Eine Recherchemöglichkeit für innovative Indies ist die
Kategorie MOST INNOVATIVE GAME der Indie RPG Awards. Da stehen häufig mal mehr mal weniger hilfreiche Begründungen dabei.
Die Liste der bestplatzierten Rollenspiele in dieser Kategorie:
2002 Universalis
2003 My Life with Master
2004 Dogs in the Vineyard
2005 Polaris
2006 Lacuna
2007 Grey Ranks
2008 Sweet Agatha
2009 A Penny for my thoughts
2010 Apocalypse World
2011 Do: Pilgrims of the Flying Temple
2012 Dog Eat Dog
2013 The Quiet Year
2014 The Clay that Woke
2015 Fall of Magic
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Ein paar innovative Rollenspiele/Regeln, die mir in letzter Zeit besonders ins Auge gefallen sind:
Delta Green (2016) - Beim aktuellen, traditionellen Horror-Rollenspiel mit Trail of Cthulhu oder CoC 7E sind wichtige persönliche Bindungen der Figuren regeltechnisch ein Ruhepol, der bisweilen durch die SL in Gefahr gebracht werden kann. Diese Gefahr kommt von außen. In Delta Green sind solche Bindungen ebenfalls eine Quelle von Sicherheit und Stabilität, denen aber - und hier beginnt der innovative Teil - die Hauptfiguren selbst (!) Schaden zufügen, indem sie die Belastungen ihrer Arbeit und der furchtbaren Ereignisse, deren Zeugen sie werden, mit nach Hause bringen. Mechanisch: Bindungswerte meiner Figur zu geliebten und geschätzten Personen sinken, wenn ich sie benutze, um Stabilitätsverlust abzumildern oder einen Kontrollverlust zu vermeiden. Ein weiterer mechanischer Clou: Immer wenn die Gruppe der Hauptfiguren zusammen etwas Schreckliches durchsteht, das bspw. einem ihrer Mitglieder zugefügt wird, entstehen Bindungen zwischen den Hauptfiguren oder die bestehenden werden enger, während gleichzeitig alle anderen Bindungen der Hauptfiguren Schaden nehmen. Indem es diese Entfremdung der Hauptfiguren vom eigenen Leben so in den Mittelpunkt rückt, verschiebt Delta Green den Fokus traditionellen Horror-Rollenspiels ein ordentliches Stück. [Inspiriert ist das Ganze v.a. von aktuellen Serien wie True Detective oder The Americans].
Lovecraftesque (2016) - SL-loses Horror-Rollenspiel ist eine happige Design-Herausforderung, weil kaum ein Genre so sehr vom SL-Theater lebt wie Horror. Wie kann ich möglichst lange im Dunklen bleiben bzw. mich der Bedrohung langsam nähern, wenn ich mir sie und alle Hinweise auf sie doch selbst ausdenke?. Die Lösung, die Lovecraftesque findet, ist ein genialer Kunstgriff: Wer dran ist, erzählt Hinweise und Spuren, auf die die von einer anderen Person gespielte Hauptfigur der Geschichte stößt. Nach der Szene überlegen sich die Mitspielenden jeweils allein (!), was sich möglicherweise hinter den Hinweisen verbirgt und formen eine persönliche Theorie, die sie nicht mit den anderen teilen und auf der sie, wenn sie selbst Hinweise streuen müssen, aufbauen. Bis ganz zum Schluss ist also allen Beteiligten vollkommen unklar, um was es sich beim Final Horror eigentlich handelt, obwohl eine ununterbrochene Folge aufeinander aufbauender Hinweise den Zeugen an diesen Punkt geführt hat. Erst jetzt offenbart jemand seine Theorie als die "wahre." Dementsprechend müssen die enthaltenen Szenarios/Playsets für Lovecraftesque - die auch thematisch eine kleine Innovation sind, weil sie bewusst vom Standard weißer Männer als Horror-Protagonisten abweichen - nur eine Reihe beispielhafter Hinweise präsentieren, aber keine Lösung.
Hillfolk (2013) - Das Spiel unterscheidet klar zwischen dramatischen und prozeduralen Szenen mit jeweils eigener Mechanik. Der Fokus liegt natürlich auf ersteren ("Drama System") und damit in jeder Szene darauf, was die Figuren auf der emotionalen Ebene voneinander wollen, wann also bspw. Respekt gewährt wird und wann nicht. Was die Figuren können ist weitestegehend egal, es zählen ihre emotionalen Bedürfnisse und ihr Zerrissensein zwischen zwei dramatischen Polen/grundlegenenden Charaktereigenschaften. Dass Hillfolk dementsprechend fast ausschließlich aus sozialen Konflikt/Dialogsszenen besteht, in denen Figuren wie in einem Kammerspiel einander anschreien, gut zureden, Vorwürfe machen, manipulieren, bricht in dieser Militanz ganz grundlegend mit traditionellem Rollenspiel.
Dog Eat Dog (2012) - Die Dynamik der Beziehung zwischen einer überlegenen Kolonialmacht und ihren Opfern in Form von Verhaltensregeln sich entwickeln zu lassen, die aus dem fiktionalen Geschehen selbst abgeleitet werden und die Spielenden mehr und mehr zu moralischen Entscheidungen für ihre Figuren zu drängen, ist schlicht das Beeindruckendste, das mir in einem Rollenspiel bisher begegnet ist. Steht mit dem Award 2012 also mehr als zurecht in der Reihe der ganz großen Neuerungen. Umfangreich habe ich
das Spiel hier besprochen. Technoir (2011) - Technoir bietet eine elegante, von den Fiasco-Playsets inspirierte Methode, einen Noir-Fall zu improvisieren. Jedes Mal, wenn die Figuren einen ihrer Kontakte anhauen, um nützliche Hinweise zu ihren Ermittlungen zu erhalten, wird auf der Playset-Tabelle gewürfelt und dem Fall eine neue Wendung hinzugefügt (von Erreignissen über Objekte und involvierte Personen) und mit einem bereits bestehenden Plotelement verknüpft. Visualisiert wird das Ganze als eine Art Beziehungs-Netz. Besonders cool: Der angehauene Kontakt kann selbst zum Teil des Netztes werden, also unerwartet etwas mit der Sache zu tun haben.
Mars Colony (2010) - SF sagt mehr über unsere Gegenwart aus als über die Zukunft. Dass Mars Colony beim Setup entsprechend ohne Umschweife dazu auffordert, echte politische Parteien und eigene politische Ängste übermalt als Story-Elemente einzubauen, fand ich überraschend. Damit ist Mars Colony immer ein politisches Spiel, ganz abgesehen von den anderen Regeln. Die Grundidee, etwas von sich selbst ins Setup zu geben, ist freilich nicht neu. Keine Ahnung, wer das zum ersten Mal gemacht hat.
Sign in Stranger (2009) - Sollte es funktionieren - und ich bin nicht sicher, ob es das tut - dann löst dieses SL-lose SF-Rollenspiel ein interessantes Problem. Die Frage: Wie mache ich das Fremde wirklich fremdartig? Wenn ich in Sign in Stranger eine Beschreibung meiner Umgebung, eines Gegenstands, des Verhaltens fremder Wesen oder Tiere et cetera haben will, dann zieht eine andere Person ein Nomen, Prädikat oder Adjektiv aus einem Topf und basiert ihre Beschreibung auf dem gezogenen Wort ohne dabei das Wort selbst zu nennen. Ich sehe also vor mir bspw. eine Reihe engmaschig aufragender Spitzen (gezogenes Wort war: "Kamm"). Soweit, so Mad Libs. Der Clou: Was ich sehe, hat nichts damit zu tun, welche Funktion das Gesehene hat. Der eigentliche Spielinhalt (und die Mechanik) besteht darin, über viele, viele Sessions nach und nach Erklärungen für und einen Zugang zu der fremden Welt zu finden, in der ich gelandet bin, also Fragen zu erforschen von "Wo finde ich hier Unterschlupf?" über "Wie ernähren sich die Aliens?" bis zu "Welche Form haben Gesetz und Verbrechen in ihrer Kultur?" Quasi soziologische Hexploration. Innovativ: Aber Hallo.
Ribbon Drive (2009),
Matching Hearts (2016) - Musik bzw. eine Playlist in Rollenspielen zum Teil der Mechanik zu machen und nicht bloß im Hintergrund für die "Atmo" dudeln zu lassen, finde ich neu und cool.