflikt in der Geschichte eskalieren? Was steht für die Helden auf dem Spiel? - Ich glaube damit kann man schon Material auch für eine längere/mittellange Kampagne zusammenstellen.

Wenn du etwas anderes ausprobieren willst: Vielleicht findest du ein System, dass du mal an einem Oneshot vorstellen kannst, ohne das die Mitspieler Regelstudium betreiben müssen.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 2.01.2025 | 10:54
In pbta haben Entscheidungen keine insofern Relevanz, dass sie keine Bandbreite an Spielmechaniken triggern. Jeder Spielzug kann (und sollte) aber die Geschichte in eine ganz andere Richtung lenken.

Und diesen Teil finde ich durchaus gut und sinnvoll. Mein Problem ist eher: ich kann ihn eins zu eins auch in einem komplexeren System, bei dem die Mechanik näher an der Charakterbeschreibung ist haben.

Die Einfachheit und Abstraktion bietet zumindest aus meiner Perspektive keinen Innewohnenden Vorteil bezüglich der Frage wie mit Charakterentwicklung Wendungen in der Geschichte abgedeckt werden. Ich kann die gleichen Wendungen schließlich in jedem System haben, unterscheiden tun sich die Systeme darin wie die Ergebnisse dieser Wendungen die Charaktere beeinflussen.

Beispielsweise ist es in einfacheren Systemen üblicher, dass Bindungen oder die Ergebnisse einer Spielwendung sich auflösen und durch andere ersetzt werden. Jeweils das aktuellste zählt. In komplexeren Systemen sammeln sich diese Dinge stärker an.

Und das betrifft lange Kampagnen natürlich. Wenn ich überlege "wie beeinflusst meinen Charakter was vor fünf Jahren im Spiel geschah" so lässt sich dieser Einfluss leichter darstellen wenn Charaktere von mehr Regelelementen beeinflusst werden.

Ich glaube nicht da für alle einfachen Regelsysteme sprechen zu können, vielleicht ist das ja auch nur eine gefühlte Tendenz?

Es war zumindest mein Eindruck.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 2.01.2025 | 12:12
Ich denke, für mich läßt sich die Ausgangsfrage zur Zeit so beantworten: ja, auch mit schlanken Systemen lassen sich lange Kampagnen spielen. Was ich damit allerdings nicht kriegen werde, ist eine Kampagne, die sich genauso anfühlt wie eine mit einem bereits vertrauten Regelboliden...und das hat dann weniger mit der Gewichtsklasse zu tun als eben mit dieser Vertrautheit und den damit verbundenen Erwartungen, denn dasselbe "Problem" hätte ich ja auch, wenn ich statt dessen auf ein hinreichend anderes Schwergewicht gesetzt hätte. (Auch GURPS spielt sich eben nicht wie Pathfinder 1 und fährt mit im Vergleich eher gebremstem Aufstieg, und die Variable "Spielgefühl" ist nun mal sowohl hochgradig subjektiv als auch empfindlich.)

Der Rest ist dann schlicht eine Geschmacks- und Kommunikationsfrage: was wollen ich und der Rest der Gruppe eigentlich überhaupt von einer langen Kampagne, und wie einigen wir uns so, daß unser aller Erwartungen möglichst gut erfüllt werden? Wenn wir das einigermaßen geklärt haben, dann können wir uns auch an die Systemauswahl machen -- aber vorher helfen uns wilde Hypothesen darüber, welche Systeme das "sowieso nicht" können sollen, nicht wirklich weiter.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 2.01.2025 | 12:44
Wahrscheinlich muss man einfach sehr stark auf die Details schauen. Konkrete Regeln betrachten und überlegen "wie helfen diese um eine lange Geschichte zu erzählen".

Das man prinzipiell mit jedem System auch lange Kampagnen spielen kann ist doch klar. Aber es gibt durchaus Unterschiede auf welche Probleme man stoßen kann und wie die Regelwerke helfen diese anzugehen.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: First Orko am 2.01.2025 | 13:35
Und diesen Teil finde ich durchaus gut und sinnvoll. Mein Problem ist eher: ich kann ihn eins zu eins auch in einem komplexeren System, bei dem die Mechanik näher an der Charakterbeschreibung ist haben.
...

Man _kann_ alles mit allen Systemen machen. Systeme legen aber unterschiedliche Gewichtungen, welche Dinge eher von den Spielenden gemacht werden, und welche nicht - System matters.
Beispiel: Ein klassisches, komplexeres System wird tendenziell eher auf "Task Resolution" setzen - also die Abbildung einer konkreten Aktion auf einen (oder gar mehrere) konkrete Würfelwürfe. Steht die Gruppe vor einem Hindernis wie einer Tür, wird dann versucht, diese mit möglicherweise passenden Fähigkeiten zu lösen. Schlägt ein Versuch fehl, ist die Konsequenz möglicherweise etwas wie "Dietrich zerbrochen" o.Ä. - kann aber bis zur Eskalation "Wachen sind alarmiert und greifen Gruppe an" reichen. Tatsächlich passiert es oft, dass mehrere SC sich nacheinander an dem Hindernis versuchen, bis eine Lösung funktioniert. Das dauert dann ein paar Versuche, ggf. müssen Boni/Mali nachgeschlagen und verrechnet werden usw. In der Zwischenzeit geht die Geschichte faktisch nicht weiter: Die Gruppe steht vor der Tür.
Löse ich grober auf und mache es zu "Conflikt Resolution" ist die übergreifende Aktion vielleicht "Wir schleichen uns zum Zellentrakt rein". In PbtA wäre dann bei einer 7 als Ergebnis eine verschlossene Tür als Komplikation - eine weitere 7 um diese zu überwinden sorgt für Wachen, der Versuch diese abzufangen zu verwirren mit einer 7 führt dann dazu, dass die Tür aufspringt und die Gruppe von beiden Seiten eingekesselt ist usw. Was bei PbtA eher nicht passieren wird: Das Abhandeln mehrer Würfe auf ein und dasselbe Hindernis, ohne das es zu einer neuen Entwicklung führt. Auch da wieder: Es kann  genauso passieren - aber das System legt einem da schon bisschen Steine in den Weg, während eine Latte an 45 Skills dazu einlädt, diese auch erstmal auszuprobieren, wenn ein Hindernis im Weg ist.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Arldwulf am 2.01.2025 | 13:43
Wobei ich dies nicht gerade als Beispiel für Themen betrachten würde die lange Kampagnen betreffen.

Da würde ich eher die Fragen aufwerfen wie das Regelwerk progressive Steigerung von Gefahren abhandelt, wie Erlebnisse des Charakters am Anfang des Abenteuers am Ende noch Bedeutung haben können und wie das Regelwerk unterstützt Gruppendynamik sich über längere Zeiträume entwickeln zu lassen.

Wie man an einem Schloss vorbeikommt und ob dies überhaupt mit expliziten Würfen abgehandelt wird (gibt ja auch in komplexen Systemen dabei unterschiedliche Resulutionsmechaniken) kommt mir da nicht als erstes in den Sinn oder nur als Beispiel wie vorherige Entwicklungen auf diese Situation Einfluss nehmen können.
In der Zwischenzeit geht die Geschichte faktisch nicht weiter: Die Gruppe steht vor der Tür.

Und ist dieser Teil nicht eigentlich ein wenig selbsterfüllende Prophezeiung? Die Geschichte geht ja nur dann nicht weiter wenn ich sie nicht weiter gehen lasse. Aber sowohl in komplexen wie auch einfachen Systemen würde eine fehlgeschlagene Aktion ja nicht bedeuten, jetzt hält die Welt an. Im Gegenteil, die Umgebung kann darauf reagieren, genau wie dies in deinen Beispielen geschah.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: Galatea am 2.01.2025 | 14:04
Man _kann_ alles mit allen Systemen machen. Systeme legen aber unterschiedliche Gewichtungen, welche Dinge eher von den Spielenden gemacht werden, und welche nicht - System matters.
Beispiel: Ein klassisches, komplexeres System wird tendenziell eher auf "Task Resolution" setzen - also die Abbildung einer konkreten Aktion auf einen (oder gar mehrere) konkrete Würfelwürfe. Steht die Gruppe vor einem Hindernis wie einer Tür, wird dann versucht, diese mit möglicherweise passenden Fähigkeiten zu lösen. Schlägt ein Versuch fehl, ist die Konsequenz möglicherweise etwas wie "Dietrich zerbrochen" o.Ä. - kann aber bis zur Eskalation "Wachen sind alarmiert und greifen Gruppe an" reichen. Tatsächlich passiert es oft, dass mehrere SC sich nacheinander an dem Hindernis versuchen, bis eine Lösung funktioniert. Das dauert dann ein paar Versuche, ggf. müssen Boni/Mali nachgeschlagen und verrechnet werden usw. In der Zwischenzeit geht die Geschichte faktisch nicht weiter: Die Gruppe steht vor der Tür.
Löse ich grober auf und mache es zu "Conflikt Resolution" ist die übergreifende Aktion vielleicht "Wir schleichen uns zum Zellentrakt rein". In PbtA wäre dann bei einer 7 als Ergebnis eine verschlossene Tür als Komplikation - eine weitere 7 um diese zu überwinden sorgt für Wachen, der Versuch diese abzufangen zu verwirren mit einer 7 führt dann dazu, dass die Tür aufspringt und die Gruppe von beiden Seiten eingekesselt ist usw. Was bei PbtA eher nicht passieren wird: Das Abhandeln mehrer Würfe auf ein und dasselbe Hindernis, ohne das es zu einer neuen Entwicklung führt. Auch da wieder: Es kann  genauso passieren - aber das System legt einem da schon bisschen Steine in den Weg, während eine Latte an 45 Skills dazu einlädt, diese auch erstmal auszuprobieren, wenn ein Hindernis im Weg ist.
Gerade der letzte Satz bringt mich zu einem interessanten Punkt, der besonders Regelsysteme mit Fertigkeitslisten (je freier, desto besser) betrifft.

Ist jetzt nur eine persönliche Beobachtung, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass wenn Charaktere eine Liste an Fertigkeiten/Feats/Zauber/etc. haben, die Spieler oft tatsächlich versuchen eine Lösung entlang dieser Fähigkeiten zu finden - das muss aber nicht einmal zwangsläufig daran liegen, dass ein Spieler sagt "ich habe Fertigkeit X, also muss ich das Problem auch damit angehen", sondern eher daran, dass der Spieler beim überlegen/der Suche nach einem Plan auf seinen Charakterbogen schaut und seine Skills ihm diese Lösungsideen unbewusst ins Bewusststein stecken.
Sozusagen 'Wenn man jede Menge Hämmer im Inventar hat, betrachtet man jedes Problem als Nagel'.

Hier kann man als SL tatsächlich ein wenig mitsteuern, wenn man Spielern bei einer ungewöhnlichen Lösung Stufen/Erfahrungspunkte auf passende Fertigkeiten gibt, die für eine eher ungewöhnliche Lösung verwendet wurden/in irgendeiner Form relevant waren. Wichtig ist letztlich nur dass der Skill am Ende irgendwo auf dem Charakterbogen steht. Wenn man ein System hat, in dem man (aus welchem Grund auch immer) einfach ab und zu zufällig Fertigkeiten/an Fertigkeiten gebundene XP vergeben kann, geht das sogar noch leichter.

Bei sehr einfachen Systemen hat man einen solchen Luxus leider nicht immer, wobei man in manchen Fällen auch alternativ ein Stück Ausrüstung verwenden kann.
Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: nobody@home am 2.01.2025 | 14:20
Nebenbei, rein anekdotisch: wenn mich einer nach dem System fragen würde, das ich selbst am ehesten mit langen Kampagnen assoziiere, dann wäre das wahrscheinlich...nicht mal so sehr eine Spielart von (A)D&D(*), die ja traditionell eher dafür bekannt sind, oberhalb gewisser Stufen ins Stolpern zu geraten, als vielmehr Hero speziell in seiner Superheldenausprägung Champions, wenn auch weniger aus persönlicher Spielpraxis als vom Hörensagen ("Aaron Allston's Strike Force" beispielsweise) und aufgrund des dafür speziell zu 4.-Editions-Zeiten recht gut aufgestellten Hintergrundmaterials (Settingbände, Abenteuer, Superschurkensammlungen...). Und das ist seinerseits auch wieder ein ziemliches Schwergewicht, obwohl das teilweise Editionssache ist; von der ersten bis zur sechsten hat das Regelwerk schlicht ganz gehörig zugenommen.

Aber: der eigentliche Grund, aus dem ich dieses System als "Klassiker" für Kampagnen praktisch beliebiger Länge oder auch Kürze betrachten würde, hat weniger mit der Regelmasse an sich zu tun als mit zwei bestimmten Faktoren. Zum einen taugt das Superheldengenre ohnehin gut dazu -- irgendwas, was nach Leuten mit Superkräften schreit, ist so gut wie immer am Dampfen, ich kann problemlos zwischen eher episodischem Spiel und länger laufenden Plotsträngen hin und zurück wechseln, und die Bandbreite an potentiell spielbaren Charakterkonzepten ist da auch so breit wie praktisch nirgendwo sonst. Und zweitens entwickeln sich zwar auch Champions-Charaktere im Lauf der Zeit weiter, sie tun das aber in einigermaßen gemächlichem Tempo (bis zu einer Handvoll neuer Charakterpunkte pro Abenteuer sind halt für jemanden, der schon mit dem Gegenwert von 250 oder so angefangen hat, nichts allzu Welterschütterndes...), was längeres Spiel aus meiner Sicht insofern unterstützt, als sich die Kampagne nicht ständig komplett neu erfinden und umkrempeln muß, um mit den Spielercharakteren überhaupt noch mithalten zu können.

Um diese zwei Aspekte zu kriegen, muß ich natürlich nicht ausgerechnet Champions komplett mit allem und scharf überhaupt erst verwenden und würde das heute auch nicht mehr, weil einfach zu viel Regelballast -- aber als potentielles Vorbild in Sachen "Langzeitkampagnentauglichkeit und Kriterien dafür" taugt es mir diesbezüglich auch heute allemal noch.

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Titel: Re: Sind schlanke Systeme gut für lange, progressive Kampagnen geeignet?
Beitrag von: AcE am 8.01.2025 | 19:06
Und das betrifft lange Kampagnen natürlich. Wenn ich überlege "wie beeinflusst meinen Charakter was vor fünf Jahren im Spiel geschah" so lässt sich dieser Einfluss leichter darstellen wenn Charaktere von mehr Regelelementen beeinflusst werden.

Das interessante an diesem Satz ist, dass "lang" sowohl die Spielzeit als auch die "Ingame"-Zeit beschreiben kann. Das muss aber nicht miteinander korrelieren.

Wir haben diese Woche "Posthuman Pathways" gespielt ( https://www.drivethrurpg.com/en/product/127547/posthuman-pathways) - Ein "Impro-Rollenspiel", bei dem Technik das Leben der Charaktere verändert und man zu schweren Entscheidungen gezwungen wird, die den weiteren Lebensweg beeinflussen.

Das ganze ging einen Abend lang, umfasste Ingame aber stimmig mehrere Jahrzehnte. Ich habe noch in wenigen Systemen vorher derart erlebt, wie schicksalhafte Ereignisse die Entwicklung eines Charakters prägen.

Ich würde daher die Frage verneinen, dass die langfristige Entwicklung eines Charakters sich hauptsächlich durch Regelelemente darstellen lässt. In diesem Spiel wurde die langfristige Entwicklung dadurch gesteuert, dass das Spiel die Spieler in jeder Szene zu einer schweren Entscheidung gezwungen hat, die mit einem Verlust verbunden ist.