Autor Thema: Clives Reminiszenzen  (Gelesen 2337 mal)

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Joran

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Clives Reminiszenzen
« am: 4.07.2017 | 18:34 »
Hier sammle ich ein paar alte Posts, die für den Hintergrund von Clive von Bedeutung sind oder sonst in diesem Forenspiel aufgegriffen werden.

Joran

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Re: Clives Reminiszenzen
« Antwort #1 am: 4.07.2017 | 18:51 »
30.05.1927 Clives Auftritt

Insel Herm im Ärmelkanal
Böcklin Haus (ein Haus für die sehr, sehr Nervösen ...)
Clives Krankenzimmer


Hier liege ich nun und frage mich wie an jedem Tag, ob ich am Ende meiner langen Reise angelangt bin, ob ich hier endlich Frieden mit mir selbst, Clive Montgomery Savage, schließen werde.

Ich liege auf meinem Bett, dem kühlen weißen Laken. Ich warte. Ich horche.

Mit jedem Tag, mit jedem Wechsel des Sanatoriums, wird meine Spur sich mehr verwischen, wie Abdrücke unter fallendem Schnee, begraben unter einer Decke aus reinem Weiß.

Wie lange liege ich nun alleine in diesem Zimmer?

Wie lange betrachte ich diese Wände, jetzt endlich ganz rein und weiß? Keine Blumen mehr, die vor meinen Augen zu kreisen beginnen und sich zu unheilverheißenden Mustern verbinden könnten. Jede Unebenheit im Putz, die meine Fingernägel unter der geschmacklosen Tapete ausgegraben haben, ist mir bestens vertraut. Ich lese in den wandernden Schatten jeder Borke die verstreichende Zeit des Tages, Minute um Minute, Stunde um Stunde …

Wie lange betrachte ich schon diese Decke, diesen beruhigend sternenlosen Himmel, diesen zerbrechlichen Paravent von Menschenhand, der verdeckt, was ich nicht sehen soll … nicht mehr sehen will …

Aus Tagen wurden Wochen. Aus Wochen wurden Monate.

Weiß wie ein Verband legt sich dieser Raum nun auf meine Augen und meinen Verstand. Ich bin sicher: Wenn sich mein Verstand nur lange genug an dieses Weiß klammert, werde ich vergessen, wird sich mein Verstand leeren. Zumindest für eine kurze Weile werde ich den VIRUS WISSEN, der meinen Geist befallen hat, besiegen. Ja, darüber besteht kein Zweifel: Wissen ist eine Krankheit. Eine Seuche, begleitet von einem inneren Fiber, welches kein Thermometer zu messen vermag. Unheilbar. Ansteckend. Eine Pest der Seele, übertragen mit dem Wort, gesprochen oder geschrieben. Myriaden von Wörtern überall um uns tragen unsichtbare Tropfen mit Erregern, ausgespiener Speichel aus prähistorischer Zeit. Einzig ein Immunsystem aus Einfalt und Unglauben vermag den Menschen vor diesem VIRUS zu schützen.

Diese Kurpfuscher sehen die Krankheit, aber verstehen sie nicht. Wo sie Wahnvorstellungen sehen, liegt die Wahrheit; was sie als Realität annehmen, ist der gnadenreiche Wahn, die schützende Decke, die die Evolution über unseren Verstand gebreitet hat. Nicht ICH bin es, der an Wahnvorstellungen leidet, sondern SIE, diese Glückseligen.

Während ich auf meinem Bett liege und den weißen Kalk anstarre, lausche ich auf die Geräusche vor dem Fenster und auf den Flur, präge mir die Schritte der Pfleger und Patienten ein, deren Gesichter ich mit wenigen Ausnahmen nicht kenne, gebe ihnen Namen und Phantasie-Gesichter. Da ist DER SCHLURFER, der mit seinem schweren Gang ewig braucht, um von seinem Zimmer zu den Waschräumen zu kommen. Ich sehe ihn vor mir, einen aufgedunsenen Fettwanst mit einer piepsigen Stimme, stets unterwürfig, wenn er einem Pfleger begegnet. Da ist DIE UNSCHEINBARE, eine Frau, zwei Zimmer links. Ihre Schritte sind kaum hörbar. Sie spricht nie von selbst, wird sie angesprochen, sind ihre wenigen Worte nur ein Flüstern. Oder Dr. Clark, mit seinem wiegend-dynamischen Gang, wenn er sich meinem Zimmer nähert.

Ich stelle mir vor, wie es sein wird, das Zimmer zu verlassen. Das Vertraute wird zum Fremden werden, wenn Augen anstelle von Ohren das Bild in meinem Kopf formen.

Ich stelle mir vor, wie es sein würde, die Augen außerhalb meines Zimmers fest geschlossen zu halten. Die Dinge, Räume und Personen ausschließlich hörend wahrzunehmen, wie bisher. Ich lächle bei dem Gedanken, wie die Anamnese von Dr. Clark sich hierzu wohl ausnehmen würde. Vor allem nach der Sache mit der Tapete. Wie Wasser auf die Mühlräder seiner Schulmedizin, reinigendes Wasser, das die befleckende Wahrheit meiner Worte hinfort spülen und den VIRUS der Erkenntnis mit sich reißen wird.

Bald ist es so weit. Bald beendet man meine Quarantäne. Bald werde ich, der Seuchenträger, durch Dr. Clarks Unverständnis zwischen die Menschen geworfen. Mit sanftem Druck wird Dr. Clark mich inmitten dieser armen, ungeschützten Seelen befördern, fruchtbarer Boden für das VIRUS. Und ich werde mich jeden Tag von neuem zwischen der Lüge und der Übertragung meines VIRUS entscheiden müssen. Bald werde ich die Schritte von Dr. Clark sich meiner Tür nähern hören. Bald wird Dr. Clark die Tür, die mich und die anderen schützt, öffnen. Ohne auch nur im Ansatz zu verstehen, was er anrichtet. Und dabei wird aus jedem ermutigendem Wort, aus jeder freundlichen Geste zu allem Überfluss auch noch ganz der Wohltäter im Dienst am Menschen sprechen, vollkommen im Einklang mit seinem naiven Selbstbildnis. Er wird mich zurückstoßen in die unruhige Welt der Farben und Bilder … FALLS ich meine Augen öffne …
« Letzte Änderung: 4.07.2017 | 19:13 von Joran »

Joran

  • Gast
Re: Clives Reminiszenzen
« Antwort #2 am: 4.07.2017 | 19:51 »
Clives wachgerufene Erinnerung an den Kongo - Teil 1

30.05.1927 - Auslöser: Begegnung mit einem bösen, kleinen Jungen
Böcklin Haus (ein Haus für die sehr, sehr Nervösen ...)
Flur mit den Privaträumen der Ärzte


Gegenstand der Reminiszenz:
Kongo-Freistaat, Privatbesitz von König Leopold II. von Belgien
In den Tiefen des Urwaldes
um 1900


Der Schweiß tritt aus allen Poren. „Warum ist es plötzlich so heiß?“ Mit einer Hand öffne ich meinen Hemdkragen. Der Schweiß rinnt mir in Strömen den Rücken herab.

Mein Herz rast.

Ich spüre leichte Übelkeit in mir aufsteigen.

Meine Sicht scheint verschwommen. „Die Luft muss von der Hitze flirren“, wundere ich mich noch einen Augenblick, bevor mir klar wird, dass ich mich schließlich im tropisch-feuchten Urwald Afrikas befinde.

Die Luft ist hier so feucht, dass alles von ihr durchtränkt wird. Was Flechten, Moosen und Ranken eine ideale Lebensgrundlage beschert, ist für mich nunmehr zur Qual geworden.

Mehrere Tage haben wir mit Booten unauffällig einen Seitenarm des Kongo befahren.

Doch nun mussten wir die Boote zurücklassen. Wir scheinen uns unserem Ziel zu nähern.

Wir verfolgen einen Trupp Söldner der ‘Force Publique‘, einer Einheit von König Leopolds Privatarmee. Immer wieder meinen wir, ihre Spur verloren zu haben. Aber unsere Führer sind verlässlich. Sie kennen die Bewegungen der Soldaten, die dafür Sorge tragen, dass Leopolds unersättlicher Hunger nach Kautschuk gestillt wird.

Wir sind auf der Suche nach Beweisen. Wir sind auf der Spur nach etwas, das weit über das hinausgehen soll, von dem uns bisher berichtet wurde. Etwas, das den Einheimischen unaussprechlich zu sein scheint. Es hat lange gedauert, Führer zu finden, die uns auf diesem Weg begleiten.

Ich spüre das Gewicht meiner Photoausrüstung auf meinen Schultern. Meine Stiefel sind schwer von nassem Schlamm. Die Stimmung ist gedrückt. Unsere Führer wirken verängstigt und gereizt. Die Lieder, die uns bislang begleitet haben, sind verklungen. Die Unruhe der Träger hat sich auf uns übertragen. Schon lange sind die Gespräche zwischen Ruairí, Herbert und mir verstummt. Herbert scheint sogar die Lust am Zeichnen verloren zu haben.

Eine Dunkelheit hat sich über das Land gesenkt, die man fast mit den Händen greifen kann. Sie lauert in den Schatten des Waldes. Sie beobachtet uns aus dem Dickicht. Wie ein Raubtier folgt sie uns geduldig. Sie wartet ab, bis der rechte Moment gekommen ist. Sie scheint sich ihrer Beute gewiss. Dieses Raubtier verbirgt sind nicht in den Schatten, es ist die Finsternis, die in den Schatten wächst. Ein Gespinst aus Dunkelheit, das sich über das ganze Land zieht und uns schon lange umschließt.

Missmutig schlage ich mit meiner Falcata auf das Gestrüpp vor mir ein, fege es mit der scharfen Klinge hinfort. Langsam beginne ich diese Vegetation, die mich sonst so fasziniert hat, als eine grüne Hölle zu begreifen. Immer wieder meine ich feine schwarze Fäden zurückzucken zu sehen, wenn mit den Pflanzen die Schatten fallen und der glänzende Stahl der langen Klinge aufblitzt. Ein irritierendes Spiel aus Licht und Schatten.

Die Blicke, mit denen die Schwarzen die Falcata mustern, sind inzwischen von so unverhohlener Habgier erfüllt, dass ich mir Sorgen zu machen beginne. Was wären diese Männer zu tun imstande, um in den Besitz dieses Reliktes zu gelangen? Wenn diese Waffe eines namenlosen iberischen Kriegers schon mich fasziniert hat, wie muss sie dann auf diese armen Menschen wirken? Ich bin froh, das Gewicht meiner Lightning am Gürtel zu spüren.

Verstohlen wechseln unsere Führer ab und an wenige Wort, ein Flüstern im Vorbeigehen nur, wenn sie meinen, wir würden sie nicht hören. Sie unterschätzen die Sprachkenntnisse, die ich mir zwischenzeitlich angeeignet habe. Ngala, Kutuba und Luba-Kasai verstehe ich bereits recht gut. Die Furcht der Männer scheint einem ‘Herz aus Finsternis‘ zu gelten. Der Glaube dieser Menschen an das Übernatürliche ist unerschütterlich. Aber in der Tat, erinnern die schwarzen, mit einem eigenen Leben erfüllten Fäden mich an feine Adern. Ich beginne zu verstehen, wie ein solcher Mythos entstehen konnte.

Die feuchte Hitze ist unerträglich. Die leichte Brise treibt lediglich immer neue Mückenschwärme in Wolken zu uns, statt Erleichterung zu bringen.

Gegen Abend trägt der leichte Wind noch etwas anderes zu uns. Der beißende Geruch von Rauch erfüllt nun die Luft.

Vorsichtig pirschen wir uns weiter voran. Die Nacht senkt sich herab und die Dunkelheit wird immer undurchdringlicher. Nur vor uns sehen wir den Widerschein von Feuer am Himmel. Schließlich erreichen wir den Kamm einer Anhöhe. Unter uns sehen wir im Tal die brennenden Hütten eines Dorfes.

Wir hören die gellenden Schreie der Menschen.

Die Führer folgen uns nicht mehr, als wir uns dem Meer aus Flammen nähern. Rund um das Dorf hat die ‘Force Publique‘ Stellung bezogen. Die Flüchtenden laufen ihnen direkt in die Arme. Die Söldner haben einen grausigen Gesang angestimmt.

Auf allen vieren nehmen wir geduckt Deckung hinter einem Gebüsch.

Starr vor Grauen sehen wir alles mit an. Wir sehen die Söldner ihre schreckliche Ernte einfahren. Klingen zucken im Licht der Flammen herab. Abgeschlagene Hände werden aufgesammelt und in Säcke gesteckt. Genitalien werden auf Schnüre gereiht. In unserem Versteck am Boden hockend, können wir nicht als wahr akzeptieren, was wir vor uns sehen. Die Söldner lassen niemanden am Leben, auch nicht die Alten, die Frauen oder die Kinder. Der Geruch von Blut und Rauch und verbranntem Fleisch und Angst und Tod ist unerträglich. Nur mühsam kann ich meinen Brechreiz bezwingen.

Und dieser schreckliche Gesang, den ich nicht verstehe. Ein blasphemischer Hymnus, der die Übelkeit in mir verstärkt, begleitet von dem zuckenden Rhythmus der Klingen und der Leiber vor den lodernden Flammen.

Die Dunkelheit um uns herum wird trotz der lodernden Flammen immer undurchdringlicher. Die Finsternis scheint den ganzen Dschungel um das Dorf zu verschlingen.

An meinen Händen spüre ich kaum merklich eine leichte Bewegung. Als ich meine Hände erschrocken zurückziehe, zerreiße ich etwas, ein feines Gewebe, das sich über den Boden verbreitet und um meine Hände gelegt hat, wie das Geflecht eines Pilzes. Es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen, aber ich weiß auch so, was nach mir gegriffen hat.

Entsetzt flüchten wir drei in die Finsternis des Dschungels hinter uns. Blind kämpfen wir uns mühsam durch die Gespinste, die von der gesamten Vegetation Besitz ergriffen haben. Alleine die silberne Klinge, blutrot gefärbt vom den Flammen hinter mir, gibt mir Hoffnung und die Kraft, den Wall um uns herum zu durchdringen. Dann rennen wir … rennen, bis wir vor Erschöpfung zusammenbrechen und schluchzend warten, ob auf diese Nacht noch ein neuer Morgen folgt oder ob das Jüngste Gericht über die Welt hereingebrochen ist. Und auch als die Schreie verklungen sind, der Gesang erstorben ist und die ersten Sonnenstrahlen einen neuen Tag ankündigen, sind wir uns gewiss, die Hölle gesehen zu haben. Die Hölle ist schwarz und rot und umhüllt von undurchdringlicher Finsternis.

Noch immer halte ich meine Falcata umklammert.

Ich sehe in die Gesichter von Ruairí und Herbert. Es sind nicht mehr die Menschen, die ich bis gestern kannte. Wir alle drei wissen, dass für uns nichts mehr wie davor sein wird.

Ziellos machen wir uns auf die Suche nach unseren Führern. Noch immer ist die Luft beißend vom Rauch. Da stoßen wir auf eine kleine Lichtung. Darauf befindet sich eine kleine Missionarskirche.

Aus der Kirche hören wir das Schluchzen einer Frau.

Schon wollen wir zu ihr eilen, als die Frau brutal von drei Söldnern vor die kleine Kirche gezerrt wird. Die Frau ist nackt, wurde offenbar geschändet.

Nun hören wir auch die rauen Stimmen weiterer Soldaten näher kommen.

Rasch ducken wir uns in das Gestrüpp. Doch sie hat mich gesehen. Ich sehe ihren flehenden Blick direkt in meine Augen. Ich fühle eine Verbindung entstehen, die nie wieder erlöschen wird, ein Verschmelzen der Seelen. Dies ist der Moment, in dem ich die Seele einer Fremden auffange, weil ich den Leib nicht retten kann. Der Moment, in dem das Leben seinen Wert verliert, in dem mein Leben seinen Wert verliert. Der Moment, unmittelbar bevor der Blick der Frau leer wird und sich Blut in einem Strahl aus ihrer Kehle ergießt.

Ich will schreien, kann es aber nicht. Ich will zu ihr rennen, bin aber nicht in der Lage mich zu bewegen.

Und plötzlich sehe ich nicht mehr die Gestalt der afrikanischen Frau vor mir, sondern die schwankende Contessa. Und ich sehe die Finsternis um dieses ... Wesen ... herum aus der Tür nach der Contessa greifen. Da ist plötzlich die Stimme der Afrikanerin in mir, die schreit, um mich aus meiner Erstarrung zu befreien.

„Nicht noch einmal!“, bricht es aus mir hervor. „Nie wieder!“

Ich schwinge mein Messer, wie ich meine Falcata vor dreißig Jahren hätte schwingen sollen und stürze wie von Sinnen vorwärts…
« Letzte Änderung: 4.07.2017 | 20:30 von Joran »

Joran

  • Gast
Re: Clives Reminiszenzen
« Antwort #3 am: 4.07.2017 | 20:07 »
Der Läuterer:

Zitat
Der flehenden Blick der Frau brennt sich in Deinen Verstand.

 Regen fällt und durchdringt Deine Jacke.

 Zähflüssiger Regen... schleimig... rot schimmernd, beschienen vom brennenden Dorf der Einheimischen.

 Der Boden ist zähflüssig... sumpfig... schlüpfrig und tückisch... trügerisch.

 Die Luft riecht nach Rauch... verbranntes Holz und Stroh... nach angebranntem Sonntagsbraten und nach versengten Haaren.

 Du liegst auf dem triefend-nassen Boden des Dschungels und beobachtest die grausige Szenerie... Blutegel haben sich an Deinen Unterarmen festgesaugt und laben sich an Deinem Ich...

Joran

  • Gast
Re: Clives Reminiszenzen
« Antwort #4 am: 4.07.2017 | 20:26 »
Clives wachgerufene Erinnerung an den Kongo - Teil 2  Traumsequenz

30.05.1927 - Auslöser: Begegnung mit einem bösen, kleinen Jungen
Böcklin Haus (ein Haus für die sehr, sehr Nervösen ...)


Kongo-Freistaat, Privatbesitz von König Leopold II. von Belgien
In den Tiefen des Urwaldes
1900


Ich meine das schwache Echo eines Rufs in meiner Erinnerung zu spüren. Hat dieser Ruf mich geweckt?

Ich hebe vorsichtig den Kopf und versuche mich zu orientieren. Keine Spur von Ruairí und Herbert. Aber ich sehe all die Schrecken um mich. Der nasse Boden wimmelt von Würmern und Schnecken und Egeln und schlimmerem Gezücht. Und alle fallen übereinander her und verzehren sich gegenseitig.

Ich greife unter mein Hemd und packe in die wimmelnde Masse, ziehe einen Teil von ihr hervor.

In den vom Feuerschein flackernden Schatten des Unterholzes verlöschen letzte wabernde Reste dieser manifesten Finsternis. Auch darin leben nun Geschöpfe, die manchmal am Rande der zerfallenden Finsternis schwach sichtbar werden, bevor sie vor der Berührung des Lichts zurückzucken und wieder in der Finsternis verschwinden. Was sich in der Finsternis windet, ist schlimmer als die wimmelnde Masse um mich herum. Leben dort ganz andere Wesen oder nehmen die Egel und Würmer, die Schnecken und Insekten in der Finsternis eine andere Gestalt an? Gierig recken Sie mir ihre Mäuler entgegen, aber mit der Finsternis werden sie unaufhaltsam hinweggezogen.

Benommen schließe ich die Augen und all diese schrecklichen Bilder verschwinden. Alleine IHRE Augen bleiben. Diese Augen, denen ich mich bereitwillig ergebe. Ich lasse mich fallen in diese Schwärze, die frei ist von Finsternis. Auf ihre Art ist diese Schwärze so rein wie das Weiß meines Zimmers.1

"Wach auf Clive!", höre ich die weiche, tiefe Stimme der Frau in meinem Kopf sagen. Etwas an der Art, wie sie meinen Namen ausspricht, erinnert mich entfernt an meine Mutter. Bereitwillig gebe ich mich ihr hin: Ich öffne ihr erneut meine Seele.

"Bitte verzeih! Ich wollte Dir helfen ... aber ich war zu schwach ... ich habe versagt ... WIEDER versagt", stammle ich. Tränen rinnen über meine Schläfen, vermischen sich mit dem blutigen Regen und fließen herab in den Morast des Urwalds.

"Scht! ... Scht! ... Es ist ja gut! ... Du HAST mich doch gerettet!", tröstet mich die Stimme, während sie meine Seele wiegt. Nach einer Pause fährt sie fort: "Das Herz der Finsternis ist gegangen. Und in Dir hat ein Teil des Dorfes überdauert. Und darum hat das Herz der Finsternis noch nicht gewonnen."

Ich höre nur die Stimme. Und doch meine ich eine Bewegung in meinem Inneren zu erahnen, eine Geste, mit der die Frau amüsiert meine andere Gefährtin hinfort wischt. Ich spüre den eifersüchtigen Zorn, mit dem sich die verdrängte Gefährtin zurückzieht. Die Traurigkeit verschwindet aus meinem Geist, wie das Meer bei Ebbe. Ich weiß: Sie sammelt sich nur, um mit neuer Kraft zurückzukehren, um sich zu nehmen, was schon immer ihr gehörte, einer Sturmflut gleich. Sie soll es haben. Es macht keinen Sinn, sich den Naturgewalten entgegenzustellen. Aber ich genieße diesen Augenblick, gebettet im Schoß der sanften Stimme.

"Es tut mir wirklich leid, dass Du diese Bürde für mich tragen musst, Clive. Du bist ein guter Junge. Aber das Herz der Finsternis hat Dich berührt. Es hat ein wenig von seinem Gift in Dir hinterlassen. Und es hat Dich erkannt. Es wird Dir für den Rest Deines Lebens folgen. Bis es Dich verschlingen kann und mit Dir die Beute, die Du ihm in dieser Nacht genommen hast." Erneut streicht die Stimme zärtlich über meine Seele. "Aber das weißt Du ja schon lange! Du hast es alles bereits gesehen! ... Du solltest jetzt gar nicht hier sein. Du hättest nicht zurückkehren sollen. Viel zu viel Leid, das doch schon vor langer Zeit erduldet wurde! Es macht keinen Sinn, hierhin zurückzukehren."

Ich blicke in die Augen im Nichts. "Ich glaube, ich bin zurückgekehrt, weil es mich nun doch gefunden hat", flüstere ich. "Es wird mich nun verschlingen ... und Dich mit mir. Und die Contessa ... und Anderson auch, vermute ich. Ich habe ihnen den Tod gebracht. So wie ich auch Ruairí und Herbert und all den anderen den Tod gebracht habe." Ich sage dies voller Reue, aber dieses eine mal ausnahmsweise ganz ohne Traurigkeit. "Ich glaube, ich bin hier, damit wir alle gehen können. Den Kampf gegen das Herz der Finsternis habe ich jetzt verloren. Ich konnte ihn ohnehin nicht gewinnen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis meine Flucht enden würde. Aber", füge ich hämisch lächelnd hinzu, "Leopold ist tot. Er hat den Preis zuerst gezahlt!"

"Ich weiß es. Du vergisst, dass ich immer bei Dir war. Alles, was Du gesehen hast, habe auch ich gesehen. Alles, was Du getan hast, habe auch ich ein wenig mit getan.", belehrt mich die Stimme. Dann summt sie ein Lied und wiegt mich wieder. Fast ein wenig bedauernd fügt sie hinzu: "Ich würde Dich gerne weiter halten, bis die Sterne verlöschen und das ENDE VON ALLEM kommt. Aber noch ist es nicht so weit, Clive. Du bist noch nicht ganz am Ende Deines Weges angelangt. Ich wünschte, es wäre anders ..."

Da ist keine Traurigkeit in mir, die mir gestatten würde, die Enttäuschung und Müdigkeit mit Tränen fortzuspülen.

"Aber ich bin schon so weit gegangen! Ich bin alt und mein Körper ist schwach. Was soll ich denn noch tun? Was kann ich tun?"

"Du weißt doch, was Du als nächstes tun musst! Du hast es schließlich schon einmal getan. DU bist hierher zurückgekommen! Also bring es auch zum Ende!", tadelt mich die Stimme. "Mach jetzt die Augen auf. Du hast geruht. Jetzt musst Du weitergehen. Und ich werde Dich begleiten, wie ich es seit damals getan habe!"

"Ich kenne nicht einmal Deinen Namen!", rufe ich aus, als sich die Stimme in meiner Seele zu verlieren beginnt.

"Aber Clive!", lacht die Stimme. "Sei doch nicht dumm! Ich bin doch jetzt DU!"

Dann verstummt die Stimme endgültig. Ich horche in die Tiefen meiner Seele. Aber da ist nur das ferne Grollen einer Brandung, die frohlockend auf mich zurollt.

Mühsam öffne ich meine Augen. Ich blicke an mir herab. Auf meinem Körper sind unzählige Blutegel und Schnecken und andere namenlose Wesen, die von mir zehren.

Der Arzt in mir überlegt, wie viel Blut ich verloren haben mag. Die Stimme, war sie nur die Folge einer Unterversorgung meines Gehirns? Nein, dies alles ist nicht real. Ich bin auf Herm, nicht in den Wäldern des Kongo. Ich lebe im Jahr 1927, nicht am Ende des 19. Jahrhunderts. Dies hier ist bedrohlich, auf seine Weise 'wirklich' und vielleicht auch gefährlich, aber nicht auf einer materiellen Ebene real. Und darum habe ich auch kein Blut verloren, was auch immer es ist, was dieses Gewürm aus mir gesogen hat.

Ich beschließe zu handeln, bevor die Flut über mir zusammenschlägt. Mühsam erhebe ich mich aus dem Morast. Das Getier fällt in Trauben von mir. Meine Falcata liegt neben mir im blutigen Wasser.

Es tut gut, ihr vertrautes Gewicht in meiner Hand zu spüren und die blankgezogene Klinge leuchten zu sehen. Mit der scharfen Klinge der Falcata schabe ich die Tiere von meinem Körper.

Von der 'Force Publique' ist nichts mehr zu sehen und zu hören. Nur das Knistern des Feuers und das Zischen der Regentropfen, die in die Glut fallen.

Als ich meinen Körper gereinigt und meine Habseligkeiten eingesammelt habe, gehe ich zu der kleine Missionarskirche. Ich bin diesen Weg schon einmal gegangen, vor nunmehr fast dreißig Jahren.

Wie damals beginne ich in der Kirche mit den Händen und mit meinem Messer zu graben. Ich grabe so lange, bis ich IHN gefunden habe. IHN, dem ich in meinem eisernen Tabernakel ein neues Heim gegeben habe.


1 Anm: Hier vollzieht sich ein Wechsel von dem Rückblick (1900) in Clives Gegenwart (1927) im Zeitpunkt des Traumes. Die früheren Geschehnisse werden in dem Gespräch mit viel jüngeren Informationen (wie z.B. König Leopolds Tod) vermengt und Clive erhält Antworten von der Afrikanerin, nach denen er seit 1927 gesucht hatte. Im Traum schlägt er eine Brücke, wie an anderer Stelle bei dem Abschied von Ruairí. Clive hält diese "Brückenschläge" in der Folge nicht lediglich für Träume, sondern für tatsächliche Durchbrechungen von Raum und Zeit.
« Letzte Änderung: 4.07.2017 | 21:28 von Joran »

Joran

  • Gast
Re: Clives Reminiszenzen
« Antwort #5 am: 4.07.2017 | 21:02 »
Clives wachgerufene Erinnerung an den Kongo - Teil 3  Traumsequenz

30.05.1927 - Auslöser: Begegnung mit einem bösen, kleinen Jungen
Böcklin Haus (ein Haus für die sehr, sehr Nervösen ...)


Kongo-Freistaat, Privatbesitz von König Leopold II. von Belgien
In den Tiefen des Urwaldes
1900


Der Lehmboden bricht unter den Stößen meiner Messerklinge. Mit den Händen schaufele ich die Lehmbrocken aus der Grube, die sich langsam und stetig vergrößert.

Dann stößt die Klinge auf Holz. Der dumpfe Klag verrät einen Hohlkörper.

Vorsichtig beginne ich, das Objekt freizulegen. Über dem Holz befindet sich als Schutz ein Gewebe, dessen Material ich nicht kenne. Leise fluchte ich, weil ich kein besseres Grabungswerkzeug mit mir führe. Doch in der kleinen Kirche klingt meine Stimme in meinen Ohren unnatürlich laut und fremd. An diesem stillen Ort wird nie wieder gesungen werden. Hier regieren nur noch Tod und Verfall. Bald schon wird der Urwald das Land zurückerobern. Die Pflanzen werden alles in ihre Schatten tauchen und der Finsternis Obdach gewähren. Dann wird man von dem Dorf und dieser Kirche nichts mehr erkennen. Die Kautschukranken werden wachsen. Es werden neue Sklaven kommen, die für Leopold das Land bluten lassen.

Um nichts zu beschädigen, grabe ich nur vorsichtig weiter. Schließlich ertaste ich die Außenränder des rechteckigen Gegenstandes. Seitlich ist die Erde weicher und lässt sich leicht entfernen.

Als ich das Gewebe mit meinem Messer aufschneide, kommen Schnitzereien zum Vorschein. Ich bin meinem Ziel nun nahe.

Unter dem Tuch kommt eine schwere Truhe1 zum Vorschein.

Ich zögere einen Augenblick, wische mir den Schweiß von der Stirn und betrachte die Schnitzereien. Schmerzlich wird mir bewusst, dass ich die Truhe hier zurücklassen muss. Sie ist zu schwer, um sie aus der Grube zu heben und durch den Wald zu tragen. Alle die Mühe und Kunstfertigkeit, die auf die Fertigung der ausdrucksstarken Bilder verwandt wurde, wird umsonst gewesen sein. Die Insekten des Waldes werden das Holz zerfressen, die Finsternis wird bald in die Grube spülen und alles darin verschlingen. Die Blüten als Ausdruck der wilden Fruchtbarkeit dieses Landes werden vergehen. Die Abbilder der Frauen bei der Ernte auf dem Deckel der Truhe2 werden ihren toten Vorbildern nachfolgen.

„Warst Du eine von ihnen?“, frage ich in mich hinein, aber die Stimme bleibt stumm. Eine Weile betrachte ich nur die Frauen. Tränen rinnen meine Wangen herab; ich bin nicht mehr allein. Ich weiß, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt, bis die Traurigkeit mit eifersüchtigem Zorn zurückkehren und mich verschlingen wird.

Und doch finde ich hier inmitten von Tod, Verzweiflung und Verderben ein Gefäß der Fruchtbarkeit und des Lebens. Sprachlos und verwirrt blicke ich auf. Über mir hängt noch immer das Kreuz an der Wand. Und Christus blickt zu mir herab.

Er scheint mich direkt anzusehen, als wollte er sein Versprechen bekräftigen: Auf den Tod folgt das Leben!

Die Truhe wurde an genau dieser Stelle in seine wachsame Obhut gegeben.

"Ich werde Deinen Leib in diese Truhe betten“, verspreche ich in die Stille in mir.

Dann gebe ich mir einen Ruck und hebe ich den schweren Deckel der Truhe an.

In der Truhe befindet sich ein ausgehöhltes Stück eines Baumstamms. Darauf gebunden ist eine Skulptur. Erneut ein Zeichen der Fruchtbarkeit und des Lebens.

Ich hebe den Stamm und die Figurengruppe vorsichtig aus der Truhe. Etwas verbirgt sich in dem hohlen, zu einem Ende hin offenen Stamm. Ich greife hinein und ertaste hölzerne Füße. Während ich ziehe, während ER aus dem Holz des Stammes geboren wird, blicke ich auf die drei Frauen auf dem Stamm.

„Wer bist Du nur?“, frage ich ehrfürchtig in die Stille in mir. „Wie soll ich verstehen, was das hier bedeutet, wenn Du es mir nicht erklärst? Was soll ich tun? Ich brauche Deine Hilfe!“

Doch da ist nur eine Welle von Traurigkeit, die eifersüchtig durch meine Gedanken fegt.

Und so ziehe ich IHN ganz aus dem Stamm, vollende die Geburt. Und starre benommen auf seinen Körper.

ER trägt die Nägel Christi und die Pfeile des heiligen Sebastian. Ich habe ähnliche Figuren der Bakongo schon gesehen. Aber DIESE ist anders … stärker … ich spüre ihre Kraft, als ER in meiner Armbeuge liegt.

Ich rätsele, was sich in dem Mittelkasten verbirgt, der seinen Bauch bildet. Aber dieser Ort ist unerreichbar und es wäre Unrecht, ihn zu öffnen. Sein Geheimnis muss gewahrt bleiben.

Lange starre ich nur IHN an und verliere dabei mein Gefühl für die Zeit.

„DU hast DICH ihres Leids angenommen, nicht wahr?“, frage ich IHN schließlich. „Ich danke DIR dafür an ihrer statt.

DU kannst mehr Heilung und Trost schenken, habe ich recht?“

Ich werde von nun an für DICH sorgen. Ich werde DICH vor dem ‘Herz der Finsternis‘ bewahren. Es soll DICH nicht bekommen.“

Sorgfältig löse ich die Bänder, mit denen die drei Frauen auf den Stamm gebunden waren. Ich wickle IHN und die Figurengruppe in große Stücke des Gewebes, mit dem zuvor die Truhe geschützt worden war.

Dann trete ich vor die kleine Kirche und hebe den verunstalteten Leib der Frau vom aufgeweichten Boden. Traurig trage ich sie zurück in die Kirche. Ich bette sie in die Truhe und übergebe sie so der Obhut Christi.

Ich bette ihren Kopf auf mein zerrissenes Hemd.

Ein letztes Mal blicke ich in diese Augen, die nun gebrochen sind, bevor ich die Lieder darüber schließe. „Was hätte ich nur alles von Dir lernen können?“

Dies ist der Augenblick, in dem meine Gefährtin3 rücksichtslos von mir Besitz ergreift. Meine Augen füllen sich erneut mit Tränen.

„An rud a líonas an tsúil líonann sé an croí!“4, werfe ich trotzig meiner Gefährtin entgegen.

Dann verabschiede ich mich:

„Möge die Straße uns zusammenführen und der Wind in deinem Rücken sein;
sanft falle Regen auf deine Felder, und warm auf dein Gesicht der Sonnenschein.

Führe die Straße, die du gehst immer nur zu deinem Ziel bergab;
hab’, wenn es kühl, warme Gedanken und den Mond in dunkler Nacht.

Hab’ unterm Kopf ein weiches Kissen, habe Kleidung und das täglich Brot;
sei über vierzig Jahre im Himmel, bevor der Teufel merkt: Du bist schon tot.

Bis wir uns mal wiedersehen, hoffe ich, dass Gott dich nicht verlässt;
Er halte dich in seinen Händen, doch drücke seine Faust dich nie zu fest.

Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand,
halte er dich fest in seiner Hand.“

Mir bleibt nicht viel Zeit. Ich schließe die Truhe … den Sarg, der Leben verspricht, und fülle die Grube mit dem Lehm.

Ich trage Wasser herbei und stampfe den Boden fest, bevor ich die zwei Bündel an mich nehme und die Kirche im Urwald für immer verlasse.


1 Bild 1 siehe nachfolgend angehängte Datei
2 Bild 2 siehe nachfolgend angehängte Datei
3 gemeint ist die eifersüchtige "Undine", im ewig rauschenden Meer
4 "An rud a líonas an tsúil líonann sé an croí" = "What fills the eye, fills the heart"


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