tl;dr gibts am Ende.
Falls ich übersehen habe, wo hier jemand Realismus/ Realitätsnähe definiert hat, bitte ich um einen Link.
Mal ganz davon abgesehen, dass ich von der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit nicht viel Ahnung habe: Dass "Realität" immer ein kulturell gebundenes Konstrukt ist, und dass es daher sehr viele verschiedene Wirklichkeiten gibt (und nicht
die Wirklichkeit), setze ich voraus. Wenn wir über Realität reden, dann meinen wir das in unserer Kultur und Zeit verbreitete Verständnis von Realität. Natürlich ist das schon nicht einheitlich, da gibt es viele individuelle Unterschiede.
Realismus ist ja ein Begriff, der ein Verhältnis beinhaltet (ein relationales Konzept, für die Fremdwortfreunde). Anschaulich gesagt: Realitätsnähe ist Nähe zwischen verschiedenen Objekten, eines davon ist "die Realität" (im obigen Sinne), das andere soll wohl das Rollenspiel oder konkreter die im Rollenspiel erzählte Geschichte sein. Realistisch ist ein Rollenspiel demnach, wenn die im Rollenspiel erzählte Geschichte kaum von der persönlichen Auffassung von Realität abweicht.
Die Frage nach Realismus im Rollenspiel richtet sich also auf
Realismus in Erzählungen. Nun würde ich mal behaupten, dass Erzählungen grundsätzlich eine gewisse Distanz zur "Realität" aufweisen. Nicht nur in der Phantastik (Magie, Fabelwesen, Superhelden), sondern auch in anderen Geschichten, sei es ein Fernsehkrimi, ein historischer Roman oder eine Liebesgeschichte. Geschichten haben einen Anfang und ein Ende, unsere Realität nicht. Es gibt Zeitsprünge, Rückblenden usw. - anders als in der Realität. Es gibt Protagonisten (das ist in der Wirklichkeit ebenfalls anders), und deren Schicksal hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, die im "echten Leben" keine Rolle spielen: Von Erzählabsichten, Genrekonventionen, Timing... Das sind alles Aspekte, die typischerweise ausgeblendet werden, wenn man darüber spricht, wie realistisch eine Geschichte ist. Mein Verdacht ist sogar, dass eigentlich über das Realitätskonstrukt
der Erzählung gesprochen wird. Zum Beispiel könnte man es unrealistisch finden, dass Hänsel und Gretel es schaffen, die Hexe in den Ofen zu schieben, weil die beiden Kinder sicherlich zu schwach dafür wären, und die Hexe wiederum so doof und hilflos nicht sein kann. Die Existenz einer Hexe in einem Lebkuchenhaus oder die klare Unterscheidung von Gut und Böse akzeptieren wir aber als Teil der fiktionalen Realität.
Mein Eindruck ist, dass "Realismus im Rollenspiel" meint, dass die im Rollenspiel erzählten Geschichten zwar möglichst nah an "der echten Realität" dran sein sollen, also an dem kulturspezifischen Konstrukt von Wirklichkeit, dass sie aber einige oder alle der üblichen narrativen Unterschiede zur Wirklichkeit behalten dürfen. Z.B. darf es Schnitte/ Zeitsprünge geben. Schließlich will niemand sechs bis acht Stunden lang in Echtzeit ausspielen, wie die Gruppe im Wirtshaus übernachtet. Außerdem kann es durchaus sein, dass Elemente der fiktionalen Realität wie Magie, Vampire etc. akzeptiert sind, aber ihre Wirkung in der Spielwelt "realistisch" sein soll.
Ein "realistisches" Rollenspielsystem soll also nur in bestimmten Bereichen realistisch sein, aber in anderen nicht. Genauer gesagt steht es zwischen verschiedenen Wirklichkeiten: Der Realität der Spieler und der Realität der Spielwelt. "Realistisch" heißt außerdem, dass es nahe an einem bestimmten
Konstrukt von Wirklichkeit sein soll:
Wir wollen es realistisch finden - ob ein buddhistischer Mönch des 7. Jahrhunderts oder brasilianischer Neo-Schamane der 1980er es realitätsnah finden, ist uns egal.
Attribute (oder sonstige Vorgaben der Spielregeln) können Nähe oder Distanz zu jeder der verschiedenen Realitäten erzeugen. Sie können stärker auf das Realitätsverständnis unserer Gesellschaft bezogen sein, oder auf die fiktionale Realität der Spielwelt. Die Regeln können beschreiben, welchen Einfluss persönliche Fähigkeiten haben, oder wie sehr höhere Mächte oder der Zufall die Dinge in der Hand haben: auch das gehört ja zur Auffassung der Wirklichkeit.
Realismus beschreibt also ein Verhältnis nicht nur zwischen der Erzählung und einer Realität, sondern mehreren Realitäten. Welche das sind, ist nicht selbstverständlich (auch wenn hier vielleicht viele dieselben Vorstellungen haben, sind es vermutlich nicht alle). Wie die verschiedenen Realitätsbezüge im Rollenspiel(system) austariert sind, wird jeder nach seinem persönlichen Geschmack beurteilen. Jemand findet vielleicht feingranulare Systeme mit zig Modifikatoren realistisch, eine andere findet aber vielleicht eine Kampfrunde, die mehr Erzählzeit braucht als erzählte Zeit (z.B. 20 Minuten am Spieltisch für sechs Sekunden in der Spielwelt), unrealistisch. Spielerin X wünscht sich mehr Charakterwerte, weil sonst der Charakter ja nur eine flache Schablone ist, Spieler Y will lieber 20 Seiten Vorgeschichte für ihre Figur, um sie realistisch darzustellen, während Spielerin Z nur Freeform ohne Zahlenwerte realistisch findet, da man im wirklichen Leben schließlich auch spontan handelt, ohne auf Eigenschaftswerte oder seine Autobiographie zu schielen.
Das klingt sehr relativistisch. Worauf ich hinauswill: Wenn man nicht beschreibt, was man selbst realistisch findet, und welche Mischung welcher Realitäten einem gefallen, dann bringt es nicht viel, über Realismus zu reden.
tl;dr Realistisch ist ein Rollenspiel, wenn die damit produzierte Erzählung dem persönlichen Verständnis von Wirklichkeit entspricht. Allerdings kommen mehrere unterschiedliche Realitätskonstruktionen zusammen, und keine davon gilt absolut. Spielregeln bilden eine bestimmte Auffassung von Wirklichkeit (Mischung von Realitätskonstruktionen) ab, z.B. die Macht des Zufalls oder den Einfluss persönlicher Eigenschaften. Was realistisches Rollenspiel(en) ist, nimmt jeder anders wahr. Wenn man nicht genauer beschreibt, was man selbst darunter versteht, wird die Diskussion nicht viel bringen.