Autor Thema: [Fiasco] Drei eiskalte Engel außer Rand und Band  (Gelesen 934 mal)

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Pyromancer

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Gestern hätte eigentlich meine monatliche Runde stattfinden sollen - zum ersten Mal dieses Jahr. Nachdem die designierte Spielleiterin kurzfristig ausfiel pochte ich auf Ersatz-Bespaßung, und da "The Trial of Poland" auf keine Gegenliebe stieß (die Mädels haben gemauert und ließen sich auch von den formschönen Charakterbögen mit den Portraits von Honecker und Breschnew nicht beeindrucken) blieb quasi nur Fiasco übrig. Bei der Playset-Wahl war dann "Tales from Suburbia" der kleinste gemeinsame Nenner.

Die Mitspieler sind klassisch-traditionelle Rollenspieler und hatten bisher keine Erfahrung mit spielleiterlosen Spielen.


Drei eiskalte Engel außer Rand und Band

Playset: Tales from Suburbia.

Figuren-Konstellation:

Heather (gespielt von D)

Relationship: Romantic – former lovers
Object: Information – A tattered birth certificate

Eve Raw (gespielt von I)

Relationship: Crime – small-time vandals and ne'er-do-wells
Need: To get away – from your stupid family

Laura Peterson (gespielt von mir)

Relationship: Family – Parent and Child
Need: To get even – with the local drug dealer

Walter Peterson (gespielt von J)

Relationship: The past – Drunken driver and next of kin
Location: Promise Hill – Promise Hill Country Club

Heather

Setting-Erschaffung

Das ist fast mein Lieblings-Teil von Fiasco: Das Basteln der Ausgangs-Situation. Es passieren immer Dinge, mit denen ich nicht rechne. Ich hatte z.B. lange Zeit eine klassiche Halbstarken-Bande auf Mofas (Mofas, keine Roller! Das wurde geklärt!) vor Augen, und erst, als es darum ging, die Rolle von Ds Charakter festzulegen, hat sich das geändert. Und auf einmal stand es im Raum:
Wir sind eine Mädchen-Gang!
Und schwupps waren wir alle weiblich. Rebellen! Gepiercte Körperteile! Lederklamotten mit Nieten! Röcke, die viel zu kurz sind! Laute Punk-Musik aus dem Kinderzimmer!
Nee, wir sind eine Undercover-Gang! Nach außen brav, nach innen durchtrieben!
Das hat keiner kommen sehen!


Die Lage:
Ein idyllischer Reichen-Vorort am Rande einer namenlosen Großstadt. Hier stehen vor jedem Anwesen 2-3 SUVs, weil in der Garage schon der Mercedes und der Porsche stehen, in jedem Garten gibt es einen großen Pool, die Familienväter sind Ärzte oder Anwälte, die Mütter sind gelangweilte Hausfrauen oder in Wohltätigkeitsorganisationen tätig. Die Söhne und Töchter sind Cheerleader oder spielen Football, sind folgsam, nehmen keine Drogen und halten sich von Ausländern fern. Zumindest sind sie sehr erfolgreich damit, diesen Anschein aufrecht zu erhalten. Aber in letzter Zeit häufen sich die Fälle von Vandalismus; Graffitis sind aufgetaucht, Autos wurden verkratzt und Alkohol wurde aus Garagen entwendet. Es scheint, dass eine Jugend-Gang hier Fuß fasst!

Laura und Eve führen nach außen das normale Leben von verwöhnten Teenagern, doch nachts machen sie als Anführerinnen einer Mädchen-Gang auf ihren pinken Motorrollern die Gegend unsicher. Sie wollen ihr spießiges Leben und ihre langweiligen Familien hinter sich lassen, wissen aber nicht, wie.
Eve hat sich dafür eingesetzt, dass Heather, ihre Ex-Geliebte, in die Gang aufgenommen wird, und als Mutprobe soll Heather einen Golfkarren vom Gelände des Country-Clubs stehlen.

Über die Rolle von Walter hatten wir am Anfang nur vage und widersprüchliche Ideen, irgend etwas mit einem Drogendealer, der Psychopharmaka an seine Frau verkauft, aber wie genau da jetzt die Rache reinkommt, keine Ahnung. Aber meine Erfahrung hat gezeigt, dass es nichts bringt, sich da zu viel Gedanken zu machen. Einfach spielen, und wenn es passt, dann passt es, und wenn nicht, dann halt nicht.

Szene 1 (Heather – schlechter Ausgang):
Ein paar Ecken vom Country-Club entfernt. Eve und Laura warten, dass Heather mit dem geklauten Golfkarren ankommt. Statt dessen kommt aber Heather völlig aufgelöst ohne Golfkarren, faselt wirres Zeug und wird von Laura runtergeputzt. Nun dringen sie zu dritt in den Golfplatz ein und entdecken den Golfkarren, den Heather über eine kleine Böschung gesteuert hat und unter dem eine blutüberströmte Frau begraben liegt. Just in dem Moment kommt der Nachtwächter um die Ecke. Eve und Laura fliehen, aber Heather trifft der Strahl seiner Taschenlampe mitten ins Gesicht, bevor auch sie das Weite sucht.
Bei dieser Szene war die Tochter von J, die in der Ecke mit auf dem Sofa saß, etwas irritiert, weil wir das Ganze ziemlich lautstark und emotional ausgespielt haben (ähem, und rückblickend hätte ich mir das eine oder andere Schimpfwort vielleicht verkneifen sollen.) – zum Glück ist die Kleine dann in ihr Kinderzimmer verschwunden, bevor es blutig wurde. Hinterher wurde ihr aber nochmal erklärt, dass das alles nur Spiel und nicht ernst gemeint war. Ihr Kommentar: "Weiß ich doch. ::)"

Szene 2 (Walter – schlechter Ausgang):
Walter hält auf der Terrasse des Country Clubs Ausschau nach seiner Frau, als der Nachtwächter angerannt kommt und etwas von einer verletzten Frau ruft. Walter eilt zur Unfallstelle und erkennt seine Frau. Sie ist schwer verletzt und erkennt ihn nicht, und stöhnt den Namen eines anderen Mannes: "Nick, Nick, ...". Dann kommt der Krankenwagen.

Szene 3 (Laura – guter Ausgang):
Walter holt Laura von zu Hause ab und fährt mit ihr ins Krankenhaus. Dort ist schon die Polizei. Die Polizei übergibt Walter eine Geburtsurkunde, die man bei seiner Frau gefunden hat - es ist die von Laura, die zeigt, dass er nicht ihr Vater ist. Außerdem kommt heraus, dass die Polizei nur nach einer Person sucht, deren Beschreibung nicht im geringsten auf Laura passt.
Die Geburtsurkunde wurde hier ohne jede Vorwarnung von D ins Spiel gebracht. Das hat mich überrascht, aber hey, ohne Überraschungen wäre das Leben ärmer.

Szene 4 (Eve – guter Ausgang):
Als Eve nach Hause kommt, wird sie dort von ihrer wütenden Mutter empfangen, die wissen will, wo sie so spät noch war. Nach einem hitzigen Schlagabtausch "gesteht" Eve, dass sie jetzt einen Freund hat, Stephen, und bei ihm war. Ihre Mutter ist erleichtert und froh, dass es diesmal endlich ein Freund ist, und die beiden verbringen einige glückliche Mutter-Tochter-Momente.
Auch das war eine sehr schön ausgespielte Szene.

Szene 5 (Heather – schlechter Ausgang):
Heather ist aufgewühlt, will sich mit Eve aussprechen und klettert die Regenrinne zu Eves Schlafzimmerfenster hoch, klopft dort an die Scheibe. Eve zieht einfach den Vorhang zu.
Die wahrscheinlich kürzeste Szene, die ich je bei Fiasco gespielt habe. Aber nach fünf Sekunden Spielzeit statt einer Aussprache die kalte Schulter zu bekommen geht als schlechter Ausgang durch. Hier sind wir dann auch von der Reihenfolge abgewichen und haben den Würfel NACH Ausgang der Szene vergeben statt vorher – nicht verkrampfen, es läuft.

Szene 6 (Walter – schlechter Ausgang):
Vor der Intensivstation: Der Arzt will von Walter wissen, was für Medikamente das genau waren, die seine Frau da von ihrem Hausarzt verschrieben bekommen hat, weil da wohl heftige Psychopharmaka dabei waren und er das wissen müsste, wegen Nebenwirkungen etc. Walter weiß natürlich von nichts, will sich aber nichts anmerken lassen, auch wenn Laura von der Seitenlinie stört („Aber Mama war doch seit Jahren nicht mehr beim Arzt!“). Während des Gesprächs wird plötzlich aus dem "piep---piep---piep" im Hintergrund ein "beeeeeeeeeeeeeeeeeep", es folgen hektische Widerbelebungsversuche. Alles ohne Erfolg: Walters Frau stirbt.

Szene 7 (Laura – guter Ausgang):
Laura braucht Geld, um von zu Hause abzuhauen und trifft auf dem Golfplatz Nick, den drogendealenden Gärtner, um ihn zu erpressen. Sie einigen sich auf 20.000$, die am nächsten Tag bei der Trauerfeier für Lauras Mutter im Country Club übergeben werden sollen.
Hier musste ich mehrmals nachdrücklich den von mir gewählten guten Ausgang der Szene einfordern, was etwas mühsam war.

Szene 8 (Eve – guter Ausgang):
Auf der Trauerfeier konfrontiert Heather endlich Eve (alle schwarz verschleiert), die ihr seit dem Unfall aus dem Weg gegangen ist. Statt einer Aussprache geht Eve auf die Annäherungsversuche von Stephen ein, was deren Mutter wohlwollend zur Kenntnis nimmt.

Tilt:
Death – Out of the blue
Innocence – The wrong guy gets busted
Beim Unschuldigen war klar: Statt Heather wird Eve verhaftet, und zwar sofort hier auf der Trauerfeier.
Als plot-tragender Toter blieb dann nur noch Nick übrig (wobei man bei „out of the blue“ auch jeden anderen hätte nehmen können, Eves Mutter z.B.), Details überließen wir dem weiteren Spielverlauf.

Szene 9 (Heather – guter Ausgang):
Heather wird von der Polizei verhört, weil man sie über die Verbindungsdaten und Bewegungsprofile ihres Smartphones mit Eve in Verbindung gebracht hat. Sie streitet alles ab, sie habe ihr Smartphone in der Schule verliehen, wüsste aber nicht mehr, an wen. Mit den Videobildern einer Überwachungskamera konfrontiert, die sie in der Tatnacht gemeinsam mit Eve an einer Tankstelle zeigen, kollabiert sie unter Tränen. Ihr Vater schafft das Problem aber mit einem großzügigen Trinkgeld an den Polizisten aus der Welt, die Bänder verschwinden, Heather ist aus dem Schneider.

Szene 10 (Walter – schlechter Ausgang):
Walter konfrontiert Nick (in einer Szene, die zu Beginn 1:1 Szene 7 imitiert) mit seinen Drogengeschäften, die Situation eskaliert, und bei der Rangelei fällt Nick in den Kompost-Häcksler. Das ganze wird gesehen, Walter wird verhaftet.
Laura wird von der Polizei ins Polizeirevier gebracht und besucht ihren Vater in der Zelle, will wissen, was passiert ist. Beim Gehen erzählt sie der Polizei, ihr Vater habe beim Frühstück schon gesagt, er wolle Nick umbringen, aus niederen Beweggründen, was die Anklage wohl von Körperverletzung mit Todesfolge auf Mord aufwerten dürfte. Und Laura ist ihre nervenden Eltern los!

Szene 11 (Laura – schlechter Ausgang?):
Laura will mit den 20.000$ fliehen, wird aber verhaftet, als sie gerade mit ihren vollgepackten Reisetaschen in den väterlichen Mercedes einsteigen will. Das Geld liegt noch auf dem Armaturenbrett. Die Polizei ist wohl durch die Geburtsurkunde zu dem Schluss gekommen, dass Laura die Tochter von Walter nur spielt und in Wirklichkeit seine Geliebte ist, und das die beiden die Drahtziehers eines Mordkomplottes sind. Zu allem Überfluss stellt sich (wieder durch die aufgetauchte Geburtsurkunde) heraus, dass Laura nicht 17, sondern schon 18 ist und damit als Erwachsene behandelt wird und in den Knast wandert.
Da wollte es D meinem Charakter so richtig reinwürgen. :d Immerhin heißt das Spiel Fiasco!

Szene 12 (Eve – guter Ausgang):
Eve, die als Minderjährige von der Polizei wieder laufen gelassen wurde sitzt gemeinsam mit Heather im väterlichen SUV, die väterliche Pistole in der Hand. Sie rauschen frontal in die Polizeiwache und befreien in einer spektakulären Aktion Laura, die noch schnell die beschlagnahmten 20.000$ aus der Asservatenkammer mitnimmt.

Szene 13 (Heather – guter Ausgang):
Laura will Heather rausschmeißen, weil sie an dem ganzen Schlamassel schuld ist. Am Ende eines lautstarken Streitgesprächs darf sie aber bleiben und die drei fliehen Richtung Mexiko.

Szene 14 (Walter – schlechter Ausgang):
Walter konnte in dem Chaos ebenfalls fliehen und setzt in einem geklauten Polizeiauto seiner Tochter nach. An einer Tankstelle in der Wüste kommt es zur Konfrontation. Laura wirft ihm Versagen in allen Belangen vor und will wissen, wer ihr wirklicher Vater war. Das weiß er aber nicht. Er fleht sie an, sich mit ihm zu versöhnen. Doch Laura nimmt Eves Pistole und schießt ihm zweimal in die Brust.
Das war spannend. Ich hab mich beim Festlegen des Ausgangs der Situation rausgehalten und war schon halb mental darauf vorbereitet, meinem Vater um den Hals zu fallen und die große Familienversöhnung einzuleiten, aber meine Mitspielerinnen hatten da andere Vorstellungen.

Szene 15 (Laura – schlechter Ausgang):
Die drei Mädels stehen in ihrem Auto in der Schlange vor der Zollabfertigung nach Mexiko. Laura gerät in Panik, als sie Grenzer mit Steckbriefen in der Hand die Autos absuchen sieht, und überzeugt die anderen von einem Durchbruch-Versuch. Eve gibt Gas, das Auto knallt aber an einem Betonpfosten. Der Fluchtversuch ist wenige Meter vor der Grenze gescheitert.

Szene 16 (Eve – guter Ausgang):
Eve ist als einzige unverletzt. Heather und Laura sind ziemlich groggy, könnten aber mit Hilfe gehen, sowohl die Pistole als auch das Geld liegen in Griffweite. Heather, Laura, Pistole, Geld, aber nur zwei Hände. Eve greift sich die Pistole und das Geld, und flüchtet die letzten Meter über die Grenze.

Nachspiel:
Heather: weiß 10. Heather kommt nach kurzer Zeit aus dem Jugend-Arrest. Sie ändert ihr Leben, wechselt die Stadt und den Freundeskreis und widmet fortan ihr Leben dem Zweck, Jugendliche davon abzuhalten, kriminell zu werden. Im Alter wird sie als UN-Sonderkommissarin gegen Jugendkriminalität berufen.

Walter: schwarz 1. Er stirbt in der Staubfahne der Fliehenden mit einem "Aber ich liebe dich doch, meine Tochter..." auf den Lippen. Zu seiner Beerdigung ist nur der Nachtwächter anwesend. Jahre später wird sein überwuchertes Grab von einem Bulldozer weggeräumt, um Platz für die Erweiterung des Golfplatzes zu machen.

Laura: schwarz 4. Sie kommt nach Jahren als gebrochene Frau aus dem Knast und kehrt in ihre Heimat zurück, wo sie einen Job als Gärtnerin im Country Club bekommt. Verbittert sieht sie aus der Ferne die reichen Frauen und erkennt, dass das Leben, das sie hätte haben können, doch nicht so schlecht gewesen wäre. Aber diese Einsicht kommt zu spät.

Eve: weiß 7. Eve schwört der Kriminalität ab, aber die Erfahrung hat sie verbittert. Mit dem Geld übernimmt sie eine heruntergekommene Bar irgendwo an der mexikanischen Küste und führt ein einfaches, nur mäßig glückliches Leben.

Klasse Spiel! Wir haben ziemlich genau so gespielt, wie man meiner Meinung nach Fiasco spielen muss: Fast keine Vorausplanung, Details im Zweifelsfall im Unklaren lassen, wenn Würfelergebnisse nicht 100% passen beide Augen zudrücken und an sonsten einfach spielen, spielen, spielen, und sich überraschen lassen, was passiert.

Und es war glaube ich das erste Fiasco-Spiel, wo wirklich alle erwürfelten Elemente einigermaßen zentral eine Rolle gespielt haben - etwas, was ich bei Spielbeginn nie geglaubt hätte und was ich auch nicht forcieren wollte.

Für meine traditionell geprägten Mitspieler war es ungewohnt, dass man Dinge nicht minutiös sequentiell ausspielen muss. Ich musste gelegentlich darauf hinweisen, dass nur von A nach B zu fahren keine Szene ist, wenn dabei nicht irgend etwas dramatisches passiert, und das wir auch Tage und Wochen vorspringen können, oder das man z.B. nicht erklären muss, wie Walter jetzt genau aus der Polizeiwache flieht, sondern einfach die Szene damit beginnen kann, dass er seine Tochter an der Tankstelle stellt. Sie haben es aber mit Fassung getragen und ich hatte den Eindruck, dass sie zumindest gut unterhalten waren. Die spontane Übernahme von NSCs wurde sehr schnell verinnerlicht.
Kommentar: "Das ist kein Rollenspiel, das ist mehr so, als wenn man sich nach dem Staffelende zusammensetzt und überlegt, wie die Serie weitergehen könnte." Kann man so sehen, ja. Ich hab ja schon immer gesagt: "Fiasco ist Primetime Adventures in gut."

Aber "The Trial of Poland" wollen sie immer noch nicht spielen.