"Ghost / Echo" ist ein kleines Erzählspiel mit minimalen Regeln und einem Settingfragment auf zwei Seiten. Es lässt sich
hier downloaden. Ich wollte es immer ausprobieren, weil ich Leerstellen, die sich erst während des Spiels füllen, spannend finde. Vier Spieler haben sich darauf eingelassen.
Eigentlich ist das ein typisches OneShot-Spiel, aber weil wir nicht mehr ganz so jung und immer ziemlich langsam sind, werden wir wohl zwei oder drei Sitzungen brauchen.
Tag 1
Alles ist weiß, grau und schwarz. Die durchscheinende Frau greift in ihre Taschen und sucht etwas. Ein deutlich vernehmbares Klackern und Schaben erklingt. Die Bewegungen der ätherischen Frauengestalt werden schneller und hastiger.
Drei junge Frauen und ein junger Mann mit dem üblichen Mund-Nase-Schutz schauen sich um. Sie stehen in einem Gasthaus. Außer ihnen und der seltsamen Frauengestalt ist niemand anwesend. Eine Tür führt nach draußen, außerdem ein Fenster, das allerdings aufgrund herabgelassener Jalousien nicht preisgibt, was sich hinter ihm befindet. Im Raum befinden sich ein paar Tische und Stühle, zur Linken eine Theke, über der ein Schriftzug den Namen des Ortes verrät: „The Nail and Bottle“.
Wieder ertönt das Klackern und Schaben. Die jungen Menschen schauen sich den Fußboden an, der aus großen Findlingen besteht. Einer der Steine ist verrutscht und hat sich über einen anderen geschoben. An seinem ursprünglichen Platz ist körniger Sand zu sehen. Noch einmal erklingt das Klackern und Schaben. Ein anderer der großen Steine bewegt sich scheinbar von selbst, löst sich aus seiner Verankerung, schiebt sich über einen benachbarten Stein. Die Frauengestalt scheint in Panik zu geraten und fördert zwei oder drei kleine, verkorkte Reagenzgläser zutage und sucht nach weiteren Gegenständen in ihren Taschen.
Nach und nach geraten die Steine auf dem Fußboden immer schneller in Bewegung. Sie türmen sich übereinander, rutschen auf die jungen Menschen und die geisterhafte Frau zu und formen sich zu einer überlebensgroßen Steingestalt. Hastig drückt die Frau den angsterfüllten jungen Menschen acht Reagenzgläser in die Hand. Eine Stimme ertönt in deren Köpfen: „Nehmt einen dieser Trünke, bevor ihr wiederkommt, dann behaltet ihr eure Erinnerungen.“
Zwei der jungen Frauen reißen die Tür der Gaststätte auf und eilen nach draußen. Sekunden später prasseln die Steine der unheimlichen Figur zu Boden und verbarrikadieren die Tür. Die geisterhafte Frauengestalt flieht. Die letzte junge Frau versetzt dem Fenster der Gaststätte einen harten Tritt. Glas zerbricht, die Jalousien splittern, kurz bevor die steinerne Gestalt nach ihr schlägt, springt sie aus dem Fenster. Dem jungen Mann ist es währenddessen gelungen, ein paar Steine vor der Tür zumindest soweit fortzuräumen, dass sie sich einen Spalt weit öffnen lässt. Unbeobachtet drückt er sich ächzend nach draußen.
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Als hätte jemand den Kanal gewechselt, stehen die vier jungen Menschen mit einem Mal an der Straße auf einem breiten Gehweg. Die plötzliche Farbe raubt ihnen fast den Atem. Ein paar Bänke und Tische befinden sich hier zwischen kleinen Bäumen in Blumenkübeln. Es ist Abend und ein paar Leute sitzen in kleinen Gruppen mit dem üblichen Abstand zueinander vor ihren Weingläsern. Mit großen Augen schauen sie die überraschend erschienene Gruppe an. Eine der drei Frauen sieht durch die offene Eingangstür nach drinnen und stellt fest, dass es sich bei dem Gebäude auch um eine Gastwirtschaft handelt, eine andere allerdings als die, die sie eben verlassen haben. Ein einsamer Wirt steht hinter den Tresen und putzt ein paar Gläser. Im Schankraum sitzen nur drei Gäste. In Zeiten der Epidemie bleiben die meisten zu Hause. „Lasst uns verschwinden, sonst gibt´s noch Ärger“, sagt der junge Mann zu seinen drei Gefährtinnen. Im Weggehen schauen die vier jungen Menschen sich um und versuchen herauszufinden, wo sie sind. Im Fenster der Gastwirtschaft hängt ein ausgeschaltetes Neonschild mit den Worten „Weinstube im Nordend“.
Noch ziemlich konfus begibt sich die Gruppe in eine kleinere Seitenstraße. Eine der drei Frauen hat offensichtlich asiatische Wurzeln. Sie fasst sich an ihr Handgelenk und verzieht das Gesicht. Der Sprung durch das Fenster hat sie verletzt. Sie passieren ein Mietshaus, das soeben saniert wird und einen Durchgang zu einem Hinterhof besitzt. Die vier jungen Menschen verschwinden in den Schatten, nehmen ihren Mund-Nase-Schutz ab und atmen einmal tief durch. Nach einer Weile beginnt die Frau in Lederjacke zu sprechen: „Wir kennen uns irgendwoher, oder? Wart ihr nicht im Wartezimmer von Dr. Schnitzler?“
Sie hat Recht. Die vier jungen Menschen waren Freiwillige, die sich zu einem Testverfahren für einen Impfstoff bereiterklärt haben. Frau Dr. Schnitzler ist die Epidemiologin, die die Testreihe durchführt. Die junge Frau in Lederjacke schaut auf ihr Smartphone und sagt: „Verrückt! Das ist zwei Tage her! Ich habe keine Ahnung, was in der Zwischenzeit geschehen ist!“
Es stellt sich heraus, dass sie damit nicht allein ist. Alle Mitglieder der vierköpfigen Gruppe haben keine Erinnerung mehr an die letzten zwei Tage. Das Letzte, an das sie sich erinnern können, ist ihr gemeinsamer Aufenthalt im Wartezimmer von Dr. Schnitzler.
Das asiatische Mädchen ergreift das Wort: „Ich bin Mantis. Eigentlich besteht mein Leben im Wesentlichen aus Kung-Fu, aber vor kurzem ist mein Sensei krank geworden und ich habe mich irgendwie verpflichtet gefühlt, etwas dagegen zu tun. Ich habe im Netz von dieser Testreihe gelesen und mich gemeldet.“
Die junge Frau in der Lederjacke sagt: „Ich bin Alex. Ich verdiene mein Geld mit Kurierfahrten. Besonders viel bringt das nicht ein. Als ich von der Testreihe gelesen habe, dachte ich, dass ich dadurch an schnelles Geld kommen könnte.“
Die dritte Frau trägt legere Kleindung und eine Jeansjacke. Sie sagt: „Ich bin Jenny, studiere Kunstgeschichte, jobbe in einer Bar und bekomme keinerlei Unterstützung. Ich bin auch wegen dem Geld dabei.“
Schließlich meldet sich der junge Mann zu Wort: „Ich heiße Jo und studiere Medizin. Ich finde, in diesen Zeiten sollte man als Medizinstudent bei den neuesten Entwicklungen vorne mit dabei sein. Diese Suche nach dem Impfstoff interessiert mich, deshalb habe ich mich gemeldet.“
„Und jetzt?“, fragt Alex. „Lasst uns dem Labor von Frau Schnitzler mal einen Besuch abstatten“, meint Mantis. „Es ist das Letzte, an das wir uns erinnern können. Ich habe die Adresse hier in meinem Smartphone gespeichert.“ Alex sagt: „Gute Idee! Da müsste auch noch mein Auto stehen.“
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Jo ruft ein Taxi. Die drei Frauen schauen ihn neugierig an. Er sagt: „Lasst nur! Papa zahlt – wenn er auch sonst nichts tut!“ Das Taxi bringt die vier jungen Menschen in die Hanauer Landstraße. Dr. Schnitzlers Labor befindet sich in einem Hinterhaus. Die Gruppe durchquert eine Durchfahrt und löst einen Bewegungsmelder aus. Im Hinterhof beginnt eine Lampe zu leuchten. Es ist etwa 20:00 Uhr. Im Labor wird nicht mehr gearbeitet. Nur in einer direkt neben dem Labor befindlichen Werbeagentur ist noch Licht. Mantis klingelt und sagt: „Wir sind wegen der Pizza da!“ Eine männliche Stimme antwortet: „Pizza? Wir haben keine bestellt!“ Mantis sagt: „Sie ist für das Labor, aber da öffnet niemand.“ Der Mann antwortet: „Für das Labor? Ist das euer Ernst?“ Mantis bejaht. Daraufhin sagt der Mann: „Das ist mysteriös… aber kommt doch herein. Ich denke, ich muss euch etwas erzählen.“ Mantis schnappt sich Alex und verschwindet im Haus. Alex raunt Jo und Jenny zu: „Passt hier auf und wartet!“ Jenny nickt.
Im ersten Stock führt die Treppe direkt auf das Labor zu. Seine Tür ist mit einem Polizeiband versiegelt. Alex schaut Mantis mit großen Augen an und flüstert: „Und jetzt?“ Ein paar Meter weiter befindet sich eine offenstehende Tür, an deren Rahmen ein junger Mann lehnt. Er sagt: „Ich möchte wirklich wissen, wer in diesem Moment für das Labor eine Pizza bestellt hat. Kommt doch herein!“ Alex und Mantis erfahren von ihm, dass es vor zwei Tagen einen Todesfall im Labor gab. Offensichtlich war es die Leiterin des Labors. Die Polizei war da, hat ihren Leichnam abtransportiert und alle Hausbewohner verhört. Im Labor wird derzeit nicht mehr gearbeitet. Wer jetzt eine Pizza an das Labor liefern lässt, muss sich wohl einen schlechten Scherz erlaubt haben.
Mantis hofft, dass Jo und Jenny die Sache in die Hand nehmen, wenn sie den blauäugigen Grafiker nur lange genug ablenkt. Sie verwickelt den freundlichen Mann in ein Gespräch und hört, dass er zu der Sorte künstlerisch ambitionierter junger Menschen gehört, die aber leider acht Stunden täglich Fotos und Texte für Werbekataloge zusammenstellen. Es ist dem Mann sichtlich anzumerken, wie sehr ihn sein Beruf nervt und dass er die Gelegenheit nutzt, mal richtig Dampf abzulassen. Verständnisvoll hören ihm Mantis und Alex zu und sehen sich am Schluss sogar noch seine privaten Projekte an: lebensgroße Halbreliefs von sich selbst im Morgenmantel und seltsamen Gesten, die er bei sich zuhause und bei einigen Freunden an den Wänden angebracht hat. Mantis meint: „Interessant. Ich habe eine Bekannte im Kunstbetrieb. Wenn du mir deine Karte gibst, erzähle ich ihr, was du machst. Vielleicht meldet sie sich!“ Der junge Mann schreibt Mantis seine Email-Adresse auf und drückt sie ihr in die Hand. Dann sagt er: „Wo ist eigentlich eure Pizza? Die will doch jetzt niemand mehr, oder?“ Mantis stottert: „Äh. Wir haben noch gar keine dabei. Wir wollten erst noch die Bestellung aufnehmen.“ Der junge Mann murmelt: „Dafür seid ihr hier her gefahren?“ Aber Mantis und Alex sind schon wieder auf dem Weg nach draußen.
Jo und Jenny warten in der Zwischenzeit im Hinterhof. Als ihnen die Wartezeit zu lang wird, schiebt Jo eine Mülltonne herbei und klettert auf den Fenstersims im ersten Stock. Die Fenster sind gekippt und mit etwas Mühe gelingt es Jo, eines von ihnen zu öffnen. Kaum ist er im Labor verschwunden, geht im Hinterhof erneut das Licht an. Jemand nähert sich! Jenny gibt vor, ihr Kätzchen zu suchen und maunzt zwischen den Mülltonnen herum. Ein älterer Mann im Unterhemd tritt auf sie zu und fragt: „Was machst du hier?“ Jenny sagt: „Meinen Kater suchen! Wer sind sie denn?“ Der Mann erzählt ihr, er sei der Nachtwächter für das Gebäude und habe das Licht im Hinterhof gesehen. Eine Weile schaut er Jenny bei ihrer Suche zu. Dann sagt er: „So wird das nichts. Einen Moment, ich hole eine Taschenlampe.“ Etwas später sucht Jenny gemeinsam mit dem Nachtwächter des Gebäudes einen nichtexistenten Kater. Irgendwann gibt der Nachtwächter auf und sagt: „Tut mir leid. Sie können gern noch weitersuchen, aber ich glaube, das ist sinnlos. Wenn Sie fertig sind, klingeln sie im vorderen Haus bei Schröder und bringen Sie mir die Taschenlampe zurück.“ Dann lässt er Jenny allein.
Währenddessen knipst Jo im Labor von Dr. Schnitzler eine kleine Arbeitslampe an, die er fast auf die Tischplatte drückt. Der Raum wird in ein sehr düsteres Licht getaucht. Jo sieht, dass das Labor ein Tatort ist. Die Polizei hat die Umrisse eine Leiche auf den Boden gezeichnet und ein paar Schildchen aufgestellt, um den Fundort irgendwelcher Beweisstücke zu markieren. Die Sachen befinden sich allerdings nicht mehr vor Ort. Jo inspiziert noch ein paar Akten und Unterlagen. Besonders viel findet er nicht, aber an zwei Stellen findet er einen Verweis auf „gesondert festgehaltene Informationen“. Es gelingt Jo auch, ein paar Nummern der letzten Anrufer abzurufen. Dr. Schnitzler scheint Gesprächspartner in aller Welt gehabt zu haben.
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Etwas später finden sich an der Hanauer Landstraße wieder alle vier Mitglieder der Gruppe zusammen. Jo erzählt, was er herausgefunden hat. Eine Weile überlegen die jungen Menschen. Schließlich schaut Jo in sein Smartphone und sagt: „War die Tote wirklich Dr. Schnitzler? Vielleicht erfahren wir mehr, wenn wir zu ihrer Privatwohnung fahren.“ Die Adresse ist über das Netz erhältlich. Alex fährt ihre drei Gefährten in ihrem Auto zum Günthersburgpark. Hier bewohnt Dr. Schnitzler das oberste Geschoss einer gediegenen Altbauwohnung. Zwei Wohnungen sind dort zusammengelegt worden und bieten einen großzügigen Ausblick auf den nahen Park. „Wow“, sagt Alex. „Hier würde ich auch einziehen.“ „Und ich würde die Wohnung auch sichern“, sagt Jo und deutet auf eine Kamera, die den Eingang überwacht. Es ist inzwischen 22:30 Uhr und im ganzen Haus brennt kein Licht mehr. Mantis meint: „Vielleicht ist das doch keine so gute Idee. Lasst uns etwas essen gehen, ich habe Hunger.“ Ein paar hundert Meter weiter befindet sich ein argentinisches Steakhaus, das seine Küche gerade noch geöffnet hat. Die drei Frauen schauen Jo erwartungsvoll an, dieser seufzt und sagt dann: „Jaja, ich übernehme das.“
Beim Essen klickert Jo auf seinem Smartphone herum und ruft dann: „Ach, sieh mal einer an!“ Er hat die Webseite des Labors von Dr. Schnitzler entdeckt. Dort sind auch ihre Mitarbeiter vorgestellt. Eine ältere Sekretärin und ein junger Laborassistent. Jo sagt: „Den Typen kenne ich. Er hat mit mir studiert, ist ein paar Semester älter und hat als HiWi mit uns ein paar Übungen gemacht. Er muss vor etwa einem Jahr sein Physicum gemacht haben!“ Mantis sagt: „Hast du noch seine Telefonnummer?“ Jo schaut nach und findet sie. Dann ruft er an.
Der Laborassistent heißt Andreas Stichling und reagiert auf Jos Anruf etwas beunruhigt. Als er nach den Vorfällen im Labor befragt wird, sagt er: „Jo, das ist fast ein bisschen viel für nachts am Telefon. Wollen wir uns nicht morgen Mittag auf einen Kaffee treffen?“ Jo ist einverstanden. Er verabredet sich mit Andreas am Café Liebfrauenberg.
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„Und jetzt?“, fragt Jenny. „Ich habe keine Lust jetzt allein nach Hause zu gehen. Ich wohne in einer WG mit drei Mitbewohnern. Einer ist im Moment im Urlaub. Wollt ihr nicht bei mir übernachten?“ Die anderen sind einverstanden. Alex fährt die Gruppe zu Jenny ins Ostend. Bei einer Flasche Wein sprechen die vier noch einmal über ihre Erlebnisse: über die seltsame Schwarz-Weiß-Welt mit der durchscheinenden Frau und dem Steingolem, über den Todesfall im Labor von Dr. Schnitzler und über ihre weiteren Pläne. Auch ein paar andere Themen kommen zur Sprache und so stellt sich heraus, dass alle Anwesenden schon einen Elternteil verloren haben.
Jenny erzählt eine traurige Geschichte von ihrer Mutter, die bereits verstorben ist, als sie noch ein Teenager war, von ihrer Stiefmutter, die ihren Vater völlig vereinnahmt hat, und vom Gefühl der Einsamkeit, das sie manchmal befällt. Alex Mutter hatte Krebs und nach ihrem Tod hat ihr Vater zu trinken begonnen. Jos Mutter lebt ebenfalls nicht mehr. Sein wohlhabender Vater versorgt ihn finanziell, ansonsten hat er fast nichts mehr mit ihm zu tun. Mantis schließlich hat ihren Vater verloren. Ihr Sensei ist ein Stück weit Ersatz für ihn gewesen… jetzt aber ist er Opfer der Epidemie geworden und liegt im Krankenhaus. Ob und wie er die Krankheit übersteht, weiß noch niemand so genau.