Die Gruppe Wölfe läuft auf Matilde zu, an ihr vorbei und stürzt sich dann auf das verletzte Pferd, während der schwarze Wolf in die andere Richtung läuft.
Der Weg des Tieres ist erstaunlich gradlinig. Immer in Richtung Osten. Der Marsch durch den hohen Neuschnee ist beschwerlich und ein langwieriger Kampf gegen Eis, Schnee, Wind und Kälte. Schliesslich setzt eine Dunkelheit ein, die nichts aussergewöhnliches an sich zu haben scheint. Es wird eine sehr kalte, klare Nacht werden...
Matilde: Sobald die Dunkelheit eintritt werde ich nervös. Sehr nervös. Denn ich kann nichts mehr sehen. Ich laufe dem Wolf hinterher, solange ich ihn noch sehen kann.
Ich muss doch einen Platz finden, wo ich rasten kann... obwohl, die Lodge sollte in dieser Richtung liegen.Ich schaue hektisch immer nach links und rechts, halte John im Anschlag und konzentriere mich auf mein Gehör.
Der Wolf verringert den Abstand zum Menschen, damit Matilde ihm besser folgen kann. An einer grossen, ausladenden Tanne bleibt der Wolf stehen. Die tiefhängenden Äste sind verschneit und von Schneewehen umgeben. Der Wolf beginnt zu scharren. Nach einigen Minuten ist ein Loch in die Schneewehe gegraben... Der Wolf schubst Matilde an und beginnt zu fiepen.
Matilde: Ich schaue ihn etwas verdutzt an. Dann schaue ich auf das Loch. Und dann wieder ihn an. "Soll ich... da rein? Willst Du... hier Rast machen?" Ich beuge mich langsam vor und versuche mich so hinzusetzen, wie es am bequemsten für mich ist. Noch einmal schaue ihn an.
"Ich sollte zurück zur Lodge gehen..." flüstere ich noch.
Heute ist doch die längste Nacht des Jahres. "Was meinst Du?" Ich streichele ihm den Kopf.
Ein Blick in das Loch hinein bringt nur Dunkelheit mit sich, verspricht aber auch eine gewisse Behaglichkeit. Die Schneewehen enden ca. zwei Meter vor dem Stamm. Der Boden federt, denn er ist dick mit Tannennadeln bedeckt und absolut trocken. Sie schützen vor der Kälte des Bodens. Die weit ausladenden Äste bilden ein natürliches Zeltdach und schützen vor dem schneidenden Wind. Der Unterschlupf ist eine natürliche Mischung aus Zelt und Iglu. Erneut zieht ein Sturm auf. Und er bringt klirrende Kälte mit. Ein Wetter, bei dem man gerne einen behaglich knisternden Kamin sein Eigen nennen möchte.
Matilde "Na gut..." sage ich perplex. Aber was kann ich auch sonst machen. Es ist stockdunkel und ich kenne den Weg zurück nicht. Ich ziehe die Decken aus dem Rucksack und lege das Gewehr auf den Boden. "Lass mal sehen, was mit Deiner Wunde ist." Mit diesen Worten nähere ich mich ihm. Ich nehme das Fleisch aus dem Rucksack und halte es ihm hin.
Der Wolf schnüffelt und stubst das Fleisch mit der Nase an, frisst es aber nicht. Dann schnüffelt er an Matildes Hand und beginnt nach einigen Minuten ihre Hand zu lecken. Dann legt er sich auf die linke Seite und schnauft.
Matilde: Ich nehme das Feuerzeug und mache mir Licht. Dann schaue ich mir die Wunde an. Es ist tief aber die Kugel scheint nicht steckengeblieben zu sein. Ein glatter Durchschuss. Die Blutung hat inzwischen fast aufgehört. Ich seufze. "Ich versuche eine Bandage zu machen. Va bene!" [Meinetwegen.] sage ich mit ruhiger Stimme.
Ich ziehe meinen rechten Arm aus dem Wintermantel und nehme das Messer... nein den seltsamen Dolch, der Hans gehört hatte. Damit schneide ich einen Teil meines Pullis ab. Dann ziehe ich mich wieder an. Ich lasse ein bisschen Speichel auf das Stoffstück tropfen, um die Wunde zu desinfizieren und versuche daraus eine Bandage zu machen, um die Blutung endgültig zu stoppen. Der Wolt fiept und das tut mir zum ersten Mal fast körperlich weh. Normalerweiser würde ich als Jäger dieses Geräusch sogar mögen.
Verdammt. Was mache ich gerade? denke ich, während ich ihn weiter untersuche. Sein Ohr blutet auch. Ist ja nicht schlimm, aber sicherlich schmerzhaft. Ich nehme Luni's Kopf vorichtig in meine Hände und schaue ihm in die Augen. "Mi dispiace, Luni" [Es tut mir leid] sage ich traurig.
Verdammt, du entschuldigest nicht bei einem Wolf? Bei einer Beute? denke ich.
Warum nicht? Das habe ich auch bei Hans gemacht. sagt mir mein Gewissen plötzlich. Mein Magen verkrampft sich.
Ich lasse noch etwas Speichel in die Hand tropfen und reibe damit die Wunde am Ohr ein.
Dann nehme ich die Decken, lege mich nah neben ihm hin und decke uns beide zu.
Ich kuschele mich unter den Decken an Luni und weine. Ich schluchze laut. Heule mit dem Wind und lasse alles raus. Zum ersten Mal... ndlich. Niemand kann mich hier hören, denn der Schneesturm deckt mein Leid zu. Vielleicht begleitet er mich sogar in meinem Schmerz.
Der Wind heult fauchend um das Iglu herum und bringt die Tanne zum Beben. Sie schwankt hin und her. Die Äste rauschen und reiben aneinander.
Der schwarze Wolf liegt entspannt auf den Tannennadeln. Seine Augen sind geschlossen, doch seine Ohren sind ständig in Bewegung und aufmerksam.
Matilde liegt mit ihrem Kopf auf dem atmenden Wolfspelz und heult schluchzend ihren Schmerz heraus. Dann hebt das Tier seinen Kopf und stösst ein kurzes, leises Heulen aus, als wolle es einen Pakt besiegeln oder seine Zugehörigkeit unterstreichen. Im Wald bricht derweil die Hölle los. Der eisige Wind peitscht die Bäume, zerrt an den Ästen, wirbelt Schnee auf und Äste umher.
Binnen kürzester Zeit ist das Eingangsloch des Unterschlupfs geschlossen und von aussen für alle Augen unsichtbar. Das Dach aus Schnee und Zweigen ist dicht, aber luftig und die Temperatur im Inneren ist, duch die Wärme der beiden Körper bald auf knapp über Null Grad angestiegen. Fast könnte man meinen, dass all die Gefahr und das Grauen verschwunden sind. In dieser heimeligen Atmosphäre im Unterschlupf.
Matilde: Ich streichele Lunis Fell, um mich zu beruhigen. Dann schaue ich die Uhr, die Taschenuhr von Hans, die ich noch aus dem Zug habe.
Der Tiger ist tot. Nehmen sie sich alles. 15.50. Immer noch. Die Zeit dehnt sich fast unendlich.
Ich stehe auf und nehme ein bisschen frischen Schnee und esse ihn. Immerhin, das ist wie trinken, aber meine Platzwunde am Mund brennt dabei leicht. Dann esse ich ein wenig Brot und Käse, aber nicht alles. Nur etwa die Hälfte.
Heute ist Thomasnacht. Heute Nacht fängt die Wilde Jagd an? Oder doch noch nicht? Ich bin aber sicher, dass dies die erste Nacht aud dem Zettel war.Wird jemand merken, dass ich noch nicht zurück bin? Ich weiss, dass Rick und die andere in die Stadt gefahren sind und wahrscheinlich erst gerade zurück kommen. Wird mich überhaupt jemand vermissen oder mich suchen? Heute ganz bestimmt nicht mehr.[/i]
Ich habe noch drei Patronen für John und die Pistole ist noch voll geladen und die Ersatztrommel habe ich auch noch. Holz habe ich, auch wenn ich es nicht benutzen werde. Zumindest noch nicht. Nachdem ich alles kontrolliert habe, nehme ich die zweite Decke und rolle sie zu einem Kissen zusammen. Dann lege ich mich wieder neben Luni. Ich schaue das Tier bewundernd an und streichele ihm über den Kopf.
"Du bist ein schönes Tier" sage ich. "Schön, Dich bei mir zu haben."
Der Wolf hebt kurz den Kopf, leckt einige Male Matildes Hand und liegt dann wieder, ruhig atmend, neben ihr. Ein kurzes Schnauben, dann hört man nur noch das Wüten des Windes. Draussen. Entfernt. Ganz weit weg. In einer anderen Welt. Zu einer anderen Zeit. Völlig der Realität entrückt.
Matilde: Ich konzentriere mich auf den Sturm draussen, höre seinem Wüten zu und versuche so ruhig zu bleiben wie es geht.
Der Sturm wirbelt ohne Unterlass. Odin, der Herr der Toten und Stürme zieht über das Land und am Himmel entlang. Es sind fürchterliche Geräusche zu vernehmen, als würde ein Heer der Toten über das Land ziehen. Eine Kakophonie aus Fauchen, Schreien, Johlen, Heulen, Jammern, Ächzen und Stöhnen.
Der Wolf rollt sich auf den Bauch, hebt leicht den Kopf an und beginnt, ein tiefes Knurren von sich zu geben.
Matilde: Ich bekomme eine Gänsehaut. Ich hebe auch den Kopf an und greife nach John.
Mit meiner anderen Hand greife ich nach diesem Odin-Medallion, das mir Olaf geschenkt hatte. Ich kann es nicht anschauen, weil es zu dunkel ist, aber das macht nichts. Ich halte es in meiner geschlossenen Hand eine zeitlang ganz fest. fest, Dann starre ich in die Dunkelheit hinein.
"Tranquillo, Luni. Shhhhh!" [Ruhig.] flüstere ich so leise wie ich nur kann. Ich versuche mich zu beruhigen und meine Angst zu kontrollieren. Ich konzentriere mich voll und ganz auf meinen Hörsinn. Bei all der Anspannung stockt mir der Atem.
Geraume Zeit ist vergangen, seitdem Matilde sich zuletzt bewegt hat. Wie erstarrt lauscht sie den namenlosen Schrecken, die an ihr vorüberzogen, ohne dass sie diese zu Gesicht bekommen hätte. Sie muss schliesslich wohl eingeschlafen sein.
Der Wolf knurrt. Ein tiefes, kehliges Grollen, dass den Körper des Tieres erzittern lässt, aber recht leise ist. Jemand oder etwas gräbt an der Aussenseite des Unterschlupfes. Nicht direkt am Eingang, sondern seitlich davon und weiter oben. Langsam und sehr beharrlich. Gurgelnde Laute, eine Art fremdartige Sprache, sind zu hören. Der Sturm hat anscheinend nachgelassen. Das Brausen ist verstummt. Noch immer ist es stockfinstere Nacht und die Kälte hat seit kurzem noch erheblich zugenommen.
Matilde: Ich nehme John in die Hände und schreie "HVEM ER DET?" [Wer ist da?]
Verdammt, das kann doch niemand wissen, dass ich hier bin. denke ich, während mein Herz schneller schlägt.
Eine bekannte Stimme ist zu hören "Andra tutto bene, amore mio!" [Alles wird gut, mein Liebling.] Dann ist das Loch gross genug. Im fahlen Mondlicht kann Matilde Hans' Gesicht sehen. Er hat sein freches, beleidigendes Grinsen im Gesicht. Er reicht Matilde die Hand. Eine eisige Kälte geht von ihm aus und weht in den Unterschlupf hinein. Der Wolf fängt laut zu knurren an. Sein Fell ist gesträubt, die Ohren angelegt und die Zähne gefletscht. Hans "Andra tutto bene, animo mio." [Alles wird gut, meine Seele.]
Matilde: Ich starre Hans einen Moment voller Entsetzen an. Das kann nicht sein.
Der Tiger ist tot. "Du bist tot..." hauche ich. Dann nehme ich John und ziele auf den verschneiten Eingang. Und ich schiesse. Eine weisse Explosion folgt und frischer, eisiger Schnee sprizt überall herum.
"LAAAUF!" schreie ich verzweifelt dem Wolf zu. Verzweifelt und kopflos, ohne mich umzudrehen, renne ich raus. Ohne Ziel. Nur weg von hier.
Matilde läuft und läuft. Überall sind Menschen. Tote Menschen. Es ist kein Herde. Mehr einzelne, einsame Gestalten, die verschneit, mit leerem Blick, in ein und dieselbe Richtung ziehen. Immer Richtung Osten. Eine dieser Gestalten ist Olaf... Sie alle schlurfen und pflügen durch den Schnee. In Abständen von zehn bis zwanzig Metern zueinander. Langsam. Schleppend. Ruhelos. Doch sie nehmen keine Notiz von Matilde.
Der untote Hans kommt Matilde entgegen. Er ist nackt. Nein. Er ist nicht nackt. Er trägt die Haut eines Menschen wie einen Mantel. Das Blut daran ist noch frisch und müsste gefroren sein, aber es tropft in dickflüssigen Rinnsalen an ihm herunter. Nein. Das Blut fliesst in Strömen an ihm herab. Und aus ihm heraus. "Du hast mich umgebracht. Du hast mich getötet. Du HASST mich!"
Sein Gesicht zeigt immer noch das freche, beleidigende Grinsen. Doch er grinst nicht. Ihm fehlen die Lippen und Teile der rechten Wange. Der Rest der Haut ist ausgefranst und scheint zum Teil abgefressen zu sein.
Und wie ein interessierter Beobachter schwebt der fahle Mond über der Szenerie.
Hinter Hans nähert sich eine grosse Kreatur. Vielleicht sechs Meter gross. Vielleicht auch grösser. Zwischen den Bäumen und in dem Schneetreiben ist sie kaum zu sehen. Schemenhaft. Und dennoch ist sie da. Man kann ihre blanke Präsenz fast körperlich greifen. Eine sich manifestierende Dunkelheit in finsterster Nacht.
Matilde: Ich lade hektisch John nach.
Das sind die letzten zwei Patronen. "Zittere nicht so stark, Matilde, sonst wirst du nie eine gute Jägerin sein." Ich ziele erst auf Hans, dann auf die schemenhafte Kreatur hinter ihm. Dann wieder auf ihn. "Verdammt..."
Hans ist tot... soll ich auf einen Toten schiessen? Was soll das bringen? Ich ziele wieder auf die schemenhafte Kreatur. Dann drücke ich ab.
Dann zeichnet sich die Kreatur deutlicher und immer deutlicher ab, bis sie klar und deutlich zu erkennen ist.
http://2.bp.blogspot.com/-ZAIwkNbBoJs/T1WyUTx_76I/AAAAAAAACYE/M5GXh3YvrmU/s1600/Wendigo_Render_Cropped3.pngMatilde: Als ich diese Kreatur sehe, schreie ich vor Entsetzen laut auf und schrecke zurück. Dann drehe ich mich um und laufe davon. Einfach nur davon.
Ich werde sterben. Ich sterbe. Vielleicht bin ich sogar schon längst tot. denke ich. 'Ist das nicht was du wolltest?' sagt eine freche Stimme, in meinem Kopf. "Nicht so. Nicht als Beute." sage ich leise zu mir selbst, während ich renne und den Schnee durchpflüge. "NON COSÌ!" [So nicht!] wiederhole ich laut, um mich selbst irgendwie davon zu überzeugen, dass das nicht das Ende sein wird.
Die grosse, widerliche Kreatur ist langsam, aber ihre Schritte greifen weit. Im Nu hat sie Matilde überholt und steht nun vor ihr. Matilde sieht Ragnar, der ihr langsam entgegen schlurft. Sein Schädel ist eingeschlagen, so dass man sein Gehirn sehen kann. Er ist blutverkrustet. Ein Auge hängt heraus und das schaut mit leerem Blick geistlos durch Matilde hindurch. Aus Ragnar's Brust ragt ein dicker, abgebrochener Ast einer Tanne heraus.
Matilde: Ich bleibe atemlos stehen. Dann hebe ich John und schiesse meine letzte Patrone auf die Kreatur ab. Dann lasse ich John in den Schnee fallen, ohne darauf zu achten, ob und wo ich getroffen haben könnte und hole die Pistole heraus. Ich ziele auf Ragnar. Meine Hand zittert.
Die Kreatur nähert sich. Langsam. Höhnisch. Erwartungsvoll. Gierig. Hungrig. Kaltes Feuer lodert in ihren Augen. Bösartig. Unmenschlich. Mordlustig. Das Ding streckt die Zunge aus und deren Spitze berührt Matilde an der Wange. Eisige Kälte geht von dieser Berührung aus und lässt Matilde erschaudern.
Matilde: Ich kneife die Augen zusammen und schiesse auf das Ding, bis alle 32 Patronen aus der Trommel abgefeuert sind. Doch ich weiss ganz genau, dass das nichts bringen wird. Und so hole ich, mit der letzten Kraft, die mir aus einer Mischung aus Todesangst und Verzweiflung erwächst, den Dolch heraus.
Der schwarze Wolf fiept, als die ekelhafte Zunge der Kreatur eiskalt über Matilde's Gesicht gleitet. Das Ding riecht nach verwesendem, fauligem Fleisch und das Ding verändert seine Form. Es verliert an Substanz. Es wird schemenhaft. Durchsichtig wie das Eis. Und weiss, wie der Schnee.
Matilde: Ich gehe zwei Schritte zurück und schaue mich um. Ich versuche vor allem das Ding und die Toten im Auge zu behalten. Ragnak, Olaf und Hans... Und ich halte den Dolch so fest wie ich nur kann und mache mich bereit...