Kampagnen-Teaser - Teil 1
Fallstudie X-1042
Ausführende Ärzte:
- Dr. rer. nat. Alfons Pfeifer (Leiter)
- Dr. rer. biol. hum. Steffan Haasmann
- Dr. rer. cur. Roy-Reinout Verhulst
Patienten: X-1, X-2, X-3, Y-1, Y-2
Merkblatt 1
Die diagnostischen Kriterien für eine Demenz beinhalten Kombinationen von Defiziten in kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten, die zu einer Beeinträchtigung von sozialen und beruflichen Funktionen führen. Als Leitsymptom gilt die Gedächtnisstörung. Am Anfang der Erkrankung stehen Störungen des Kurzzeitgedächtnisses und der Merkfähigkeit, in ihrem weiteren Verlauf verschwinden auch bereits eingeprägte Inhalte des Langzeitgedächtnisses, so dass die Betreffenden zunehmend die während ihres Lebens erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten verlieren.
Definition der Demenz nach ICD 10
Demenz (ICD-10-Code F00-F03) ist ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störung vieler höherer kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache, Sprechen und Urteilsvermögen im Sinne der Fähigkeit zur Entscheidung. Das Bewusstsein ist nicht getrübt. Für die Diagnose einer Demenz müssen die Symptome nach ICD über mindestens sechs Monate bestanden haben. Die Sinne (Sinnesorgane, Wahrnehmung) funktionieren im für die Person üblichen Rahmen. Gewöhnlich begleiten Veränderungen der emotionalen Kontrolle, der Affektlage, des Sozialverhaltens oder der Motivation die kognitiven Beeinträchtigungen; gelegentlich treten diese Syndrome auch eher auf. Sie kommen bei Alzheimer-Krankheit, Gefäßerkrankungen des Gehirns und anderen Zustandsbildern vor, die primär oder sekundär das Gehirn und die Neuronen betreffen.
Definition der Demenz im DSM-IV
Die kognitiven Defizite verursachen eine signifikante Beeinträchtigung der sozialen und beruflichen Funktionen und stellen eine deutliche Verschlechterung gegenüber einem früheren Leistungsniveau dar. Sie treten nicht im Rahmen einer rasch einsetzenden Bewusstseinstrübung oder eines Delirs auf. Zur Beeinträchtigung des Gedächtnisses muss noch mindestens eine der folgenden Störungen hinzukommen:
Aphasie: Störung der Sprache
Apraxie: beeinträchtigte Fähigkeit, motorische Aktivitäten auszuführen
Agnosie: Unfähigkeit, Gegenstände zu identifizieren bzw. wiederzuerkennen
Dysexekutives Syndrom: Störung der Exekutivfunktionen, d. h. Planen, Organisieren, Einhalten einer Reihenfolge
Untersuchung 1 und Vorstellung - Kurzprotokoll
[geschwärzt] - 22:04 Uhr
Tag 1 unserer Untersuchung. Fünf Patienten sind mit Verdacht auf fortgeschrittene Demenz auf Anraten behandelnder Ärzte und Pfleger mit Einverständnis der vorherigen Obhutspersonen eingeliefert wurden. Aus den Daten des Einschreibeprotokolls E127K5 ist zu entnehmen, dass sie vor zwölf Tage stationär aufgenommen wurden. Erfreulicherweise stellen die Patienten eher joviale bis spielfreudige Gesellen dar und passen sich gut in die Projekte des altengerechten Wohnens der Phase 5 ein. Das ist bewunderswert, da sie sich aufgrund fortgeschrittener Demenz [Fremddiagnostizierung - siehe dazu Krankenakten X-1 bis X-3 und Y-1 bis Y-2 in den Formblättern A17 und C3. Memo: Warum haben fünf unterschiedliche Ärzte die Diagnose gestellt bei extremer räumlicher Nähe?] jeden Tag neu eingewöhnen müssten.
Habe die Zeit zur Vorstellung genutzt und geschaut, ob sie einen natürlichen Widerwillen mir gegenüber verspüren. Ist bei keinem der Patienten der Fall. Danach habe ich, in Annahme der Korrektheit der Diagnose, erst einmal eine volle Demenz angenommen und mit der Untersuchung der motorischen Fähigkeiten der Patienten begonnen. Zu diesem Zweck haben wir einfache Spiele gemacht, welche ihnen eine vertraute Umgebung suggerieren sollten. Dazu ist das Kulturgut «Mensch ärgere dich nicht» zum Einsatz gekommen. Interessanterweise stellte sich alsbald ein völliges Erlöschen des Gedächtnisses heraus, was faktisches Wissen angeht, jedoch sind ihre motorischen Fähigkeiten für Menschen ihres Alters gut erhalten. Lediglich Patient X-2 schaffte es nicht, die gegebene Tischfläche mit dem eigenen Würfel zu bespielen. Erst die Weitergabe eines Plexiglaskastens mit hohen Kanten, damit der Würfel nicht runterfiel, half den Patienten bei dieser motorischen Schwäche, welche jedoch nicht demenzbedingt eingetreten zu sein scheint. Patient X-1 leidet unter einem in die Augen fallenden Ohrenwackeln bei Aufregung. Grundsätzlich waren bis auf altersbedingte Einschränkungen im Bewegungsapperat, vor allem Gelenkverschleiße, keine gesteigerte Formen von Aphraxie festzustellen.
Alle Patienten schienen aber von Agnosie betroffen, da sie das Spiel nicht mehr erkannten und auch nichts damit verbanden. Beim Spielen konnte auch ein dysexekutives Syndrom bei allen Patienten festgestellt werden. Trotz klar ausgewürfelter Initiativereihenfolge konnten sie sich nicht an sie halten. Hier sind wahrscheinlich Demenzschäden im Kurzzeitgedächtnis festzustellen, da auch gleichbleibende und stetige Wiederholung nicht ausreicht und es immer wieder, beinahe unisono, zur Frage kommt: "Bin ich dran?" Jedoch kann keine Aphasie festgestellt werden. Jeder Patient hat die Fähigkeit zur Sprache nicht eingebüßt. Kleine sprachliche Schwächen, wie das von Patient X-3 wiederholt in den Raum geworfene "Willkommen!", obwohl kein Kontext erkennbar war, scheint anderen Umständen geschuldet und könnte bereits auf unbewusste Erinnerungsäußerung hinweisen. Kontext blieb trotz Nachfrage unklar und hinweislos.
Dennoch lassen mich meine ersten Untersuchungsergebnisse die dargelegten Diagnosen hinterfragen. Entweder wir haben es mit einem sehr ungewöhnlichen Fall von Demenz zu tun, in denen die Sprachsektoren des Hirnes später dem altersbedingten Verfall anheim fallen oder wir haben eine andere Form von Demenz hier vorliegen, ergo keine klassische Altersdemenz. Ich werde über die Forschungsmöglichkeiten nachdenken und im Folge dessen mein Habilitationsvorhaben anpassen. Klar festzustellen ist, dass die bereits gestellte Diagnose angepasst oder zumindest präzisiert werden muss und ich diesen Fall wahrscheinlich bis zum Ausscheiden der Patienten aus Phase 5 übernehmen werde. Meine primären Erfahrungen mit Demenzpatienten sind aber noch auf Schulwissen und losen Kontakten basierend. Zu diesem Zwecke habe ich mir die Hilfe von Dr. Verhulst, der für Fragen der Pflegemethodik und Methodologie zuständig ist, und von Dr. Haasmann, Neurobiologe, geholt. Mit beiden Herren werde ich eine Behandlungsstrategie beraten und diverse Untersuchungen durchführen.
Ende des Kurzprotokolles: [geschwärzt] - 22:47 Uhr
Roy Verhulst [geschwärzt]
Gesendet: [geschwärzt] 22:31
An: undisclosed-recipients:
Betreff: Therapiemethode / Zuordnung gefundener Bücher
Kollegen,
kurz zur Info. Bin morgen erst ab 11:30 auf Arbeit. Meine Tochter will ihren Hund beerdigen auf einem Tierfriedhof. Habt ihr die Halsabschneider-Preise gesehen?
Alfons,
eine der Pflegerin kam heute zu mir und sagte, dass ein junger Azubi Mist gebaut hat. Deine Patienten haben ja Bücher (je ein Buch?) mit auf Station genommen/bekommen. Er hat die Bücher durcheinandergebracht beim Aufräumen. Kennst du die Zuordnung noch? Geht um folgende Bücher:
- Die Blendung von E. Canetti
- Barabbas av P. Lagerkvist
- Arrowsmith by S. Lewis
- L'être et le néant. Essai d'ontologie phénoménologique par J.-P. Satre
- Qu’est ce que la propriété? Ou recherches sur le principe du droit et du gouvernement par P.-J. Proudhon
Wegen der Behandlung,
die erste Analyse hat einen spielfreudigen Charakter bei allen Patienten ergeben. Wir wissen beide sehr gut, und Steffan sowieso, dass 90% unserer Hirntätigkeit ohne unser aktives Zutun stattfindet. Wir sollten das nutzen und in Richtung Eskapismustherapie gehen. Niemand wird alles vergessen haben, auch nicht faktisch. Das funktioniert doch nicht, sonst würden sie sich nur einnässen und nicht mehr Kauen können. Die Alten können das aber. Ich weiß doch auch, dass du erstaunt bist, Alfons. Habe das doch deutlich gesehen. Es gab unbewusste Erinnerungen. Hast du gesehen, wie X-2 instinktiv zu den Aufbacklaugenbrezel gegriffen hat, aber neurotisch jedes Salzkorn entfernte, während X-1 fast tranceartig Cola getrunken hat? Oder Y-4? Irgendwas hat ihn unbewusst an Westerntopf mit Schmand erinnert, doch dann scheiterte er an der Mikrowelle, obgleich er noch immer seinen Schuh zubinden kann. Ich weiß, Steffan, das Hirn muss nicht symmetrisch den Verstand abbauen, aber wir sollten testen, wozu ihr zurückgehenden Geist noch in Sachen Kreativität in der Lage ist. Man sagt, dass Kinder am meisten kreatives Potenzial besitzen und alte Menschen wieder zu Kindern werden. Worauf warten wir dann also?
Bis morgen, Kollegen.
Dr. rer. biol. hum. Haasmann [geschwärzt]
Gesendet: [geschwärzt] 22:45
An: undisclosed-recipients:
Betreff: AW: Therapiemethode / Zuordnung gefundener Bücher
Sehr geehrter Herr Kollege,
ich verbitte mir diese direkte Ansprache meiner Person. Ich habe Ihnen im öffentlichen Verkehr nicht den kumpelhaften Umgang erlaubt.
Lassen Sie mich, meine Herren, kurz andeuten, was der sehr geehrte Herr Dr.Verhulst auszudrücken gedenkt. Und lassen Sie mich das deutlich sagen. Dr. Verhulst, ich habe in Ihrer Vita durchaus Ihre Arbeiten über die klassische Psychoanalytik, Tranceinduktion und vor allem Psychophysik gelesen und habe mir die Mühe gemacht im Laufe des heutigen Abends einen flüchtigen Blick über die verfügbaren Publikationen in den naheliegenden Instituten anzuschauen. Psychophysik, Herr Dr. Verhulst? Ich bitte Sie! Was kommt als nächstes? Sie bitten Herrn Dr. Pfeifer darum Mesmerismus an den betagten Patienten durchzuführen?
Ich bitte Sie, Herr Dr. Pfeifer, morgen um 11:00 um ein Gespräch unter vier Augen. Wenn Sie nicht wollen, dass Ihre Arbeit in ein paar Jahren das Regal mit den Gebrüdern Grimm, Baron von Münchhausen und dem Herrn der Ringe teilt, sollten Sie sich vielleicht an wissenschaftliche Fakten halten und kein freudsches Geplänkel veranstalten. Meiner Ansicht nach werden Sie mit einer ausreichenden Beobachtung, einer sittsamen und ethisch vertretbaren Medikamentation und meinen Testversuchen an den Patienten deutlich weiterkommen als mit Hokuspokus.
Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen
Dr. rer. biol. hum. Steffan Haasmann
Untersuchung 2 und 4-Augen-Gespräche - Kurzprotokoll
[geschwärzt] - 19:31 Uhr
Tag 2 ist zu einer ersten Belastungsprobe geworden. Die Patienten reagieren nicht sehr gut auf Dr. Haasmann und lassen sich nicht von ihm behandeln. Selbst wenn ich eine reine Medikamentation und Testverfahren bevorzugen würde, würden meine Patienten das nicht mitmachen. Unser Institut ist zurecht in Verruf geraten wegen diverser Transplantationsskandale in den letzten Jahren und seitdem sind die Kontrollen sehr scharf geworden. Ich verstehe dieses ethischen Vorgehen und beabsichtige auch nicht in irgendeiner Form ein zweiter Dr. John Cutler zu werden.
Dr. Verhulsts Annahme, dass die Erinnerung noch vorhanden ist, aber kein aktiver Zugriff mehr darauf möglich ist, nach der 90%-These meine Patienten also ihre 10%-Aktivregion fast komplett verloren haben, hat sich meines Ermessens nach bestätigt. Seine Beobachtung zur Nahrungsaufnahme waren treffend, da wir den Test heute mit einer größeren Auswahl an Nahrungsmitteln vorgenommen haben. Die Ergebnisse blieben fast komplett gleich. Aber auch anhand dieser intensiven Ablehnung einer medikamentösen und spritzenintensiven Behandlung durch Dr. Haasmann. Die Ablehnung aller Patienten war derartig groß, dass es fast zu einer Art Handgemenge kam. X-3 schlug Dr. Haasmann sogar die Brille kaputt, nicht ohne in signifikanter Lautstärke "Willkommen" zu brüllen. Die sonstigen Untersuchungsergebnisse weichen auch nicht von meinen ersten Beobachtungen ab. Dass wir gestern gesprochen und gespielt hatten, haben die Patienten erwarteterweise wieder vergessen, wie auch die Regeln. Sie gliederten sich aber wieder jovial in ihre Umgebung ein. Nur sobald Dr. Haasmann auftauchte, wurden sie vorsichtig, als läge ein Schatten über diesen Mann. Kurz darauf hatten sie seine Anwesenheit aber wieder vergessen. Ich werde noch zwei bis drei Tage beobachten lassen, ehe ich mit dem Einsatz anderer Methoden beginne. Zudem brauche ich noch die Vitalwerte aus dem Labor. Ich habe eine Sekretuntersuchung machen lassen, da ich an der Diagnose dieser fünf Doktoren noch immer zweifeln mag. Habe zu diesem Zweck E-Mails an sie geschrieben und darum gebeten, innerhalb der nächsten 36h darauf zu antworten.
Um 11:05 Uhr Gespräch mit Dr. Haasmann geführt. Hat wie ein wildgewordener Börsianer getobt, der gerade 75% seines Depots verzockt hat. Musste aber einsehen, dass meine Patienten sich nicht traditionell behandeln lassen. Habe ihm zugesagt, Dr. Verhulst darum zu bitten, jede respektlose Haltung ihm gegenüber einzustellen oder zumindest abzumildern. Dr. Haasmann ist danach von mir beauftragt wurden, eine Medikamentenliste zu erarbeiten und von mir informiert wurden, dass Dr. Verhulst vielleicht doch Zugriff auf Tranceinduktion bekommen wird, und sei es nur, um die Tests und Medikamente durchzubringen. Das muss ethisch aber noch mit meinem Vorgesetzten geklärt werden. Wir werden die Ungefährlichkeit der Medikamente und Testverfahren in den Vordergrund stellen und versuchen den Patienten die unnötige Angst vor der Behandlung durch Hypnose zu nehmen.
In diesen Vorhaben hat Dr. Verhulst mich nach unserem Gespräch um 12:00 Uhr bekräftigt. Er hat Dr. Haasmanns Ausbruch, der sich auch im Mailverkehr ereignet hatte, mit Humor gesehen. Brachte aber vielmehr eine interessante Idee auf. Schlug vor, dass wir diese eskapistische Schiene verstärken und mit den Patienten mehr spielen sollten. Er hatte dazu ein Handbuch in der Hand, welches aus dem Spielesektor kommt. Malmsturm heißt es. Verhulst erklärte mir die Spielregeln und es erschien in dem Umfang so leicht zu erlernen, dass auch die Patienten sich daran beteiligen können, in dem wir einfach ihre Phantasie anregen. Kaum Regeln, die sie sich merken müssen, und die dysexekutiven Probleme der Reihenfolge bekommen wir in den Griff. Dr. Verhulst schlug vor, sie einfach Geschichten erzählen zu lassen, völlig gleich, ob sie stimmen oder nicht - Vergleich es tatsächlich mit gängiger Literatur der Phantastik. Sicher werden die Geschichten dadurch manchmal etwas unzusammenhängend sein und wirr wirken, aber Dr. Verhulst sieht darin eine Chance, ihre Erinnerung zu rekapitulieren. Er referierte mir fast eine Stunde über das "Hyperthymestische Syndrom", eine extreme Begabung, alles und jederzeit episodisch erinnern zu können. Zwar sind unsere Patienten zwar nicht davon im positiven Sinne betroffen, aber er glaubt, dass Vergessen nicht dadurch entsteht, dass es einfach weg ist, gelöscht oder sonstwie, sondern dass irgendwas in unserem Hirn die, wie er es nennt, Verkabelung ändere. Quasi wie eine alte DVD, die man ganz hinten im Schrank verstaut und ohne ausreichende Reize dort verschwinden wird aus der aktiven Erinnerung bis ein Reiz einem die DVD suchen lässt. Nichts ist vergessen. Keine DVD-RW. Und selbst wenn doch, so glaubt er, können überschriebene Datenspuren rekonstruiert werden. Oder anders gesagt, er will dieses alte Wissen mit diesem Spiel hervorlocken. Als ich zu zweifeln begann, schlug er selbstständig vor, während des Spielens die Medikamentation vorzunehmen, da die Patienten während des Spielens euphorisch sind.Vielleicht hätte das eine stärkende oder verändernde Wirkung. Auf jeden Fall könnte ich prüfen, ob das klassische Altersdemenz ist. Wie genau ich das machen soll, wusste Dr. Verhulst aber auch noch nicht. Wir wissen quasi nichts über unsere Patienten und das kommt mir sehr spanisch vor.
Ich denke darüber nach und werde mir dieses Malmsturm anschauen, ob es sich in irgendeiner Form eignet.
Ich habe zudem über die Bücher nachgedacht. Ich hatte nicht darauf geachtet, dass jeder von ihnen ein Buch mitgebracht hat. Notiert hat es keiner und keiner der Angestellten hat sich gemerkt, welche Person zu welchem Buch gehört. Und nun sitze ich hier, mit den Krankenakten, die unvollständig sind und habe nicht einmal einen Lebenslauf. Ich muss die Obhutspersonen kontaktieren. Die müssen mir Lebensläufe, Tagebücher und was weiß ich nicht alles schicken. Wie soll rekonstruieren, wer sie waren, wenn ich gar nichts über sie weiß? Ich kann nur hoffen, dass ihre Erinnerung nicht trügt. Ich sehe einige Probleme mit dem Umgang von erfundenen Geschichten. Sie sind quasi verschlüsselte Informationen, deren Ursprünge ja irgendwie in der Erinnerung zu finden sein müsste. Keiner kann genialisch ohne Vorwissen erfinden, denke ich. Alles basiert auf Wissen, Gehörten, Erfahrenen, welches dann von der Kreativität verzerrt wird. Demnach könnte Dr. Verhulst Erfolg haben. Aber ich weiß ja nicht einmal, wem welches Buch gehört.
Ende des Kurzprotokolles: [geschwärzt] - 21:03 Uhr
Kampagnen-Teaser - Teil 2
Roy Verhulst [geschwärzt]
Gesendet: [geschwärzt] 21:59
An: undisclosed-recipients:
Betreff: Therapiemethode
Heureka! Heureka!
Alfons, ich habe die Lösung gefunden. Wenn ich recht in der Annahme bin, dass das Gehirn das endgültige Wegwerfen von Wissen und vor allem einprägsamen Erinnerung verhindert, könnten wir tatsächlich die Erinnerung wecken, in dem wir sie kitzeln. Das können wir mit Hypnose erreichen, aber sicher auch aus ihrem Antrieb heraus. Wir müssen nur ihre Phantasie ein Stück weit lenken. Sie erzählen lassen, aber ihre Phantasie in Bahnen lenken, welche sich an Episoden aus ihrem Leben erinnern könnten. Wenn sie diese Erinnerungen also ein Stück weit synchronisieren können, könnte ihre Erinnerung an der Stelle wieder einsetzen und sei es nur für einen Augenblick.
Ich hoffe, du hast dich in das Regelwerk eingelesen.
Achso, ich bin morgen erst um 11:00 auf Arbeit. Ich muss meine Tochter noch anmelden. Sie ist doch jetzt 6 und da ihr Hund unter der Erde liegt, habe ich ihr versprochen, dass sie mit Pferden in Kontakt kommen darf. Hätte ich gewusst, wie teuer das Hobby erst ist...
Roy Verhulst [geschwärzt]
Gesendet: [geschwärzt] 22:23
An: undisclosed-recipients:
Betreff: Therapiemethode-Zusatz
Was ich vergessen habe. Ich glaube, dass die Alten eine Art Verdrängungszustand durchmachen und keine gewöhnliche Demenz. Ich habe sicher nicht Ahnung wie St...Dr. Haasmann, aber ich habe genug alte Kriegsveteranen betreut. Die besaßen auch alle Erlebnisse unbewusst, auch übrigens unter Zuständen der Demenz. Bsp: Ein alter Mann, ich nenn ihn mal Hans C., litt nach dem Tod seiner Frau an fortschreitender Demenz. Er gehörte zu jenen Patienten, die Epoche um Epoche verloren (umgedrehtes hyperthymestisches Syndrom??? Genetische Bedingungen, Dr. Haasmann?), und kurz vor seinem Tod waren es für die Pfleger zwei wirklich anstrengende Woche. Sein Gedächtnis hatte sich auf die Jahre 1944/45 zurückentwickelt und erlebte jede Nacht wieder Bombenalarm und lief schreiend durch die Gegend auf der Suche nach dem Luftschutzbunker. Tagsüber konnte er sich nicht daran erinnern, jemals einen Bombenalarm außerhalb der Nachrichten im Kino je mitbekommen zu haben. Ich habe den Fall noch in der Schublade. Ich sende ihn unter Kennnummer X-1039 in dein Aktenverzeichnis, Alfons.
Was ich sagen will. Selbst Demente reagieren noch auf Reize. Ich weiß, es wäre spektakulärer, wenn Hans C.s Gedächtnis bis zum Jahr 1940 abgebrochen wäre, aber trotzdem eine Reaktivierung des Bombenalarms stattgefunden hätte. Was wir jedoch für Anzeichen hatten, ist, dass er beim Geruch von Käse und dergleichen seinen alten Beruf schemenhaft erinnern konnte. Ebenso erkannte er noch seine älteste Tochter, die aber erst 1957 geboren wurde. Wir haben es darauf interpretiert, dass es alles teils asymmetrisch wegbricht. Aber vielleicht sollten wir das Thema einfach mal anders prüfen? Das Ding ist, wir brauchen eine Abgrenzung, um ganz sicher zu sein, ob es Demenz ist oder Verweigerung. Wenn wir die Erinnerung wieder wecken könnten, wüssten wir es. Ich hätte auch eine Idee.
Bsp: Wir simulieren bspw. ein historisches Ereignis, welches wohl jeder mitbekommen hat, um unser Malmsturm und unseren Umgang mit den Alten und den Methoden zu überprüfen. Gibt jetzt genug Beispiele. Ich nehm mal etwas Unwahrscheinliches. Die alten Leute beginnen mit der Geschichte und jemand benutzt in alter und heute politisch inkorrekter Spracherziehung das Wort - entschuldigen Sie, Dr. Haasmann - Neger. Sie erinnern sich nun als Spielleiter an die Hereroaufstände in Namibia und fangen an, dass Treiben der Herero durch die Preußen in die Wüste zu schildern, allerdings in der Form der kreativen Sprache der Alten, da sie sonst - sollten sie bewusst ihre Erinnerungen abblocken - kaum an Ergebnisse kommen werden. Sie müssen sich vorsichtig rantasten und dann die Reize übernehmen lassen. Unsere Patienten sind jetzt nicht so alt, dass sie das erlebt haben würden. Aber wenn ihre Geschichte verständlich genug wäre und einer der Alten sich daran stöße, weil er dabei gewesen wäre und es ihn prägte, müsste seine Erinnerung daran zurückkommen und sie haben ein Stück seines Lebens zurückgepuzzelt. Ja, war jetzt nicht das beste Beispiel, aber History Channel läuft hier nebenbei mit dem Thema. Ich ersinne für die erste Sitzung etwas Besseres.
Aber es ist klar, worauf ich hinauswill?
Dr. rer. biol. hum. Haasmann [geschwärzt]
Gesendet: [geschwärzt] 23:15
An: undisclosed-recipients:
Betreff: AW: Therapiemethode-Zusatz
Sehr geehrter Herr Kollege,
Sie behaupten also, dass kindliches Spielen Demenz aufhalten könnte? Keine Sorge, ich habe durchaus gelesen, dass Sie in Betracht ziehen, dass es keine Demenz wäre. Aber sie ziehen auch in Betracht, dass Demenz lediglich ein Kontrollverlust über Erinnerung und Verstand wäre, aber kein Verlust des Verstandes. Sie schließen es nicht aus, weil da Ihre Psychophysik und dieser Pseudoschamane in Ihnen wieder durchkommt.
Aber in Ordnung. Ich habe die betreffenden Medikamente eingefordert. Die Liste und die Kostenaufstellung wird Sie, Dr. Pfeifer, im Laufe des morgigen Tages erreichen. Dementsprechend gebe ich Ihrem Drängen nach. Ich werde mir diesen Hokuspokus anschauen. Aber seien Sie sich sicher, dass ich meine Methode weiter vorbereiten werde. Freundschaftlich bietet ich Ihnen an, jederzeit zu mir zu kommen und die Methode zu wechseln, wenn Sie endlich einsehen, dass Sie Mumpitz statt Wissenschaft betreiben.
Ich werde es ansehen, heißt auch gleichzeitig, dass ich nicht an solch einem Spiel teilnehme. Sie finden mich während Ihrer Spielzeiten im Büro, damit ich Ihre Patienten nicht beunruhige und nicht in der Anwesenheit von Ihnen als Kindergartenerzieher angetroffe werde.
Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen
Dr. rer. biol. hum. Steffan Haasmann
Untersuchung 3 und Methodenbeschluss - Kurzprotokoll
[geschwärzt] - 18:51 Uhr
Tag 5 - Ich habe noch drei Tage zur Beobachtung genutzt. Ergebnisse sind an sich unverändert. Die Diagnose der betreffenden Ärzte trifft bezüglich sonstiger Gebrechen der Patienten zu, die Sache mit der Demenz macht mir aber zunehmend Sorgen. Dr. Haasmann behauptet, dass es sich auflösen werde, sobald ich mehr Wissen über diese Krankheit erworben haben und durch mehr Praxis mehr Verständnis entwickel. Er führt meine Unsicherheit auf mein Unwissen zurück und traut mir keinen Umgang mit dem Thema zu, was an meinen Kontakten zu Dr. Verhulst liegen wird. Dennoch haben diverse Dinge mich etwas aufhorchen lassen, was mich zutiefst verstört, aber auch sonstige Fragen außerhalb wissenschaftlicher Betrachtung stellt.
1. Alle fünf Doktoren haben eine weitere Beschäftigung mit diesem Thema abgelehnt. Mehr oder weniger unisono betonten sie, dass ihre Diagnose zutreffend sei. Auch wenn fachlich-versiertere Experten sicher im Detail minimale Unterscheidungen feststellen könnten, bleibt die Grunddiagnose unangetastet. Gleichzeitig sein die Patienten unabhängig eines Fachgeplänkels in der Phase 5 der Pflegebetreuung. Ein Streitfall daraus zu machen, bei so alten und so dementen Personen, sei für die Doktoren eine unnötige, bürokratische Aufwandserweiterung. Sie schlagen vor, die Sache ruhen zu lassen, da sie ja jetzt in unserer Hand läge. Ich habe abwehrend geantwortet, dass die Phase 5 nicht zu verneinen sei und ich keine Prüfung erwirken werde. Dennoch frage ich mich, warum sie sich in ihrer Meinung so ähnlich sind?
2. Als ich gestern morgen um 7:30 Uhr in das gemeinsame Fernsehzimmer der Patienten kam, saß Dr. Verhulst bereits bei ihnen. Er hatte mir bereits vorher wieder geschrieben, dass er um 11:00 Uhr auf der Arbeit sein würde. War er häufiger bereits vor Beginn der Arbeitszeit bei den Patienten? Normalerweise komme ich erst um 8:00 Uhr. Er schien überrascht, versicherte mir, dass er wegen der Fragen des rechten Behandelns nicht schlafen konnte und gleich nach Hause fahren würde, um seine Tochter zur Schule zu fahren. Er käme dann wieder, wenn er einen Zahnarzttermin wahrgenommen hätte. Das war aber nicht das Merkwürdigste. Ich hatte ihn beobachtet und er tauschte mit den Patienten Worte aus, als würde er Malmsturm bereits testen. Zwar hatten sie keine Charakterbögen, aber er entsann mit ihnen Geschichten. Die Patienten waren in der Tat euphorisch und beteiligten sich mit ungewöhnlich sprachlicher Schärfe und kreativem Geist. Als ich Dr. Verhulst unterbrochen hatte, ließ die Euphorie schnell nach und sie widmeten das wenige, was sie an Aufmerksamkeit übrig hatten, dem Klassikradio.
3. Von wegen Wissen über die Männer sammeln. Die vorherigen Obhutspersonen sind keine Familienmitglieder und geben mir keine Auskunft, nach kurzen Telefonaten waren sie gar nicht mehr zu erreichen. Irgendwas ist hier falsch. Wer gibt derartig betagte Patienten in solch einer Umgebung ab mit falschen Namen? Ich kann mich nicht einmal auf den Ämtern melden, um ihre Identität zu klären, da ich keine Anhaltspunkte habe, wer sie sind. Ich habe die Polizei hier gehabt, die mir glaubhaft versichert hat, dass es keine Spuren dieser Menschen gäbe. Zumindest sein sie nicht in der DNA-Datenbank und auch ihre Fingerabdrücke sein nie zentral gespeichert wurden. Ich habe also nichts außer ihren Büchern. Und warum haben sie solche Bücher mit? Wer sind diese Männer? Oder vielmehr, wo bin ich hier reingeraten? Die Polizei will die Vermisstenmeldungen der letzten 48 Monate durchgehen und mich auf dem Laufenden halten.
Ich habe zwei Stunden nachgedacht und werde heute Nacht nicht schlafen. Ich habe Dr. Verhulst angerufen und werde mir von ihm die Spielregeln erklären lassen. An sich könnte ich die Patienten, welche in der Phase 5 sind, einfach behandeln lassen und mir für die Habil.-Absicht andere Patienten anfordern. Sie würden vergessen, worum es hier ging, und würden irgendwann sterben. Aber das alles beunruhigt mich zutiefst, denn ich kann nicht vergessen. Ich werde Psychogramme anlegen und Dr. Verhulst Idee umsetzen. Wir werden die Sitzungen protokollieren und per Kamera aufnehmen, um sie auszuwerten. Dr. Verhulst wird die Spielleitung übernehmen, während ich die Echtzeitüberwachung übernehme, wie die Medikamentation. Wenn Dr. Verhulst Recht hat, kann ich vielleicht ihr Leben rekonstruieren. Ich muss einen wachen Geist haben und genügend Daten. Wenn ein Reiz gesetzt wird, der Erinnerung andeutet und gar beunruhigend oder sehr beruhigend ist, müsste sich das in meinen Daten zeigen. Wir werden für den Beginn einfache Szenarien anwenden, welche größere, historische Ereignisse andeuten. Damit sollten wir feststellen können, was sie zumindest grob erlebt haben. Sobald wir diese grobe Einordnung haben, können wir die Details aufdecken. Ich habe leider noch keine Ahnung, wie ich das alles umsetzen soll. Das wird eine Herausforderung.
Ende des Kurzprotokolles: [geschwärzt] - 23:51 Uhr
Roy Verhulst [geschwärzt]
Gesendet: [geschwärzt] 00:07
An: undisclosed-recipients:
Betreff: Aufmunterung
Hallo Alfons,
wenn du hieraus eine Methodik, ja eine Therapie entwickeln kannst, brauchst du gar nicht über eine datenbasierende Habilitation nachdenken. Habe zudem dein Protokoll quergelesen. Teile deine Fragen. Verstehe die Zusammenhänge nicht.
Tipp: Halten wir uns aus dem Rahmen raus und kümmern wir uns um die therapeutisch-medizinische Seite.
Dr. rer. biol. hum. Haasmann [geschwärzt]
Gesendet: [geschwärzt] 06:11
An: undisclosed-recipients:
Betreff: AW: Aufmunterung
Sehr geehrte Herr Kollegen,
erstmalig teile ich die Meinung von Dr. Verhulst. Wenn die betagten Patienten ohne familiären Anhang sind und vom Staat oder anderen Behörden betreut wurden, sollten wir uns nicht noch mit ihrem Schicksal verbrüdern. Eine emotionale Verwicklung mit den Patienten wird jeder wissenschaftlichen Betrachtung nicht gerecht werden und uns zu falschen Schlüssen kommen lassen. Halten wir das wissenschaftlich-medizinisch.
Diese Aussage ändert aber nichts daran, dass ich auf diese Spieltherapie verzichten würde und mit Medikamenten arbeiten würde.
Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen
Dr. rer. biol. hum. Steffan Haasmann
Prof. Dr. med. Dr. rer. med. Schölling [geschwärzt]
Gesendet: [geschwärzt] 07:11
An: undisclosed-recipients:
Betreff: ermahnung
kollegen,
hoeren sie mit dem pseudofaust und dem finden des pudels kern oder was alte, demente maenner im inneren zusammenhaelt auf...
sie werden ueberdurchschnittlich bezahlt und dementsprechend erwarte ich eine serioese arbeit.
pfeifer, ihre habil ist abgesprochen und sie werden sie im bekannten rahmen schreiben. teile haasmanns meinung, dass keine arbeit eines meiner schueler mit dem deutschen phantasik-preis ausgezeichnet werden soll. wir sind ein serioeser betrieb. ich brauch sie nach den skandalen nicht an den hippokratischen eid erinnern, pfeifer. und ich finde es aus aerztlicher sicht moralisch fragwuerdig mit den erinnerungen betagter menschen wortwoertlich zu spielen!
das ist eine offizielle ermahnung. sollten sie dieses spielen nicht lassen, werde ich den pruefungsaussschuss benachrichtigen. das wird ihre habil sicher schwerer machen, pfeifer. halten sie sich an haasmann und eine medizinisch anwandfreie behandlung. ich erwarte die großen protokolle wöchentlich mit vollen datensaetzen.
ich bin ab erst ab mittwoch wieder im buero. die tagung in wien dauert zwei tage laenger. schauen sie mittwoch oder donnerstag auf einen kaffee und einen ermahnenden arschtritt rein, pfeifer.
schoelling