Die Geschichte von Gork Bluthand
„Wisse, o Prinz, dass zwischen den Jahren, als die Ozeane die düsteren Städte der Altvorderen verschlangen und die Söhne der Meere im tiefen Schlund verschwanden, dass da ein Zeitalter war, kühner und wilder als alle Träume, in dem schimmernde Königreiche sich über das Antlitz der Welt ausbreiteten wie löchrige Seidenmäntel unter Sternen – Mystalon, Sing Sing Ho mit seinen listigen Goblinbauern und Pagoden voller Geheimnisse, Westerland und seine käufliche Ritterlichkeit, Xiquatal, die Heimat der Schlangengötter, Norhaven mit seinen stolzen Adlerschiffen. Hierher kam Gork Bluthand, der Ogerpirat, kahlköpfig, schlecht gelaunt, Axt schwingend, ein Räuber, ein Schlächter, mit gewaltigem Bauch und gewaltigem Hunger, um die wackeligen Throne der Welt unter seinen bloßen Füßen zu zertreten...“
Niemand weiß, woher Gork Bluthand wirklich stammte. Er war ein Oger, einer von nur noch wenigen in einer Zeit, als sein Volk ein unwürdiges Sklavendasein fristete. Über Jahrhunderte hatte man die wilden Kreaturen gejagt und getötet. Schließlich ging man dazu über, sie in Ketten zu legen und zu mächtigen Kämpfern auszubilden, gefürchtete Krieger, jedoch zeitlebens ihrer Freiheit beraubt. Tatsächlich nahm ihre Zahl in Gefangenschaft wieder zu, als Fürsten und Kriegsherren erkannten, welches Potential für ihre Streitmacht die Stärke auch nur eines Ogers bedeutete.
Gork Bluthand befand sich als Mitglied der Schutzmannschaft an Bord eines Handelsschiffes vor der Küste von Westerland. Eines Nachts wurde das Schiff vom berüchtigten Piratenkapitän Standon Parrey angegriffen und geentert. Der Kampf war kurz und blutig und die Besatzung wurde gnadenlos niedergemetzelt, doch den schwer verwundeten Oger gab Parrey als Geschenk an seinen Schiffszauberer Dax. Von nun an fungierte Gork als dessen Leibwächter und Diener.
Nun war es allerdings so, dass Gork sich in mancherlei Hinsicht von seinen robusten Artgenossen unterschied. Zum einen hatte er einen wachen Verstand, war dabei jedoch in der Lage, diese Gabe im Verborgenen zu halten. Zum anderen verfügte er über Geduld und, wenn es sein musste, Selbstbeherrschung. Und er schmiedete Pläne.
Der Oger arbeitete für den Zauberer und führte Befehle aus, wie sie ihm aufgetragen wurden. Mit der Zeit nahm Dax die massige Gestalt in seiner Umgebung kaum noch wahr, ungefährlich für ihn selbst, dabei hilfreich und schützend. Kam es zu Seeschlachten, so wich Gork nicht von seiner Seite. Während der täglichen Arbeit mit erbeuteten Schriftrollen, Seekarten und Bordbüchern war er als Assistent nützlich – und aufmerksam. Durch Beobachten, Zuhören und beiläufiges Fragen lernte der Oger die Schriftzeichen mehrerer Sprachen. Im dritten Jahr seines Dienstes als Wächter des Zauberers stahl Gork eine von vielen Schriftrollen, welche die Piraten bei ihrem letzten Beutezug geraubt hatten, und versteckte sie in einem Öltuch hinter einer losen Planke. Dax hatte die Schriften zu diesem Zeitpunkt nur kurz gesichtet und der Verlust fiel ihm nicht weiter auf.
Während einer Seeschlacht ein halbes Jahr später erkannte der Oger die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte. Etwa 20 Seemeilen nördlich der Teufelsklippen trafen die Piraten unter Standon Parrey auf eine fette Handelsdschunke, die sich, voll beladen mit kostbaren Gütern, auf dem Rückweg nach Sing Sing Ho befand. Dax beschwor einen Wirbelwind um die Dschunke, so dass die Goblins ihre gefährlichen Bogenschützen nicht effektiv einsetzen konnten. Die schwerfällige Beute konnte den wendigen Manövern des Angreifers nichts entgegensetzen, die Seeräuber enterten und das grausige Töten begann.
Während der Schlacht lotste Gork den Zauberer durch falsche Andeutungen zum hinteren Teil des Schiffes und dort unter Deck. Dax öffnete eine schwere Tür, begierig in Erwartung einer großen Ladung voller kostbarer Bücher, doch statt dessen sah er vor sich ein Dutzend massiger Oger in Ketten, eingekauft als Sklaven für den Hof von Sing Sing Ho. Gork Bluthand zögerte nicht – mit einem einzigen Schlag seine kolossalen Faust zertrümmerte er den Schädel des Zauberers, der sofort tot zu Boden sank. Seine Hand troff noch von Blut und Hirn seines ehemaligen Herrn, als er sich an die gefesselten Oger wandte: „Heute werdet ihr kämpfen. Kämpfen für euch selbst. Vielleicht nicht für lange. Aber ihr kämpft in Freiheit. Wir werden siegen oder sterben. Doch wir werden nie wieder fremder Herren Knechte sein.“ In diesem Augenblick offenbarte er ein weiteres ungeahntes Talent. Allein sein Auftreten und seine Ausstrahlung genügten und keiner der Oger stellte seinen Führungsanspruch oder seine Befehle auch nur einen Herzschlag lang in Frage.
An diesem Tag erhoben sich 13 Oger gegen 81 Piraten und 23 verbleibende Goblins. Ihre Ketten rasselten noch an ihren Füßen und Handgelenken, sie waren ausgehungert und durstig und ihre Knochen schmerzten vom langen Kauern in dem viel zu engen Frachtraum. Doch sie kämpften mit dem Zorn der Geknechteten und mit der Entschlossenheit derer, die nach langer Gefangenschaft den silbernen Hauch der Freiheit am Horizont sehen konnten. Am Ende des Tages waren vier Oger gefallen und die Planken beider Schiffe waren nass von Blut. 16 überlebende Goblins hatten sich ergeben, nur noch ein Mensch war am Leben – Kapitän Standon Parrey.
Gark besetzte mit seinen Kameraden und Gefangenen das ehemalige Piratenschiff und barg die Schriftrolle, die er dem Zauberer gestohlen hatte, aus ihrem Versteck. Es war eine Seekarte mit besonderen Anweisungen, die den Weg zu einer geheimnisvollen Insel wiesen. Der Oger forderte Parrey auf, die Navigation und das Steuer zu ihrem Ziel zu übernehmen, doch Parrey spuckte ihn nur an und spottete: „Ich werde dir den Weg nicht freimachen, wohin auch immer.“ Die anderen Oger wunderten sich, als Gork Bluthand den Piratenkapitän nicht tötete, sondern nach einem langen Blick nur entgegnete: „Doch, das wirst du.“ Dann wandte er sich an die Goblins und ließ diese das Segeln übernehmen.
Der Kurs führte sie für lange Zeit in Sichtweite der gefürchteten Teufelsklippen nach Süden, was sowohl bei den befreiten Ogern als auch bei den Goblins für Unbehagen sorgte. Parrey beobachtete misstrauisch das Geschehen, doch Gork gab keine Hinweise auf seine Pläne. Zwei Tage später erreichten sie das Gebiet des immer währenden Nebels und anhand der Karte gab Gork Bluthand den Goblins präzise Anweisungen. Langsam und offenbar nur aufgrund uralter geschriebener Anweisungen passierte das Schiff ein tückisches Labyrinth aus gefährlichen Klippen und Riffen. Schließlich befahl Gork in der Nähe eines Felsen anzuhalten, der wie ein Haifischzahn aus dem seltsam bewegten Wasser ragte. Er packte Parrey und schleppte ihn zum Bug des Schiffes. „Was soll das? Was willst du von mir?“ fragte Standon, dem schließlich doch der Angstschweiß auf der Stirn stand. „Jetzt machst du mir den Weg frei“, erwiderte Gork und warf den Piraten mit Schwung über Bord. Parrey tauchte ein und kam wieder an die Oberfläche, er sah sich um und schwamm dann in Richtung des Felsen. Da schäumte plötzlich das Wasser, ein mächtiger, glänzender und vor Zähnen nur so starrender Fischkopf tauchte auf und schnappte den Piraten so schnell aus dem Wasser, dass dieser nicht mal mehr schreien konnte. Dann verschwand der Spuk so plötzlich wie er gekommen war.
Das Schiff setzte seinen Weg fort und kurze Zeit später ging man in einer Bucht inmitten der Teufelsklippen vor Anker. Vor den Augen der, abgesehen von Gork Bluthand, fassungslosen Besatzung bot sich ein fast schon idyllisches Inselparadies, überragt von einer gewaltigen, hoch oben auf einer Klippe gebauten Festung. Gork befahl seinen Kameraden ein Lager aufzubauen. Dann wählte er zwei Begleiter aus und stieg den mühsamen Weg zu dem uralten Bauwerk hinauf. Es dauerte einen Tag und eine Nacht, bis er wieder zurückkehrte. Einer seiner Helfer war verschwunden, der andere sprach seit dieser Zeit kein Wort mehr. Die Festung wurde zum Hauptquartier und Thronsitz von Gork Bluthand und seinen Ogerpiraten.
Schon bald danach stachen die Oger wieder in See. Das Handwerk der Seemannschaft erlernten sie schnell von den Goblins, und ihr vorrangiges Ziel war die Befreiung ihrer Artgenossen wo immer sie diese ausfindig machen konnten. Schnell sprach sich das Gerücht von der geheimnisvollen Zuflucht und der unabhängigen Gemeinschaft der Ogerpiraten herum. Immer häufiger lehnten sich die gebeutelten Geschöpfe gegen ihre Herren auf und flohen, viele kamen dabei um, doch etliche schafften es nach vielen Strapazen, diese neue Heimat zu erreichen.
Seitdem sind viele Jahre vergangen. Hunderte von Ogerpiraten leben heute auf der Insel namens Talakaim, was in der Sprache der Oger soviel wie „Freiheit“ bedeutet. Wie man den tückischen Wasserweg dorthin passiert, das wissen nur die Lotsen der Piraten. Gork Bluthand ist immer noch der oberste Kapitän der Ogerpiraten und er scheint seit damals um keinen Tag gealtert zu sein. Die Oger sind stolz, unabhängig, freiheitsliebend und formidable Kämpfer – eine neue Macht auf den Meeren, die von den anderen Völkern der Welt selbst erschaffen wurde und der nun mit Respekt zu begegnen ist!